Kölner Inschriften des Mittelalters – ein epigraphischer Streifzug

Helga Giersiepen

Grab Friedrichs III. von Saarwerden im Kölner Dom mit geöffneter Verkleidung, 2010, Foto: Andreas Toerl. (Andreas Toerl / CC BY-SA 3.0)

1. Einleitung

In­schrif­ten ver­bin­den die Ei­gen­schaf­ten ar­chi­va­li­schen Schrift­gu­tes und ma­te­ri­el­ler Quel­len, denn es han­delt sich bei ih­nen um „Be­schrif­tun­gen ver­schie­de­ner Ma­te­ria­li­en – in Stein, Holz, Me­tall, Le­der, Stoff, Email, Glas, Mo­sa­ik usw. –, die von Kräf­ten und mit Me­tho­den her­ge­stellt sind, die nicht dem Schreib­schul- und Kanz­lei­be­trieb an­ge­hö­ren“.[1] In­schrif­ten sind in Stein ge­hau­en, in Me­tall gra­viert, ge­trie­ben oder ge­gos­sen, in Email ge­ar­bei­tet, ge­stickt oder ge­webt, um nur die häu­figs­ten Tech­ni­ken zu er­wäh­nen, mit de­nen sie her­ge­stellt sind. Sie be­fin­den sich eben­so auf Grab­denk­mä­lern oder Glo­cken wie an Bau­wer­ken, auf Glas­fens­tern, lit­ur­gi­schem Ge­rät und Tex­ti­li­en oder all­täg­li­chen Ge­brauchs­ge­gen­stän­den. In­schrif­ten sind fast all­ge­gen­wär­tig, da­bei stets an ein Ob­jekt – den In­schrift­en­trä­ger – ge­bun­den und nur im Zu­sam­men­hang mit ihm zu er­schlie­ßen. Die Mög­lich­kei­ten, In­schrif­ten für his­to­ri­sche, phi­lo­lo­gi­sche, kunst­his­to­ri­sche oder theo­lo­gi­sche Fra­ge­stel­lun­gen aus­zu­wer­ten, sind viel­fäl­tig: Wie spie­geln sich his­to­ri­sche Er­eig­nis­se und Ent­wick­lun­gen in In­schrif­ten wi­der? Was tra­gen In­schrif­ten zur Fröm­mig­keits­ge­schich­te bei? Wel­che Er­kennt­nis­se zur früh­neu­hoch­deut­schen Sprach­ge­schich­te er­mög­li­chen volks­sprach­li­che In­schrif­ten? Wel­chen „Sitz im Le­ben“ hat­te ein be­schrif­te­tes Ob­jekt in sei­nem Um­feld? Wie er­gän­zen sich Bild­pro­gram­me und Bild­bei­schrif­ten? Wel­che Re­so­nanz fin­den bib­li­sche, lit­ur­gi­sche und li­te­ra­ri­sche Tex­te in den In­schrif­ten?

Mit die­ser Viel­falt von An­knüp­fungs­punk­ten bie­ten In­schrif­ten den his­to­ri­schen Fach­rich­tun­gen reich­hal­ti­ges Quel­len­ma­te­ri­al zur Er­gän­zung ih­rer For­schun­gen. Im Rah­men des Edi­ti­ons­pro­jekts „Deut­sche In­schrif­ten“ sam­meln die deut­schen Aka­de­mi­en der Wis­sen­schaf­ten in Düs­sel­dorf, Göt­tin­gen, Hei­del­berg, Leip­zig, Mainz und Mün­chen so­wie die Ös­ter­rei­chi­sche Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten in Wien la­tei­ni­sche und deut­sche In­schrif­ten, die zwi­schen dem 6. Jahr­hun­dert und 1650 ent­stan­den sind, und pu­bli­zie­ren sie in ei­ner kom­men­tier­ten Edi­ti­on, die bis­lang et­wa 100 Bän­de um­fasst.[2] 

2. Die Überlieferung

In Nord­rhein-West­fa­len liegt der Schwer­punkt der Epi­gra­phik (In­schrif­ten­for­schung) auf his­to­risch be­deut­sa­men Städ­ten (Aa­chenBonnDüs­sel­dorfEs­sen, Lem­go, Min­den, Müns­ter, Pa­der­born, Xan­ten), vor al­lem auf Köln, wo sich der mit Ab­stand reich­hal­tigs­te und viel­fäl­tigs­te Be­stand an ori­gi­nal er­hal­te­nen oder ver­lo­re­nen, aber ab­schrift­lich oder fo­to­gra­fisch über­lie­fer­ten In­schrif­ten im Bun­des­land und zu­gleich ei­ner der um­fang­reichs­ten in Deutsch­land grei­fen lässt. Der­zeit sind et­wa 1.800 Trä­ger mit In­schrif­ten er­fasst, die in min­des­tens vier Edi­ti­ons­bän­den auf­ge­ar­bei­tet wer­den.

