Johannes Rau, Rheinwein und „Schnüss“. Der sowjetische Schriftsteller Julian Semënov (1931-1993) über Nordrhein-Westfalen

Alexander Friedman (Düsseldorf)

Julian Semënov. (Archiv der Kulturstiftung von Julian Semenov / CC-BY-SA 3.0)

1. Einleitung

Am 2.7.1984 ver­öf­fent­lich­te die Ham­bur­ger Zeit­schrift Der Spie­gel ei­ne um­fang­rei­che Re­por­ta­ge über das so­wje­ti­sche Ko­mi­tee für Staats­si­cher­heit (KGB). Dar­in schil­der­te man die Ge­schich­te und Tä­tig­keit der so­wje­ti­schen Staats­si­cher­heit und be­ton­te, dass die­ser Ge­heim­dienst seit Jah­ren be­müht sei, sei­nen Ruf auf­zu­po­lie­ren und die Sym­pa­thie der so­wje­ti­schen Be­völ­ke­rung zu ge­win­nen. Um die­se Zie­le zu er­rei­chen, ver­wen­de der KGB di­ver­se raf­fi­nier­te Pro­pa­gan­da­me­tho­den und set­ze da­bei un­ter an­de­rem auf den Schrift­stel­ler Ju­li­an S. Se­më­nov, der „die po­pu­lärs­ten Bü­cher der So­wjet-Uni­on“ schrei­be und die Staats­si­cher­heit und Mi­liz (Po­li­zei) in „sei­nen Tri­vi­al­wer­ken“ ver­herr­li­che. In sei­nen Kri­mi­nal­ro­ma­nen stel­le die­ser „keu­sche Idea­lis­t“ sei­ne KGB-Prot­ago­nis­ten als „edel­mü­ti­ge und vor­neh­me Her­ren“ dar, die „dem Le­ser als Vor­bil­d“ an­emp­foh­len sei­en. Den Schrift­stel­ler Se­më­nov den deut­schen Le­sern vor­stel­lend, wies man au­ßer­dem auf die Tat­sa­che hin, dass der so­wje­ti­sche Au­tor En­de der 1970er und An­fang der 1980er Jah­re in der Nä­he von Bonn ge­lebt und das west­eu­ro­päi­sche Bü­ro der re­nom­mier­ten so­wje­ti­schen Kul­tur­zei­tung Li­te­ra­tur­na­ja ga­ze­ta („Li­te­ra­tur­zei­tun­g“) auf­ge­baut ha­be.[1]

Wäh­rend sei­ner Zeit in der BRD las Se­më­nov sys­te­ma­tisch den Spie­gel, zi­tier­te ihn ab und zu in sei­nen Pu­bli­ka­tio­nen und hielt das Ham­bur­ger Ma­ga­zin für ei­ne le­sens­wer­te Zeit­schrift mit dem „An­spruch auf Ob­jek­ti­vi­tät“[2], de­ren Be­richt­er­stat­tung über die UdSSR al­ler­dings eher ent­täu­schend und ober­fläch­lich sei[3]. Es ist da­her nicht aus­ge­schlos­sen, dass Ju­li­an Se­më­nov die er­wähn­te Spie­gel-Re­por­ta­ge aus dem Jahr 1984 zur Kennt­nis ge­nom­men und sich – stolz auf sein ver­trau­ens­vol­les Ver­hält­nis zum so­wje­ti­schen Ge­heim­dienst – über die ihm zu­ge­wie­se­ne wich­ti­ge pro­pa­gan­dis­ti­sche Rol­le ge­freut hat.

In die­sem Bei­trag wird zu­nächst Ju­li­an Se­më­novs Le­bens­weg und sei­ne li­te­ra­ri­sche Kar­rie­re in der UdSSR zu­sam­men­fas­send skiz­ziert. Im zwei­ten Teil ste­hen sein Le­ben in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land und sei­ne Pu­bli­ka­tio­nen in der Li­te­ra­tur­na­ja ga­ze­ta im Mit­tel­punkt. Es wird da­bei ins­be­son­de­re auf die von Se­më­nov in sei­nem Ta­ge­buch und in sei­ner Pu­bli­zis­tik ver­mit­tel­ten Nord­rhein-West­fa­len-Bil­der ein­ge­gan­gen.

2. Julian Semënov: Orientalist, Historiker, Schriftsteller und Journalist

Ju­li­an Se­më­nov kam als Ju­li­an Ljand­res am 8.10.1931 in Mos­kau in ei­ner jü­disch-rus­si­schen Fa­mi­lie auf die Welt: Sei­ne Mut­ter Ga­li­na N. Noz­d­ri­na war Ge­schichts­leh­re­rin und Schul­di­rek­to­rin, wäh­rend sein Va­ter Se­mën A. Ljand­res (1907-1968) ein be­kann­ter so­wje­ti­scher Jour­na­list war und in der zwei­ten Hälf­te der 1930er und An­fang der 1940er Jah­re als stell­ver­tre­ten­der Chef­re­dak­teur der Mos­kau­er Zei­tung I zves­ti­ja („Nach­rich­ten“) fun­gier­te. 1952 – in der End­pha­se der sta­li­nis­ti­schen Ge­walt­herr­schaft – wur­de Se­mën Ljand­res fest­ge­nom­men und zu acht Jah­ren La­ger­haft ver­ur­teilt. Sein Sohn Ju­li­an, der 1948 das Stu­di­um an der Ab­tei­lung Af­gha­nis­tan des an­ge­se­he­nen Mos­kau­er In­sti­tuts für Ori­ent­kun­de auf­ge­nom­men hat­te, wur­de der Hoch­schu­le ver­wie­sen, nach­dem er sich ge­wei­gert hat­te, sei­nen Va­ter öf­fent­lich zu ver­leug­nen. In den nächs­ten Jah­ren kämpf­te Ju­li­an Ljand­res für die Frei­las­sung sei­nes Va­ters, der erst 1954 nach dem To­de Sta­lins aus dem Gu­lag ent­las­sen wur­de. In die­ser Zeit konn­te der spä­te­re Schrift­stel­ler sein Stu­di­um ab­schlie­ßen. 1955 hei­ra­te­te er die Stief­toch­ter des Ver­fas­sers der so­wje­ti­schen und spä­te­ren rus­si­schen Na­tio­nal­hym­ne, des Schrift­stel­lers Ser­gej V. Mi­ch­al­kov (1913-2009), Eka­te­ri­na Mi­ch­al­ko­va (ge­bo­ren 1931). Aus die­ser Ehe gin­gen die Töch­ter Dar'ja (ge­bo­ren 1958) und Ol’ga (ge­bo­ren 1967) her­vor. 