In Köln be­her­ber­gen der Dom und die gro­ßen ro­ma­ni­schen Kir­chen die grö­ß­ten In­schrif­ten­be­stän­de. Bei wei­tem nicht al­le In­schrif­ten sind er­hal­ten, die Ver­lus­te durch Kriegs­ein­wir­kung oder schlicht Neu­ge­stal­tun­gen der Kir­chen sind viel­mehr als sehr hoch ein­zu­schät­zen. Die Lü­cken, die die Sä­ku­la­ri­sa­ti­on in den Be­stand an Ge­mäl­den, Glas­fens­tern und Schatz­kunst in Köl­ner Kir­chen ge­ris­sen hat, be­tref­fen auch die zahl­rei­chen dar­auf an­ge­brach­ten In­schrif­ten. Zwar wur­de nicht al­les zer­stört, et­li­che Ob­jek­te ge­lang­ten – vor al­lem nach der Sä­ku­la­ri­sa­ti­on – in den Kunst­han­del und von dort in den Be­sitz von Samm­lern in ganz Eu­ro­pa und in den USA. Oft feh­len kon­kre­te An­ga­ben zum Ver­bleib der Ob­jek­te, so dass sich ih­re Spur ver­liert. 

Die Zer­stö­rung Kölns im Zwei­ten Welt­krieg be­traf in er­heb­li­chem Ma­ße die Bau­sub­stanz der Kir­chen und der al­ten Wohn­häu­ser mit ih­ren In­schrif­ten an Fas­sa­den, Tür­stür­zen oder an­de­ren Bau­glie­dern. Zahl­rei­che al­te Kir­chen­glo­cken wur­den im­mer­hin da­durch ge­ret­tet, dass sie ab­ge­lie­fert wer­den muss­ten, um als Ma­te­ri­al für die Pro­duk­ti­on von Waf­fen und Mu­ni­ti­on zur Ver­fü­gung zu ste­hen, und den Krieg auf dem Sam­mel­platz „über­leb­ten“. Nach Kriegs­en­de wur­den et­li­che von ih­nen je­doch nicht nach Köln zu­rück­ge­bracht, son­dern in Kir­chen an­de­rer Städ­te auf­ge­hängt – oft über Jahr­zehn­te hin­weg un­er­kannt. Erst in den letz­ten 20 Jah­ren wur­de ih­re Her­kunft in Ein­zel­fäl­len im Zu­ge akri­bi­scher Re­cher­chen ans Ta­ges­licht ge­bracht.[3] 

Die Su­che nach den In­schrif­ten auf mit­tel­al­ter­li­chen und früh­neu­zeit­li­chen Ob­jek­ten, die sich vor 1650 in Köln be­fan­den, ge­stal­tet sich al­so zu­wei­len als mü­he­vol­le De­tek­tiv­ar­beit mit un­ge­wis­sem Aus­gang.

Die Ver­lus­te an In­schrif­ten wer­den lei­der nur in sehr be­grenz­tem Ma­ße durch die ab­schrift­li­che Über­lie­fe­rung in neu­zeit­li­chen Quel­len­samm­lun­gen aus­ge­gli­chen, die Samm­ler wie die Brü­der Jo­hann und Ägi­di­us Ge­le­ni­us, Bar­tho­lo­mä­us J. B. Alf­ter (1729-1808), Jo­hann Gott­fried von Re­ding­ho­ven (1628-1704) oder Lud­wig von Bül­lin­gen (1771-1848) zu­sam­men­ge­tra­gen ha­ben. Das In­ter­es­se der Köl­ner His­to­rio­gra­phen be­schränk­te sich im We­sent­li­chen auf In­schrif­ten und Trä­ger, die auf­grund ih­res Al­ters oder ih­rer de­ko­ra­ti­ven Funk­ti­on als be­son­ders wert­voll er­ach­tet wur­den, wie et­wa der Rad­leuch­ter in St. Se­ve­rin aus der zwei­ten Hälf­te des 11. oder dem An­fang des 12. Jahr­hun­derts, des­sen In­schrift so­wohl in den Far­ra­gi­nes Ge­le­ni­a­nae als auch bei Re­ding­ho­ven, Alf­ter und Bül­lin­gen wie­der­ge­ge­ben ist. Die gro­ße Mas­se zer­stör­ter In­schrif­ten auf Grab­denk­mä­lern, Glo­cken, Kir­chen­fens­tern, Al­tä­ren und lit­ur­gi­schem Ge­rät, an Häu­sern und Stadt­to­ren ist vor ih­rem Un­ter­gang nicht auf­ge­zeich­net oder fo­to­gra­fiert wor­den. Das Aus­maß des Ver­lus­tes lässt sich in et­wa er­ah­nen, wenn man die für Köln ein­zig­ar­tig um­fang­rei­che Über­lie­fe­rung von an­nä­hernd 100 Grab­in­schrif­ten für Ka­no­ni­ker an St. An­dre­as aus der Zeit bis 1650 bei Alf­ter und Bül­lin­gen mit den le­dig­lich 13 Grab­plat­ten und Epi­ta­phen ver­gleicht, die für den­sel­ben Zeit­raum aus St. Se­ve­rin be­kannt sind.