In der zwei­ten Hälf­te der 1950er Jah­re lehr­te Jui­lan Ljand­res Pasch­tu­nisch an der Mos­kau­er Staats­uni­ver­si­tät und stu­dier­te dort gleich­zei­tig Ge­schich­te. Ei­ne aka­de­mi­sche Lauf­bahn reiz­te Ju­li­an Ljand­res je­doch nicht. Von sei­nem Va­ter und sei­ner jour­na­lis­ti­schen Tä­tig­keit stark ge­prägt, ent­schied sich Ljand­res Mit­te der 1950er Jah­re für ei­ne jour­na­lis­ti­sche und spä­ter ei­ne li­te­ra­ri­sche Kar­rie­re. Sei­ne Bei­trä­ge er­schie­nen in den Zei­tun­gen Prav­da („Wahr­heit“), Kom­somol'ska­ja prav­da („Kom­somol-Wahr­heit“), Li­te­ra­tur­na­ja ga­ze­ta („Li­te­ra­tur­zei­tun­g“) und in den Zeit­schrif­ten Mo­skva („Mos­kau“), Sme­na („Schich­t“) und Ogonëk („Flämm­chen“). An­ge­sichts zu­neh­men­der an­ti­se­mi­ti­scher Ten­den­zen in der So­wjet­uni­on wur­de dem Au­tor in den spä­ten 1950er Jah­ren na­he­ge­legt, auf ei­nen „miss­tö­nen­d“ an­mu­ten­den Fa­mi­li­en­na­men Ljand­res zu ver­zich­ten und sich ein „pas­sen­des“, das hei­ßt rus­sisch klin­gen­des Pseud­onym aus­zu­su­chen. So wur­de aus Ju­li­an Ljand­res Ju­li­an Se­më­nov, der als Kor­re­spon­dent die So­wjet­uni­on be­reis­te und auch aus dem Aus­land be­rich­ten durf­te. Im Aus­land sam­mel­te Se­më­nov das Ma­te­ri­al für sei­ne „po­li­ti­schen Kri­mi­nal­ro­ma­ne“, die in den 1960er Jah­ren er­schie­nen und ih­ren Au­tor in der gan­zen So­wjet­uni­on be­rühmt mach­ten.

In sei­nen Wer­ken be­fass­te sich Se­më­nov in ers­ter Li­nie mit der Eta­blie­rung der bol­sche­wis­ti­schen Herr­schaft im Fer­nen Os­ten, mit dem Zwei­ten Welt­krieg, mit na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ver­bre­chern so­wie mit Ge­heim­diens­ten und ih­rer Tä­tig­keit. 1969 ver­fass­te er den Ro­man „Sieb­zehn Au­gen­bli­cke des Früh­lings“, in dem er die Ge­schich­te des so­wje­ti­schen Agen­ten Mak­sim M. Isaev er­zähl­te, der als SS-Stan­dar­ten­füh­rer Max-Ot­to von Stier­litz im Reichs­si­cher­heits­haupt­amt (RSHA) ar­bei­tet und – ei­nen Be­fehl aus Mos­kau er­fül­lend – die se­pa­ra­ten Frie­dens­ver­hand­lun­gen zwi­schen dem Reichs­füh­rer SS Hein­rich Himm­ler (1900-1945) und den Ame­ri­ka­nern im Früh­jahr 1945 er­folg­reich ver­hin­dert. Das im Auf­trag des KGB ge­schrie­be­ne Werk wur­de 1973 ver­filmt (Dreh­buch: Ju­li­an Se­më­nov, Re­gis­seu­rin: Tat'ja­na M. Lioz­no­va), er­lang­te in der So­wjet­uni­on Kult­sta­tus und blieb auch im post­so­wje­ti­schen Raum sehr be­liebt. Stier­litz ge­hör­te zu den wich­tigs­ten Prot­ago­nis­ten der so­wje­ti­schen Witz­kul­tur.[4] 

Ju­li­an Se­më­nov pfleg­te sehr gu­te Ver­bin­dun­gen zu hoch­ran­gi­gen KGB-Of­fi­zie­ren und zum KGB-Chef Ju­rij V. An­dro­pov (1914-1984), die sein li­te­ra­ri­sches Ta­lent hoch­schätz­ten. Der Schrift­stel­ler ge­noss ei­ne Aus­nah­me­po­si­ti­on, von de­nen sei­ne Kol­le­gen nur träu­men konn­ten: Er durf­te streng ge­hei­me Mi­liz- und KGB-Ak­ten aus­wer­ten, ver­brach­te viel Zeit im Aus­land und re­cher­chier­te in ost- und west­eu­ro­päi­schen so­wie ame­ri­ka­ni­schen Ar­chi­ven[5]. In sei­nen Wer­ken pro­fi­lier­te sich Se­më­nov als aus­ge­wie­se­ner Ken­ner der Ge­heim­diens­te und des Le­bens im ka­pi­ta­lis­ti­schen Aus­land. Sei­ne er­folg­rei­chen Ro­ma­ne, de­ren Hand­lung oft im Aus­land spiel­te, und de­ren zum Teil au­ßer­halb der UdSSR (in der Re­gel nach Se­më­novs Dreh­bü­chern) ge­dreh­ten Ver­fil­mun­gen lie­ßen die hin­ter dem „ei­ser­nen Vor­han­g“ ein­ge­sperr­ten So­wjet­bür­ger und So­wjet­bür­ge­rin­nen in ei­ne ge­heim­nis­vol­le „ka­pi­ta­lis­ti­sche Welt“ ein­tau­chen und tru­gen ma­ß­geb­lich zur Ent­wick­lung ih­rer Fremd­bil­der bei.

In sei­nen Ro­ma­nen aus den 1960er und 1970er Jah­ren räum­te Ju­li­an Se­më­nov der BRD und West-Ber­lin be­son­de­re Auf­merk­sam­keit ein. Sei­ne Dar­stel­lung West­deutsch­lands war von der am­bi­va­len­ten of­fi­zi­el­len so­wje­ti­schen Pro­pa­gan­da ent­schei­dend be­ein­flusst. Letz­te­re ver­ur­teil­te ei­ner­seits die man­gel­haf­te Auf­ar­bei­tung der na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Dik­ta­tur in der Bun­des­re­pu­blik, griff die der So­wjet­uni­on ge­gen­über be­son­ders kri­ti­sche CDU/CSU an und be­haup­te­te ei­ne füh­ren­de Rol­le ehe­ma­li­ger Na­tio­nal­so­zia­lis­ten im west­deut­schen Staat der 1950er und 1960er Jah­re, setz­te sich je­doch an­der­seits für die Ent­span­nung in Eu­ro­pa ein und be­für­wor­te­te ei­ne in­ten­si­ve wirt­schaft­li­che und kul­tu­rel­le Zu­sam­men­ar­beit zwi­schen der UdSSR und der BRD[6] . West­deutsch­land galt als der wich­tigs­te Staat West­eu­ro­pas, des­sen in­ter­na­tio­na­le Be­deu­tung kon­ti­nu­ier­lich zu­nahm. An­ge­sichts die­ser Be­son­der­hei­ten er­scheint es nicht über­ra­schend, dass die so­wje­ti­sche Kul­tur­zei­tung Li­te­ra­tur­na­ja ga­ze­ta En­de der 1970er Jah­re die Er­öff­nung ih­res west­eu­ro­päi­schen Bü­ros in Bonn be­schloss und den in der UdSSR be­kann­ten und im Aus­land gut ver­netz­ten Schrift­stel­ler mit der Lei­tung ih­rer Ver­tre­tung be­trau­te. Der deut­schen Spra­che mäch­tig und mit der BRD ver­traut war Se­më­nov für die­se Auf­ga­be bes­tens ge­eig­net. Im Hin­blick auf die Ver­schär­fung des Ost-West-Kon­flikts in der zwei­ten Hälf­te der 1970er Jah­re und auf die be­vor­ste­hen­de weg­wei­sen­de Bun­des­tags­wahl im Ok­to­ber 1980 schien der KGB eben­so an ei­nem wei­te­ren qua­li­fi­zier­ten Ver­trau­ten in Bonn in­ter­es­siert ge­we­sen zu sein.

3. Büroleiter in Bonn

Am 21.3.1979 mel­de­te die Li­te­ra­tur­na­ja ga­ze­ta die Er­öff­nung ih­res Bü­ros in Bonn und be­rich­te­te über ei­nen Emp­fang in der Bun­des­haupt­stadt, bei dem der so­wje­ti­sche Bot­schaf­ter Vla­di­mir S. Se­më­nov (1911-1992) ein Gruß­wort ge­hal­ten, wäh­rend der Chef­re­dak­teur der Mos­kau­er Zei­tung Aleksan­dr B. Ča­kovs­kij (1913-1994) den Bü­ro­lei­ter Ju­li­an Se­më­nov vor­ge­stellt ha­be.[7]

In ih­ren Er­in­ne­run­gen schil­dert die Toch­ter des Schrift­stel­lers, Ol'ga Ju. Se­më­no­va, den All­tag ih­res Va­ters in der Bun­des­re­pu­blik: Se­më­nov ha­be sich in ei­nem klei­nen Haus mit Gar­ten im Dorf Lie­ßem (Ge­mein­de Wacht­berg) in der Nä­he von Bonn nie­der­ge­las­sen. Er ha­be ei­ne deut­sche Putz­frau ein­ge­stellt, die für die Ord­nung im Haus ge­sorgt ha­be. Ein­mal die Wo­che ha­be Se­më­nov in ei­nem Su­per­markt sei­ne Le­bens­mit­tel ein­ge­kauft und selbst ge­kocht.[8] 

Ähn­lich wie in Mos­kau führ­te Ju­li­an Se­më­nov in West­deutsch­land ein wohl­ha­ben­des bür­ger­li­ches Le­ben, das man in der Bun­des­re­pu­blik von ei­nem KGB-na­hen Schrift­stel­ler aus der so­zia­lis­ti­schen So­wjet­uni­on nicht un­be­dingt er­war­te­te: Zum Er­stau­nen sei­ner deut­schen Gäs­te gab es in sei­nem Haus im­mer Ka­vi­ar. Abends konn­te man in Lie­ßem ei­nen ex­tra­va­gan­ten im­po­san­ten Herrn mitt­le­ren Al­ters mit ei­nem schwar­zen Bart – Tri­but an den von Se­më­nov zu­tiefst ver­ehr­ten ame­ri­ka­ni­schen Schrift­stel­ler Ernst He­ming­way (1899-1961) – be­ob­ach­ten, der al­lein oder mit sei­ner Toch­ter jogg­te oder spa­zier­te. Der Le­be­mann aus der So­wjet­uni­on wuss­te so­wohl deut­sches Bier als auch Wein aus dem Rhein­land zu schät­zen: In sei­nem Ta­ge­buch er­wähnt der Schrift­stel­ler sei­ne Knei­pen-Be­su­che in Bonn.[9] Sei­ne Toch­ter Ol­ga er­in­nert sich, dass Se­më­nov klei­ne Dör­fer am Rhein­ufer gern be­sucht und sich von der Qua­li­tät des Weins in dor­ti­gen Wein­kel­lern ha­be über­zeu­gen las­sen. Von Lie­ßem aus er­kun­de­te Ju­li­an Se­më­nov das Rhein­land, die Bun­des­re­pu­blik und West­eu­ro­pa. Sei­ne Gäs­te schwär­men in ih­ren Er­in­ne­run­gen über die Füh­run­gen, wel­che Se­më­nov für sie in Bonn und in der Um­ge­bung der Bun­des­haupt­stadt höchst­per­sön­lich ver­an­stal­te­te. Mit sei­ner Mut­ter fuhr er zum Bei­spiel nach Trier, denn die über­zeug­te Kom­mu­nis­tin woll­te un­be­dingt das Ge­burts­haus des gro­ßen kom­mu­nis­ti­schen Den­ker­s Karl Marx se­hen.[10] 