Den­noch lie­fern die mit­tel­al­ter­li­chen und früh­neu­zeit­li­chen In­schrif­ten Kölns, sei­en sie ori­gi­nal er­hal­ten oder ab­schrift­lich re­spek­ti­ve fo­to­gra­fisch über­lie­fert, reich­hal­ti­ges Quel­len­ma­te­ri­al zum Le­ben und Ster­ben der Köl­ner Be­völ­ke­rung, zu kirch­li­chen und pro­fa­nen Ge­bäu­den und ih­rer Aus­stat­tung so­wie zum Selbst­ver­ständ­nis der Stadt und ih­rer Bür­ger.

Die mit Ab­stand grö­ß­te Zahl an In­schrift­en­trä­gern ist – wie nicht an­ders zu er­war­ten – für den Dom über­lie­fert. Dar­un­ter be­fin­den sich her­vor­ra­gen­de Ob­jek­te wie die Grab­denk­mä­ler der Erz­bi­schö­fe, die Glas­fens­ter, Glo­cken oder die Chor­schran­ken­ma­le­rei­en. Ins­ge­samt sind für den Zeit­raum bis 1650 im Dom bis­lang cir­ca 260 In­schrift­en­trä­ger er­fasst – mit stei­gen­der Ten­denz. Das sind dop­pelt so vie­le wie für St. An­dre­as (134), das vor St. Ma­ria im Ka­pi­tol (115) und St. Ge­re­on (102) zah­len­mä­ßig auf dem zwei­ten Platz der Köl­ner Kir­chen liegt. Doch nicht nur für die gro­ßen Klos­ter- und Stifts­kir­chen, son­dern auch für die klei­nen Kir­chen und Ka­pel­len, ja selbst für Haus­ka­pel­len sind In­schrif­ten am Bau oder auf Aus­stat­tungs­stü­cken wie Al­tar­re­ta­beln oder Kel­chen nach­weis­bar. Selbst­ver­ständ­lich wa­ren auch an Prof­an­bau­ten In­schrif­ten an­ge­bracht. Bei Pri­vat­häu­sern han­del­te es sich meist um Bau­in­schrif­ten oder Se­gens­wün­sche, in ein­zel­nen Fäl­len aber auch um Sprich­wör­ter oder Schrift­stel­ler­zi­ta­te an De­cken und Trep­pen­ge­län­dern. Öf­fent­li­che Ge­bäu­de, ins­be­son­de­re das Rat­haus, wa­ren auf­grund ih­rer re­prä­sen­ta­ti­ven Funk­ti­on ein ge­eig­ne­ter Ort für die Selbst­dar­stel­lung der Stadt und ih­rer füh­ren­den Or­ga­ne.

3. Im Dienste der Memoria

So un­ter­schied­lich die In­schrif­ten­be­stän­de an ver­schie­de­nen Or­ten in Deutsch­land und Eu­ro­pa auch sein mö­gen, ha­ben sie doch ei­nes ge­mein­sam: Die In­schrif­ten des To­ten­ge­den­kens auf Grab­stei­nen, Grab­plat­ten, Grab­kreu­zen, To­ten­schil­den, Epi­ta­phen usw. bil­den die grö­ß­te Grup­pe. Auf den ers­ten Blick mag das als selbst­ver­ständ­lich er­schei­nen, zu­mal das Be­dürf­nis, über den Tod hin­aus in Er­in­ne­rung zu blei­ben, eng ver­bun­den war mit der Hoff­nung, dass das Ge­bet der Nach­kom­men für das See­len­heil des Ver­stor­be­nen zu des­sen Teil­ha­be am ewi­gen Le­ben bei­tra­gen mö­ge. Stei­ner­ne oder me­tal­le­ne Epi­ta­phe oder Grab­plat­ten mit Ge­denk­in­schrif­ten, die an den To­des­tag und so­mit auch an die Fei­er der Me­mo­ria er­in­ner­ten, konn­te sich aber die Mehr­heit der Be­völ­ke­rung über vie­le Jahr­hun­der­te nicht leis­ten. So sind es bis in die frü­he Neu­zeit hin­ein ganz über­wie­gend Kle­ri­ker, Ad­li­ge und wohl­ha­ben­de Bür­ger, de­ren Ge­denk­in­schrif­ten über­lie­fert sind. Erst ab dem 16. Jahr­hun­dert sind auch für die „klei­nen Leu­te“ in nen­nens­wer­ter Zahl Grab­kreu­ze be­kannt, die nicht mehr aus ver­gäng­li­chem Holz, son­dern aus Stein ge­fer­tigt wa­ren.

 

Be­reits aus dem frü­hen Mit­tel­al­ter ken­nen wir la­tei­ni­sche Grab­in­schrif­ten in Ge­dicht­form, et­wa auf ei­nem früh­mit­tel­al­ter­li­chen Grab­stein, der 1952 im Kreuz­gang­gar­ten von St. Se­ve­rin ge­fun­den wur­de.[4] Er­hal­ten ist nur der rech­te Teil des Steins mit et­wa ei­nem Drit­tel des Tex­tes, der im­mer­hin dar­auf schlie­ßen lässt, dass El­tern (PAR­ENT­VM) ihn für ih­re Toch­ter ha­ben set­zen las­sen. Die Er­wäh­nung der See­le (ANI­MA) und – ver­mut­lich – der Hei­li­gen ([SAN]CTORVM) ver­deut­licht, dass die El­tern Chris­ten wa­ren und aus dem Glau­ben an das Wei­ter­le­ben der See­le in der Ge­mein­schaft der Hei­li­gen Trost schöpf­ten. Et­was jün­ger, näm­lich aus dem 10. bis 12. Jahr­hun­dert, sind die so­ge­nann­ten Me­mo­ri­en­stei­ne, die in meh­re­ren Köl­ner Kir­chen ge­fun­den wur­den und de­ren Vor­kom­men nach heu­ti­gem Kennt­nis­stand auf den Mit­tel- und Nie­der­rhein be­schränkt ist. In die eher klein­for­ma­ti­gen Stei­ne sind (meis­tens) die Um­ris­se ei­nes Kreu­zes ge­ritzt, in des­sen Bal­ken der Tag und der Mo­nat des To­des so­wie der Na­me des oder der Ver­stor­be­nen ein­ge­hau­en ist. Der Text lau­te­te al­so zum Bei­spiel IIII IDVS MAR­TII OBIIT WI­DII […] = Am vier­ten Tag vor den Iden des März [am 12. März] starb Wi­dii […]. So steht es auf ei­nem Me­mo­ri­en­stein in St. Ma­ria im Ka­pi­tol, der der Schrift nach zu ur­tei­len wohl aus dem 10. Jahr­hun­dert stammt.[5] Ob der Na­me zu Wi­di­mer, Wi­din, Wi­du­lin oder Wi­di­kin zu er­gän­zen ist, lässt sich nicht ent­schei­den – al­le die­se Na­mens­for­men sind im ho­hen Mit­tel­al­ter be­legt.[6] Die In­schrif­ten auf den Me­mo­ri­en­stei­nen über­mit­teln die­sel­ben In­for­ma­tio­nen wie die Ne­kro­lo­ge der Stif­te und Klös­ter, in de­nen die Na­men der­je­ni­gen Ver­stor­be­nen fest­ge­hal­ten wur­den, für die Me­mo­ri­en ge­fei­ert wer­den soll­ten. Die Über­ein­stim­mun­gen er­stre­cken sich nicht nur auf das Text­for­mu­lar, son­dern oft so­gar auf De­tails der Schreib­wei­se, et­wa die Ab­kür­zung des Wor­tes obiit durch ein schräg durch­stri­che­nes O. Es scheint, dass die Me­mo­ri­en­stei­ne durch die hand­schrift­lich ge­führ­ten Ne­kro­lo­ge ab­ge­löst wur­den. Ob die Stei­ne an den Kir­chen­wän­den an­ge­bracht wa­ren oder auf das Grab ge­legt bzw. auf dem Grab auf­ge­stellt wa­ren, ist um­strit­ten, und das nicht grund­los: Bis­lang sind kei­ne Me­mo­ri­en­stei­ne in ih­rem ur­sprüng­li­chen Funk­ti­ons­zu­sam­men­hang ge­fun­den wor­den.[7] 