Ju­li­an Se­më­nov war ein pas­sio­nier­ter Au­to­fah­rer, der das Stra­ßen­ver­kehrs­recht beim Par­ken in Bonn grob ver­letz­te und stolz war, da­für nicht be­straft zu wer­den. In sei­nem Ta­ge­buch wun­der­te er sich, dass ei­ne Schein­wer­fer-Re­pa­ra­tur für vie­le Bon­ner Kfz-Me­cha­ni­ker ei­ne un­lös­ba­re Auf­ga­be ge­we­sen sei. In der Bun­des­haupt­stadt fand der so­wje­ti­sche Au­tor au­ßer­dem das Stadt­ma­ga­zin mit dem rhei­ni­schen Na­men „Schnüs­s“ amü­sant und hat­te un­be­dingt vor, die „klei­nen stu­den­ti­schen Ki­no­s“ Rex und Wo­ki zu be­su­chen, in de­nen gu­te Fil­me ge­zeigt wür­den. Als Kunst­lieb­ha­ber und Kor­re­spon­dent der Li­te­ra­tur­na­ja ga­ze­ta war Se­më­nov be­strebt, die wich­tigs­ten Kul­tur­ver­an­stal­tun­gen in Nord­rhein-West­fa­len nicht zu ver­pas­sen: So wür­dig­te er das „wun­der­ba­re Bal­let­t“ des Tanz­thea­ters in Wup­per­tal und das Schau­spiel­thea­ter in Bo­chum. In der Lan­des­haupt­stadt Düs­sel­dorf be­such­te er Aus­stel­lun­gen und Thea­ter­auf­füh­run­gen. Die Lan­des­haupt­stadt an sich ge­fiel ihm hin­ge­gen nicht be­son­ders: An ei­nem Sams­tag im Früh­ling 1980 er­leb­te er ei­ne „lee­re lang­wei­li­ge Stadt“, de­ren Ein­woh­ner vor dem Fern­se­her zu­hau­se sit­zen und dort Tee oder Wein trin­ken wür­den.[11]

Im Mai 1980 ver­folg­te der so­wje­ti­sche Schrift­stel­ler auf­merk­sam die Wahl zum Land­tag von Nord­rhein-West­fa­len. Sei­ne Sym­pa­thie war auf der Sei­te des am­tie­ren­den so­zi­al­de­mo­kra­ti­schen Mi­nis­ter­prä­si­den­ten Jo­han­nes Rau, dem Se­më­nov sei­nen Ein­satz für die Ver­tie­fung der Zu­sam­men­ar­beit zwi­schen der BRD und UdSSR zu Gu­te hielt. Ju­li­an Se­më­nov zeig­te of­fen sei­ne gro­ße Ab­nei­gung ge­gen die CDU/CSU. Raus christ­lich-de­mo­kra­ti­scher „in­tel­li­gen­ter“ und „zu­rück­hal­ten­der“ Geg­ner Kurt Bie­den­kopf (ge­bo­ren 1930) mach­te auf den Kor­re­spon­den­ten der Li­te­ra­tur­na­ja ga­ze­ta al­ler­dings ei­nen eher po­si­ti­ven Ein­druck, wo­bei Bie­den­kopf für ihn – im Ver­gleich zum baye­ri­schen Mi­nis­ter­prä­si­den­ten Franz Jo­sef Strauß (1915-1988) – ei­ne „bes­se­re“ Sei­te der CDU/CSU ver­kör­per­te.[12]

Ab­schlie­ßend lässt sich fest­stel­len, dass so­wohl das Ta­ge­buch des Schrift­stel­lers als auch die Er­in­ne­run­gen sei­ner Toch­ter zei­gen, dass Ju­li­an Se­më­nov sei­ne Deutsch­kennt­nis­se ver­bes­ser­te, sich im Rhein­land schnell ein­ge­lebt hat­te und sich dort wohl fühl­te. In der BRD wuss­te er die ge­ord­ne­te deut­sche Ar­beits­wei­se und die „ei­ser­ne Dis­zi­plin“ zu schät­zen. Gleich­zei­tig miss­fiel ihm die Do­mi­nanz der ame­ri­ka­ni­schen Mas­sen­kul­tur in der Bun­des­re­pu­blik.[13] 

4. Publikationen in der Literaturnaja gazeta

Die Li­te­ra­tur­na­ja ga­ze­ta, die Se­më­nov in West­eu­ro­pa ver­trat, hat­te ei­ne be­son­de­re Stel­lung in­ner­halb der so­wje­ti­schen Pres­se­land­schaft. Die noch 1830 von Aleksan­dr S. Puškin (1799-1837) ge­grün­de­te und ab 1929 in der UdSSR er­schie­ne­ne Zei­tung er­leb­te in den 1960er, 1970er und 1980er Jah­ren ei­ne be­mer­kens­wer­te Etap­pe ih­rer Ge­schich­te. Der neue Chef­re­dak­teur, Schrift­stel­ler Aleksan­dr B. Ča­kovs­kij (von 1962 bis 1988) ver­än­der­te das For­mat der Wo­chen­zei­tung. Die Zei­tung – die ers­te so­ge­nann­te „di­cke Zei­tun­g“ in der UdSSR – hat­te nun­mehr 16 Sei­ten und be­fass­te sich nicht nur mit li­te­ra­ri­schen und kul­tu­rel­len, son­dern ver­stärkt auch mit ak­tu­el­len ge­sell­schafts­po­li­ti­schen The­men. Die Li­te­ra­tur­na­ja ga­ze­ta rich­te­te sich vor al­lem an das in­tel­lek­tu­el­le und zu­dem nicht sel­ten re­gime­kri­ti­sche Pu­bli­kum. Die­se Tat­sa­che be­ein­fluss­te den Cha­rak­ter ih­rer Be­richt­er­stat­tung, wo­bei die Li­te­ra­tur­na­ja ga­ze­ta sich als ei­ne der „li­be­rals­ten“ und „frei­en“ so­wje­ti­schen Zei­tun­gen pro­fi­lier­te und die of­fi­zi­el­le Pro­pa­gan­da eher sub­til ver­brei­te­te. Die ge­wähl­te Stra­te­gie brach­te dem Blatt gro­ßen Er­folg. Sei­ne Auf­la­ge wuchs un­ter Ča­kovs­kij kon­ti­nu­ier­lich und hat sich zwi­schen 1962 und 1982 ver­zehn­facht: von 300.000 auf 3.000.000 Ex­em­pla­re.[14] Ei­nen Bei­trag zu die­ser Ent­wick­lung leis­te­te auch Ju­li­an Se­më­nov, den die Zei­tung in der zwei­ten Hälf­te der 1950er Jah­re für die Zu­sam­men­ar­beit ge­wann.