Un­ter den zahl­rei­chen Grab­denk­mä­lern spä­te­rer Jahr­hun­der­te ste­chen die ein­drucks­vol­len Tum­ben und Epi­ta­phe für die Erz­bi­schö­fe im Dom be­son­ders her­vor. Wäh­rend ei­ni­ge der äl­te­ren Tum­ben mit über­le­bens­¬gro­ßen Lie­ge­fi­gu­ren auf den Deck­plat­ten (ur­sprüng­lich) nur den Na­men der ver­stor­be­nen Erz­bi­schö­fe tru­gen – so die Tum­ben für Rai­nald von Das­sel un­d Phil­ipp von Heins­berg –, nennt die In­schrift für Erz­bi­schof Wil­helm von Gen­nep auch Jahr und Tag des To­des so­wie den re­gie­ren­den Kai­ser Karl IV. (Re­gie­rungs­zeit 1346-1378) und er­wähnt die Va­kanz des Apos­to­li­schen Stuhls. Im 15. Jahr­hun­dert wur­den die In­schrif­ten an den Grab­denk­mä­lern der Erz­bi­schö­fe zu­neh­mend als Me­di­um der Selbst­dar­stel­lung ge­nutzt. So wird der 1414 ver­stor­be­ne Fried­rich von Saar­wer­den als „Ver­tei­di­ger der Kir­che, (ein Mann,) der am Recht stark fest­hielt und (die­ses) über­aus hoch ach­te­te (und) sich durch sei­ne her­aus­ra­gen­de Fröm­mig­keit aus­zeich­ne­te“ (de­fen­sor eccla­e­siae iuris te­n­a­cis­si­mus et ob­ser­van­tis­si­mus, pieta­te in­signis) ge­prie­sen, und auch sei­ne Sal­bung durch Papst Ur­ban VI. (Pon­ti­fi­kat 1378-1389) und der Tag sei­ner Ein­füh­rung ins Amt wer­den her­vor­ge­ho­ben. Sein Nach­fol­ger, Diet­rich II. von Mo­ers (Epis­ko­pat 1414-1463), er­hielt ein acht Ver­se um­fas­sen­des Grab­ge­dicht, das ihn als „schön von Ge­stalt, von noch vor­treff­li­che­rem Cha­rak­ter und sü­ßer Spra­che“ (for­mo­sus cor­po­re, men­te pul­ch­ri­or et lin­gua dul­cis) schil­dert so­wie sei­ne Fröm­mig­keit und sei­ne Re­gie­rung hym­nisch preist. Das To­ten­lob, das sich in vie­len Va­ri­an­ten an Grab­denk­mä­lern un­ter­schied­li­cher Qua­li­tät fin­det, ist al­ler­dings nicht all­zu hoch zu be­wer­ten, han­delt es sich doch im All­ge­mei­nen eher um To­poi als um rea­lis­ti­sche Cha­rak­te­ri­sie­run­gen der Ver­stor­be­nen. Die re­prä­sen­ta­ti­ve Funk­ti­on der erz­bi­schöf­li­chen Grab­denk­mä­ler und ih­rer In­schrif­ten ge­winnt an­ge­sichts der po­li­ti­schen Ent­wick­lun­gen und des da­mit ver­bun­de­nen Macht­ver­lus­tes der Erz­bi­schö­fe über die Stadt Köln zu­sätz­lich an Be­deu­tung. Das un­ter­streicht die In­schrift auf der Tum­ba des 1274 ver­stor­be­nen Erz­bi­schofs En­gel­bert II. von Fal­ken­burg (Epis­ko­pat 1261-1274) im Bon­ner Müns­ter: flo­re­at in ce­lis tua laus Ve­ro­na fi­de­lis / fi­lia tu ma­tris En­gil­ber­ti qua pa­tris / Que sua me­tro­po­lis non ha­bet os­sa co­lis (Dein Ruhm, treu­es Ve­ro­na [Bonn], mö­ge in den Him­meln er­strah­len! Als Toch­ter der Mut­ter [der Kir­che] und des Va­ters En­gel­bert pflegst du sei­ne Ge­bei­ne, die die Bi­schofs­stadt nicht be­sitzt).[8] En­gel­bert war nach an­hal­ten­den Aus­ein­an­der-set­zun­gen mit der Stadt Köln in Bonn ver­stor­ben und wur­de dort auch be­stat­tet, da auf Köln das In­ter­dikt lag. Erst in der zwei­ten Hälf­te des 14. Jahr­hun­derts wur­de die Deck­plat­te der Tum­ba mit ih­rer In­schrift an­ge­fer­tigt. Zu die­sem Zeit­punkt hat­te der Köl­ner Erz­bi­schof die Herr­schaft über sei­ne Stadt längst ver­lo­ren und re­si­dier­te zu­neh­mend häu­fi­ger in Ve­ro­na fi­de­lis – Bonn.

4. Stiftungen

Ne­ben der Für­bit­te der Le­ben­den konn­ten nach mit­tel­al­ter­li­chem Ver­ständ­nis auch Ak­te der Mild­tä­tig­keit und Stif­tun­gen für Got­tes­häu­ser das See­len­heil si­chern. Wert­vol­le Schen­kun­gen an Kir­chen und Klös­ter wur­den häu­fig in Form von In­schrif­ten auf den ge­stif­te­ten Al­tä­ren, Leuch­tern und Gold­schmie­de­ar­bei­ten, Pa­ra­men­ten oder Glas­fens­tern no­tiert, so dass der Stif­ter auf al­le Zeit da­mit ver­bun­den war. Im ho­hen Mit­tel­al­ter wa­ren es in ers­ter Li­nie Per­sön­lich­kei­ten her­aus­ge­ho­be­nen Ran­ges mit ent­spre­chen­den fi­nan­zi­el­len Mög­lich­kei­ten, die zur Aus­stat­tung der Kir­chen bei­tru­gen: So ließ Erz­bi­schof Her­mann III. (Epis­ko­pat 1088-1099) für die Ge­bei­ne des hei­li­gen Se­ve­rin ei­nen präch­ti­gen Re­li­qui­en­schrein an­fer­ti­gen. In der poe­ti­schen Stif­ter­in­schrift, die er auf dem Schrein an­brin­gen ließ, gab er der Hoff­nung Aus­druck, das Wohl­wol­len des Hei­li­gen mö­ge da­zu bei­tra­gen, dass die from­me Stif­tung Her­manns Sün­den auf­wie­gen mö­ge (pro pec­ca­tis iuvet hui­us gra­tia pa­tris com­pens­ans […] hoc lau­da­bi­le do­num).[9]

Ab dem Spät­mit­tel­al­ter sind auch Stif­ter nach­weis­lich bür­ger­li­cher Her­kunft be­legt. Ei­ne In­schrift aus dem An­fang des 14. Jahr­hun­derts über­lie­fert, dass HEN­RIC(US) D(I)C(T)US WINT(ER)SCHUZ­CE CI­VIS CO­LON(IEN­SIS) ei­nen Al­tar in St. Ma­ria im Ka­pi­tol mit jähr­li­chen Ein­künf­ten in Hö­he von fünf Mark aus­stat­te­te, die ihm als Ein­nah­men von zwei Wie­sen in (Qua­drath-)Ichen­dorf zu­stan­den. Recht­li­che De­tails wa­ren I(N) L(IT­TE)RIS S(UPE)R H(OC) (CON)FEC­TIS (in den dar­über aus­ge­stell­ten Ur­kun­den) fest­ge­hal­ten.[10] Ob­wohl die Re­ge­lun­gen der Stif­tung al­so in meh­re­ren Ur­kun­den nie­der­ge­schrie­ben wor­den wa­ren, wur­den sie, wenn auch knap­per, zu­sätz­lich in­schrift­lich fest­ge­hal­ten – und das nicht nur ein­mal, son­dern in dop­pel­ter Aus­fer­ti­gung: ein­mal auf ei­ner Stein­plat­te, die in St. Ma­ria im Ka­pi­tol am Wes­ten­de des Mit­tel­schiffs in die Wand ein­ge­fügt ist, und ein zwei­tes Mal an ei­nem Pfei­ler in der Kryp­ta, in den sie gut sicht­bar in Au­gen­hö­he ein­ge­hau­en ist. Of­fen­bar war Hein­rich Win­ter­schutz sehr dar­an ge­le­gen, dass sei­ne Stif­tung nicht in Ver­ges­sen­heit ge­riet. Die In­schrift in der Kryp­ta be­fand sich in un­mit­tel­ba­rer Nä­he des Ge­or­gal­tars, dem die Ein­nah­men zu­gu­te­kom­men soll­ten.

St. Maria im Kapitol, Memorienstein, 10. Jh, Foto: Gerda Hellmer. (AWK NRW, Arbeitsstelle Inschriften)

 

Selbst­ver­ständ­lich muss­ten Stif­ter über ein ge­wis­ses Ver­mö­gen ver­fü­gen, das ih­nen die Fi­nan­zie­rung ih­rer Schen­kun­gen er­mög­lich­te. Viel­fach wa­ren es Rats­her­ren, die wert­vol­le Ob­jek­te stif­te­ten, wie zum Bei­spiel Jo­hann von Schwelm, der im 15. Jahr­hun­dert mit sei­ner Frau Mech­tild ei­nen Kelch für St. Jo­hann Bap­tist an­fer­ti­gen und in den Kelch­fuß die Stif­ter­na­men mit ei­ner Bit­te um ein Ge­bet gra­vie­ren ließ: bit vor jo­hann von swelm und hil­ken sin hus frov und eir kin­der.[11] 