En­de der 1970er Jah­re ge­hör­te Se­më­nov zu den be­kann­tes­ten Au­to­ren der Li­te­ra­tur­na­ja ga­ze­ta. In sei­nen Bei­trä­gen aus der BRD schil­der­te er die Tä­tig­keit von Kom­mu­nis­ten in Deutsch­land[15], be­rich­te­te über das Le­ben Le­nins in Eu­ro­pa[16] und kon­zen­trier­te sich auf die Auf­ar­bei­tung der na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ge­walt­herr­schaft in West­deutsch­land. Er mach­te sei­ne Le­ser da­bei auf zahl­rei­che na­tio­nal­so­zia­lis­ti­sche Ver­bre­cher auf­merk­sam, die für ih­re Un­ta­ten nicht be­straft wür­den und sich ei­ne neue Exis­tenz in West­deutsch­land, West­eu­ro­pa oder La­tein­ame­ri­ka auf­ge­baut hät­ten. Ju­li­an Se­më­nov pro­tes­tier­te ge­gen die Ver­klä­rung der Wehr­macht und die Ba­na­li­sie­rung der NS-Ver­bre­chen in der Bun­des­re­pu­blik[17], wies die Dis­kus­sio­nen über den Hit­ler-Sta­lin-Pakt und die „an­geb­li­chen so­wje­ti­schen (pol­ni­schen, tsche­cho­slo­wa­ki­schen) Ver­bre­chen“ ge­gen die deut­sche Zi­vil­be­völ­ke­rung ent­schlos­sen zu­rück[18] und be­ob­ach­te­te be­sorgt die Ent­wick­lung des Rechts­ra­di­ka­lis­mus und Neo­fa­schis­mus in der BRD.[19] Von Lie­ßem aus such­te er nach dem seit 1945 ver­schol­le­nen Bern­stein­zim­mer und an­de­ren von den Na­tio­nal­so­zia­lis­ten in der So­wjet­uni­on und in Ost­eu­ro­pa ge­raub­ten Kunst­schät­zen.[20] 

An­fang De­zem­ber 1979 zeich­ne­te der Schrift­stel­ler ein ab­schre­cken­des Bild des Dro­gen­kon­sums und der Kin­der­pro­sti­tu­ti­on in West-Ber­lin und West­deutsch­land.[21] Ei­ni­ge Mo­na­te spä­ter ver­ur­teil­te er die „il­le­ga­len Uran-Ge­schäf­te“ zwi­schen West­deutsch­land, Bel­gi­en und Is­ra­el.[22] In ei­ner En­de März 1979 ver­öf­fent­lich­ten Re­por­ta­ge brand­mark­te Se­më­nov den in Mün­chen an­ge­sie­del­ten und an die so­wje­ti­sche Be­völ­ke­rung adres­sier­ten ame­ri­ka­ni­schen Sen­der Ra­dio Free Eu­ro­pe / Ra­dio Li­ber­ty, bei dem so­wje­ti­sche Emi­gran­ten ein­ge­stellt wür­den und der en­ge Ver­bin­dun­gen mit dem CIA pfle­ge.[23]  An­sons­ten ging Ju­li­an Se­më­nov auf die in die BRD aus­ge­wan­der­ten so­wje­ti­schen Dis­si­den­ten in sei­nen Pu­bli­ka­tio­nen nicht ein. Der wohl be­rühm­tes­te so­wje­ti­sche Dis­si­dent in West­deutsch­land, Li­te­ra­tur­kri­ti­ker Lev Z. Ko­pe­lev (1912-1997), der ab 1980 in Köln leb­te und an der Ber­gi­schen Uni­ver­si­tät Wup­per­tal lehr­te, taucht im Ta­ge­buch des Schrift­stel­lers nur an ei­ner Stel­le auf und wird kri­tisch be­ur­teilt.[24] 

Un­mit­tel­bar vor und nach dem Na­to-Dop­pel­be­schluss (1979) hob die so­wje­ti­sche Pro­pa­gan­da die Frie­dens­stim­mung in West­eu­ro­pa her­vor und be­ton­te, dass die West­eu­ro­pä­er die Sta­tio­nie­rung ame­ri­ka­ni­scher Ra­ke­ten in West­eu­ro­pa ab­leh­nen und die Ent­wick­lung der wirt­schaft­li­chen und kul­tu­rel­len Be­zie­hun­gen mit dem Ost­block un­ter­stüt­zen wür­den. Ju­li­an Se­më­nov griff die­se Leit­the­se in sei­nen Pu­bli­ka­tio­nen auf und ver­deut­li­che sie un­ter an­de­rem an Bei­spie­len aus Nord­rhein-West­fa­len.[25] Der Mi­nis­ter­prä­si­dent Jo­han­nes Rau und sei­ne SPD-Kol­le­gen - et­wa der Düs­sel­dor­fer Ober­bür­ger­meis­ter Klaus Bun­gert (1926-2006, Ober­bür­ger­meis­ter 1974-1979 und 1984-1994) - so­wie Kul­tur­in­sti­tu­tio­nen des Bun­des­lan­des Nord­rhein-West­fa­len wur­den als trei­ben­de Kräf­te der kul­tu­rel­len und wirt­schaft­li­chen Zu­sam­men­ar­beit zwi­schen der UdSSR und BRD dar­ge­stellt. So be­rich­te­te Se­më­nov im Ju­ni 1979 über die Gast­spie­le so­wje­ti­scher Thea­ter im Nord­rhein-West­fa­len und lob­te aus­drück­lich das Düs­sel­dor­fer Hein­rich-Hei­ne-In­sti­tut, das Kon­tak­te mit der UdSSR för­de­re, „in­ter­es­san­te Le­sun­gen“ in Ko­ope­ra­ti­on mit so­wje­ti­schen Part­nern (Li­te­ra­tur­mu­se­um in Mos­kau) ver­an­stal­te und un­ter an­de­rem ei­ne Čechov-Aus­stel­lung in der Lan­des­haupt­stadt or­ga­ni­siert ha­be.[26] 