Letzt­lich je­doch war je­der gu­te Christ zur Mild­tä­tig­keit auf­ge­for­dert. Das elf­te Bild des Zy­klus zum Le­ben und zur Ver­eh­rung des hei­li­gen Se­ve­rin (um 1500) zeigt den In­nen­raum ei­ner Köl­ner Kir­che – wohl St. Se­ve­rin –, in dem ei­ne Ta­fel mit ei­nem Spen­den­auf­ruf zu er­ken­nen ist: We(m) it god gift i(n) si­in / Der werp zo(m) […..] hir i(n) (Wem Gott es in den Sinn gibt, der wer­fe … hier hin­ein).[12] Dar­stel­lung und Text dürf­ten der Rea­li­tät sehr na­he­kom­men, denn Her­mann Weins­berg be­rich­tet 1595, dass in „sei­ner“ Pfarr­kir­che St. Ja­kob ei­ne höl­zer­ne Al­mo­sen­ta­fel mit der Auf­for­de­rung Wem es got ge­ve in si­nen sinn / der werf vur die ver­won­ten von den tur­ken he­rin (Wem Gott es in sei­nen Sinn gibt, der wer­fe (Geld) für die Ver­wun­de­ten der Tür­ken(krie­ge) hin­ein)[13] an­ge­bracht war.

St. Severin, Gemäldezyklus mit Szenen aus der Legende des hl. Severin: Der hl. Severin erweckt einen jungen Mann vom Tode (Detail), um 1500, Foto: Gerda Hellmer. (AWK NRW, Arbeitsstelle Inschriften)

 

5. Bau und Weihe

Seit dem Mit­tel­al­ter ist Köln durch sei­ne Viel­zahl an Kir­chen und Ka­pel­len, Klös­tern und Stif­ten ge­prägt. Zu de­ren Ent­ste­hung und Ent­wick­lung ge­ben ne­ben ar­chäo­lo­gi­schen und ur­kund­li­chen Zeug­nis­sen auch In­schrif­ten Aus­kunft, ins­be­son­de­re Bau- oder Wei­hein­schrif­ten. Ein – heu­te ver­lo­re­nes – zwölf Ver­se um­fas­sen­des Ge­dicht über dem Ein­gang zu St. Ge­org pries den hei­li­gen Pa­tron und den Auf­trag­ge­ber des Kir­chen­baus: _Con­di­dit an­tis­tes _An­no pi­us is­ta de­cen­ter / pro­fi­ci­ant ani­mae que no­va tem­p­la suae. / An­no mil­le­no de­cies sex ad­di­to sep­tem / ex­ti­tit erec­tum quod mo­do cer­nis opus. (Der from­me Bi­schof An­no hat die­ses neue Got­tes­haus, das sei­ner See­le das Wohl er­brin­gen mö­ge, ge­zie­mend er­baut. Im Jah­re 1067 war das Werk, das du nun vor Au­gen hast, er­rich­tet).[14] In der Kryp­ta der Kir­che er­in­nert die In­schrift HEREB­RAT ME FECIT (Hereb­rat hat mich ge­macht.) auf ei­nem Säu­len­ka­pi­tell bis heu­te an de­ren Er­bau­ung.[15] Ob sich hin­ter Hereb­rat der Bau­meis­ter oder ein an den Ar­bei­ten be­tei­lig­ter Stein­metz ver­birgt, gilt als un­ge­klärt. Schaut man sich die In­schrift ge­nau­er an, so stellt man fest, dass die Schrift­grö­ße zwi­schen 1,5 und 2,5 Zen­ti­me­tern schwankt, dass zu­dem die Pro­por­ti­on der Buch­sta­ben ins­ge­samt nicht ge­lun­gen ist und die gan­ze In­schrift ei­nen höchst un­ge­len­ken Ein­druck ver­mit­telt. Dass es im 11. Jahr­hun­dert bes­ser ging, zeigt ein Ver­gleich mit der Ster­bein­schrift für ei­nen He­ri­cho, die eben­falls in St. Ge­org ge­fun­den wur­de und ein deut­lich hö­he­res Schrift­ni­veau auf­weist.[16] Of­fen­bar war am Ka­pi­tell ei­ne Hand am Werk, die in der Aus­füh­rung von Schrift un­ge­übt war, was we­ni­ger für ei­nen Bau­meis­ter als für ei­nen Hand­wer­ker spricht, dem es ge­lang, sei­nen Na­men in der Nä­he des Al­tars in der Kryp­ta zu hin­ter­las­sen.