Tat­säch­lich be­ka­men die Kunst­freun­de in Düs­sel­dorf En­de der 1970er und An­fang der 1980er zahl­rei­che Ge­le­gen­hei­ten, sich mit der rus­si­schen be­zie­hungs­wei­se so­wje­ti­schen Kunst ver­traut zu ma­chen. Am 14.5.1980 in­for­mier­te Ju­li­an Se­më­nov die Le­ser der Li­te­ra­tur­na­ja ga­ze­ta über die Gast­spie­le des Mos­kau­er Schau­spiel­hau­ses an der Ma­la­ja Bron­na­ja in Frank­furt, Bonn, Müns­ter, Duis­burg und Düs­sel­dorf. Er be­ton­te, dass die Mos­kau­er Trup­pe ih­ren Auf­tritt in Düs­sel­dorf vor al­lem dem Ge­ne­ral­in­ten­dan­ten des Düs­sel­dor­fer Schau­spiel­hau­ses („ei­nes der grö­ß­ten Thea­ters in der BRD“) Gün­ther Bee­litz (ge­bo­ren 1938, In­ten­dant in Düs­sel­dorf 1986-1994, er­neut seit 2014) zu ver­dan­ken ha­be, der be­reits frü­her die Gast­spie­le des Staat­li­chen Aka­de­mi­schen Ma­ly-Thea­ters und des Čechov-Kunst­thea­ters Mos­kau in der Lan­des­haupt­stadt or­ga­ni­siert ha­be. Be­fremd­lich fand Se­më­nov al­ler­dings die Tat­sa­che, dass zahl­rei­che west­deut­sche Me­di­en die hoch­ka­rä­ti­gen Gast­spie­le des Schau­spiel­hau­ses an der Ma­la­ja Bron­na­ja igno­riert hät­ten.[27] 

Im Mai 1980 fand in Duis­burg das tra­di­tio­nel­le Kul­tur­fes­ti­val Duis­bur­ger Ak­zen­te statt. In je­nem Jahr setz­te sich die­ses wich­ti­ge Kul­tur­fo­rum des Bun­des­lan­des Nord­rhein-West­fa­len mit dem The­ma „Russ­lands gro­ße Rea­lis­ten: Dich­ter, Ma­ler und Mu­si­ker des 19. Jahr­hun­derts“ aus­ein­an­der und be­stä­tig­te da­durch den von der SPD-Lan­des­re­gie­rung ein­ge­schla­ge­nen Kurs hin zur In­ten­si­vie­rung des kul­tu­rel­len Aus­tau­sches mit der So­wjet­uni­on. Mi­nis­ter­prä­si­dent Rau fand selbst in der End­pha­se des Wahl­kampfs am 4. Mai Zeit, um die Aus­stel­lung „Rus­si­sche Wan­der­ma­ler: die rus­si­schen Rea­lis­ten der zwei­ten Hälf­te des 19. Jahr­hun­derts“ im Wil­helm-Lehm­bruck-Mu­se­um in Duis­burg per­sön­lich zu er­öff­nen. Un­ter den Gäs­ten, wel­che die An­spra­che des Mi­nis­ter­prä­si­den­ten hör­ten, be­fand sich auch Ju­li­an Se­më­nov, der in der Li­te­ra­tur­na­ja ga­ze­ta über die „rus­si­schen“ Duis­bur­ger Ak­zen­te aus­führ­lich be­rich­te­te, die Schirm­herr­schaft der Lan­des­re­gie­rung über die­se Ver­an­stal­tung her­vor­hob und die Stadt Duis­burg den so­wje­ti­schen Le­sern kurz vor­stell­te.[28]

Der so­wje­ti­sche Kor­re­spon­dent nahm Duis­burg als „Hoch­bur­g“ des Ruhr­ge­biets wahr.[29] Dort­mund war für ihn ei­ne „Stadt ... mit Ar­bei­ter­tra­di­tio­nen“, in der die Freund­schafts­ge­sell­schaft „UdSSR-BRD“ re­gel­mä­ßig Ver­an­stal­tun­gen ab­hal­te. Ju­li­an Se­më­nov ging auf die­se Stadt des Ruhr­ge­bie­tes im Zu­sam­men­hang mit dem of­fi­zi­el­len BRD-Be­such ei­ner so­wje­ti­schen De­le­ga­ti­on un­ter Lei­tung des Chefs der Ab­tei­lung In­ter­na­tio­na­le In­for­ma­ti­on des ZK der KPdSU Leo­nid M. Zamja­tin (ge­bo­ren 1922) ein. Die So­wjets, die an­läss­lich des zehn­ten Jah­res­ta­ges des Mos­kau­er Ver­tra­ges zwi­schen der BRD und UdSSR En­de Au­gust 1980 nach Dort­mund ge­kom­men sei­en, sei­en im Ruhr­ge­biet herz­lich emp­fan­gen wor­den. Le­dig­lich ein­zel­nen „CDU-Jüng­lin­ge“ – Mit­glie­der der Jun­gen Uni­on – hät­ten „an­ti­so­wje­ti­sche Pro­vo­ka­tio­nen“ or­ga­ni­siert, in­dem sie den Gäs­ten aus Mos­kau un­an­ge­neh­me Fra­gen ge­stellt hät­ten.[30] 

Die span­nen­de Land­tags­wahl im Nord­rhein-West­fa­len im Mai 1980, aus der die SPD und Jo­han­nes Rau als Sie­ger her­vor­gin­gen, wur­den in der UdSSR le­dig­lich am Ran­de be­han­delt.[31] Ju­li­an Se­më­nov re­flek­tier­te den Wahl­kampf in sei­nem Ta­ge­buch[32]; die Li­te­ra­tur­na­ja ga­ze­ta hin­ge­gen ließ die­ses Er­eig­nis au­ßer Acht. Im Herbst 1980 be­schäf­tig­te sich die so­wje­ti­sche Pres­se in­ten­siv mit der be­vor­ste­hen­den Bun­des­tags­wahl in West­deutsch­land. Man hoff­te auf den Sieg des am­tie­ren­den Bun­des­kanz­lers Hel­mut Schmidt (SPD; 1918-2015, Bun­des­kanz­ler 1974-1982) und wünsch­te der op­po­si­tio­nel­len CDU/CSU und vor al­lem ih­rem für sei­ne an­ti­so­wje­ti­sche Rhe­to­rik be­kann­ten Spit­zen­kan­di­da­ten Franz Jo­sef Strauß ei­ne Nie­der­la­ge. Nach der für die CDU/CSU ent­täu­schen­den Bun­des­tags­wahl ver­öf­fent­lich­te die Li­te­ra­tur­na­ja ga­ze­ta am 15.10.1980 ei­ne Wahl­ana­ly­se, die aus der Fe­der Ju­li­an Se­më­novs und sei­nes Kol­le­gen, des so­wje­ti­schen BRD-Ex­per­ten Ni­ko­laj S. Por­tu­gal­ov (1928-2008), stamm­te. Se­më­nov und Por­tu­gal­ov be­grü­ß­ten dar­in den Wahl­er­folg der SPD und freu­ten sich über den Miss­er­folg der „ewig Gest­ri­gen“ aus der CDU/CSU. Letz­te­re wur­de als ei­ne po­li­ti­sche Kraft wahr­ge­nom­men, wel­che die Vor­tei­le der Zu­sam­men­ar­beit zwi­schen der Bun­des­re­pu­blik und der So­wjet­uni­on nicht be­grif­fen ha­be.[33] 

5. Fazit

An­fang der 1980er Jah­re kehr­te Ju­li­an Se­më­nov in die So­wjet­uni­on zu­rück. 1984 ver­lor er sei­nen mäch­tigs­ten Un­ter­stüt­zer: Ju­rij An­dro­pov – zwi­schen 1982 und 1984 Par­tei- und Staats­chef der UdSSR – hin­ter­ließ mit sei­nem Tod ei­ne an­ge­schla­ge­ne Su­per­macht, die drin­gend Re­for­men be­nö­tig­te. Be­strebt, die an­dau­ern­de Kri­se zu über­win­den, be­gann der 1985 zum Staats- und Par­tei­chef ge­wähl­te Mi­chail S. Gor­bačev (ge­bo­ren 1931) sei­ne Pe­restro­j­ka-Po­li­tik. Ju­li­an Se­më­nov hat­te ei­nen gu­ten Draht zum neu­en Staats­chef, un­ter­stütz­te ent­schlos­sen sei­ne ra­di­ka­le Re­form­po­li­tik und träum­te von ei­nem „mensch­li­chen So­zia­lis­mus“ in der So­wjet­uni­on. Als über­zeug­ter Geg­ner des Sta­li­nis­mus, der zwar eng mit dem KGB zu­sam­men­ar­bei­te­te, je­doch nicht ein­mal über ein KPdSU-Par­tei­buch ver­füg­te und sich so­gar Wit­ze über Karl Marx er­laub­te, setz­te sich Se­më­nov für die Auf­ar­bei­tung der sta­li­nis­ti­schen Ver­bre­chen so­wie für die Mei­nungs- und Pres­se­frei­heit in der So­wjet­uni­on.[34]

En­de 1987 trug er un­ab­sicht­lich zum Ver­bot der so­wje­ti­schen Mo­nats­schrift Sput­nik in der DDR bei. Am 28.11.1987 be­rich­te­te Der Spie­gel, dass die Pe­restro­j­ka-Geg­ner in der SED-Spit­ze auf die Ok­to­ber-Aus­ga­be mit dem Ver­bot der so­wje­ti­schen Zeit­schrift re­agiert hät­ten. In die­ser Aus­ga­be sei Sta­lin auf­grund sei­ner kon­tra­pro­duk­ti­ven Po­li­tik An­fang der 1930er Jah­re scharf kri­ti­siert wor­den. Be­son­ders ha­be der Ost­ber­li­ner Füh­rung ein Ar­ti­kel des auch in der DDR be­kann­ten Schrift­stel­lers Ju­li­an Se­më­nov miss­fal­len. Der so­wje­ti­sche Au­tor, den Der Spie­gel noch 1984 zu ei­ner Iko­ne der „KGB-Li­te­ra­tur“ sti­li­siert hat­te, ha­be in sei­nem Bei­trag über den so­wje­ti­schen Agen­ten Ri­chard Sor­ge (1895-1944) die Si­tua­ti­on in Deutsch­land vor dem 30.1.1933 ana­ly­siert: Die Mos­kau treu­en deut­schen Kom­mu­nis­ten hät­ten An­fang der 1930er Jah­re ver­säumt, ei­ne Ein­heits­front mit der SPD zu bil­den, und die na­tio­nal­so­zia­lis­ti­sche „Macht­er­grei­fung“ da­durch be­güns­tigt.[35]

Von sei­nen Kon­tak­ten im KGB und in den so­wje­ti­schen Re­gie­rungs­krei­sen pro­fi­tie­rend, grün­de­te Ju­li­an Se­më­nov 1988 die ers­te nicht­staat­li­che Zei­tung in der UdSSR. Die Mo­nats­zei­tung Sover­šen­no se­kret­no („Streng ge­heim“) ver­öf­fent­lich­te zahl­rei­che sen­sa­tio­nel­le Re­por­ta­gen, jour­na­lis­ti­sche Un­ter­su­chun­gen und bis­her ge­hei­me Ar­chiv­ak­ten. Bin­nen kür­zes­ter Zeit eta­blier­te sich die Sover­šen­no se­kret­no als ei­ne der be­kann­tes­ten und ein­fluss­reichs­ten Zei­tun­gen der UdSSR. Ihr Her­aus­ge­ber er­litt 1990 ei­nen schlim­men Schlag­an­fall, von dem er sich nicht mehr er­hol­te. Ju­li­an Se­më­nov starb am 15.9.1993 in Mos­kau.[36]

Se­më­nov blieb sein gan­zes Le­ben eng mit Deutsch­land ver­bun­den: Er in­ter­es­sier­te sich ins­be­son­de­re für das „Drit­te Reich“ und für die Auf­ar­bei­tung der na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ver­bre­chen in Eu­ro­pa. Sein Ro­man „Sieb­zehn Au­gen­bli­cke des Früh­lings“ mach­te ihn zu ei­nem der wich­tigs­ten Schrift­stel­ler der So­wjet­uni­on. Um­strit­ten un­ter Kol­le­gen, die ihm nicht sel­ten zu Un­recht vor­war­fen, „li­te­ra­ri­sche Skla­ven“ aus­zu­beu­ten, die sei­ne Ro­ma­ne und Dreh­bü­cher an­geb­lich ver­fasst hät­ten, auf­grund sei­ner KGB-Ver­bin­dung von re­gime­kri­ti­schen In­tel­lek­tu­el­len ab­ge­lehnt und von Mil­lio­nen so­wje­ti­scher Bür­ger und Bür­ge­rin­nen be­geis­tert ge­le­sen[37], er­leb­te Ju­li­an Se­më­nov En­de der 1980er Jah­re den Zu­sam­men­bruch der DDR und die sich an­bah­nen­de Wie­der­ver­ei­ni­gung Deutsch­lands.

Sei­ne Tä­tig­keit als Bü­ro­lei­ter der Li­te­ra­tur­na­ja ga­ze­ta in Bonn und das Le­ben in der BRD präg­ten sei­ne Deutsch­land­bil­der und spie­gel­ten sei­ne am­bi­va­len­te Per­son wi­der. Sein Ta­ge­buch und die Er­in­ne­run­gen sei­ner Toch­ter Ol­ga zei­gen, wie der welt­of­fe­ne Schrift­stel­ler ein wohl­ha­ben­des Le­ben in Lie­ßem bei Bonn ge­noss, Ma­te­ri­al für sei­ne neu­en Ro­ma­ne sam­mel­te, sich mit Nord­rhein-West­fa­len ver­traut mach­te und gro­ße Sym­pa­thie für die­ses Bun­des­land ent­wi­ckel­te. In sei­nen Pu­bli­ka­tio­nen in der Li­te­ra­tur­na­ja ga­ze­ta ging Se­më­nov sys­te­ma­tisch auf Nord­rhein-West­fa­len ein. Er ver­brei­te­te da­bei ein po­si­ti­ves Bild ei­nes so­zi­al­de­mo­kra­tisch re­gier­ten und an en­ger Zu­sam­men­ar­beit mit der So­wjet­uni­on in­ter­es­sier­ten Bun­des­lan­des.

Werke (Deutsche Titel in Auswahl)

Pe­trov­ka 38, 1963; Gü­ters­loh 1967.
Auf­trag „Mor­d“, Ber­lin (Ost) 1965; Mün­chen 1973. 
Dy­na­mit un­ter der Stadt, Ber­lin (Ost) 1970.
Sieb­zehn Au­gen­bli­cke des Früh­lings (Fern­seh­se­rie, So­wjet­uni­on 1973; Dreh­buch: Ju­li­an Sem­jo­now, Re­gis­seu­rin: Tat'ja­na Lioz­no­va)
Die Al­ter­na­ti­ve, 1978, 2. Auf­la­ge Ber­lin (Ost) 1980.
TASS ist er­mäch­tigt…, Ber­lin (Ost) 1982.
Die Wür­fel fal­len in Mos­kau, Dort­mund 1985.
Mos­kau: streng ge­heim, Mün­chen 1989.
Der Fall Go­ren­kov, Mün­chen 1991. 

Literatur

Chlo­bustov, Oleg M., Neiz­vest­nyj An­dro­pov, Mos­kau 2009.
Mlečin, Leo­nid M., Ju­rij An­dro­pov. Pos­led­nja­ja na­dež­da reži­ma, Mos­kau 2008.
Se­ma­nov, Ser­gej N., Pred­se­da­tel' KGB Ju­rij An­dro­pov, Mos­kau 2008.
Se­më­nov, Ju­li­an, Raz­ve­dčik, ko­to­ryj naz­val den', in: Sput­nik (Ok­to­ber 1988), S. 139-142.
Se­më­no­va, Ol'ga Ju., Ju­li­an Se­më­nov, 2. Auf­la­ge, Mos­kau 2011.
Se­më­no­va, Ol'ga Ju., Neiz­vest­nyj Ju­li­an Se­më­nov. Um­ru ja ne­n­adol­go. Pis'ma, dnev­ni­ki, pute­vye za­met­ki..., Mos­kau 2008, 2. Auf­la­ge, Mos­kau 2011. 

Julian Semënov, 1989. (CC BY 2.0 / Dodo Dodo)

 
Anmerkungen
Zitationshinweis

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Friedman, Alexander, Johannes Rau, Rheinwein und „Schnüss“. Der sowjetische Schriftsteller Julian Semënov (1931-1993) über Nordrhein-Westfalen, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/johannes-rau-rheinwein-und-schnuess.-der-sowjetische-schriftsteller-julian-sem%25C3%25ABnov-1931-1993-ueber-nordrhein-westfalen/DE-2086/lido/5cb7265d693193.35791810 (abgerufen am 19.03.2024)