Ne­ben der Er­bau­ung ist auch die Wei­he ei­ner Kir­che oder Ka­pel­le viel­fach The­ma von In­schrif­ten. Ei­ne be­son­ders ori­gi­nel­le Wei­heno­tiz ist in Form ei­nes so­ge­nann­ten Ab­klat­sches auf uns ge­kom­men, al­so ei­ner ge­nau­en Ab­for­mung der ein­ge­haue­nen In­schrift mit Hil­fe von feuch­tem Pa­pier. Die In­schrift be­rich­tet von der Wei­he der (1834 ab­ge­bro­che­nen) Ste­phans­ka­pel­le an der Ecke Ste­phan­stra­ße/Ho­he Pfor­te am 27.5.1009 durch den Köl­ner Erz­bi­schof He­ri­bert und zählt die Re­li­qui­en auf, die in der Ka­pel­le auf­be­wahrt wur­den.[17] An­hand des Ab­klatschs kann auch die Schrift der Wei­heno­tiz be­ur­teilt wer­den, und die­se lässt zwei­fel­frei er­ken­nen, dass die In­schrift nicht 1009, son­dern erst im 12. Jahr­hun­dert und so­mit lan­ge nach der Wei­he der Ka­pel­le aus­ge­führt wur­de. In der Bau­zeit der Ka­pel­le wur­den In­schrif­ten in ei­ner Groß­buch­sta­ben­schrift (Ma­jus­kel) aus­ge­führt, für die im We­sent­li­chen die For­men der an­tik-rö­mi­schen Ka­pi­ta­lis ver­wen­det wur­den. So­mit ent­spra­chen die Grund­for­men in et­wa un­se­rer Groß­buch­sta­ben­schrift. Be­reits im Ver­lauf des 11. Jahr­hun­derts ka­men zu die­sen Ka­pi­ta­lis­buch­sta­ben ge­le­gent­lich ei­ni­ge al­ter­na­ti­ve For­men hin­zu, et­wa run­des E und M aus dem un­zia­len Al­pha­bet als Ge­gen­stück zum ecki­gen E der Ka­pi­ta­lis oder auch ecki­ges C er­gän­zend zum üb­li­che­ren run­den C. Sei­nen Hö­he­punkt er­leb­te der Trend zur For­men­viel­falt erst im 12. Jahr­hun­dert, und die Wei­hein­schrift der Ste­phans­ka­pel­le bie­tet ein schö­nes Bei­spiel da­für: A, E, G, H, N, Q, S, T und V/U sind so­wohl eckig als auch rund aus­ge­führt und teil­wei­se durch Zier­bö­gen und Blat­tor­na­ment de­ko­ra­tiv ge­stal­tet. Die­se Schrift hat sich nicht nur hin­sicht­lich der Buch­sta­ben­for­men, son­dern auch sti­lis­tisch von der Ka­pi­ta­lis ent­fernt. Es han­delt sich um ei­ne aus­ge­reif­te ro­ma­ni­sche Ma­jus­kel, die ty­pi­scher­wei­se zahl­rei­che Ver­bin­dun­gen und Ein­stel­lun­gen von Buch­sta­ben auf­weist. In den letz­ten Zei­len wer­den so­gar mehr­fach Ru­n­en­zei­chen an­stel­le ei­nes la­tei­ni­schen Buch­sta­bens ver­wen­det, al­ler­dings oh­ne Ver­ständ­nis für ih­re laut­li­che Be­deu­tung. Of­fen­bar heg­te auch der Ver­fas­ser der Vor­la­ge für die Wei­heno­tiz Zwei­fel dar­an, ob der Le­ser die Ru­n­en­zei­chen rich­tig deu­ten wür­de, und füg­te über der Ru­ne den je­weils ge­mein­ten la­tei­ni­schen Buch­sta­ben in klei­ner Aus­füh­rung hin­zu. Ne­ben der In­for­ma­ti­on über die Wei­he der Ste­phans­ka­pel­le und die in ihr auf­be­wahr­ten Re­li­qui­en kann man der Schrift al­so die Ent­ste­hungs­zeit der In­schrift und zu­dem ganz un­ge­wöhn­li­che In­for­ma­tio­nen über den Bil­dungs­stand des Ver­fas­sers ent­neh­men. Wo er sei­ne Ru­n­en­kennt­nis­se er­wor­ben hat­te, ist zwar nicht mit Si­cher­heit fest­stell­bar, zu ver­mu­ten ist aber, dass dies durch die Über­lie­fe­rung von Ru­n­en­rei­hen in Hand­schrif­ten ge­schah.

6. Gebeine? – Reliquien!

Das Auf­fin­den von „Re­li­qui­en“, ih­re Er­he­bung, Ver­eh­rung und Ver­brei­tung spie­len in der Ge­schich­te der Stadt Köln und ih­rer Kir­chen ei­ne wich­ti­ge Rol­le. Ei­nen Hö­he­punkt der Um­deu­tung mensch­li­cher Kno­chen zu Re­li­qui­en der Ur­su­li­ni­schen Jung­frau­en und ih­rer männ­li­chen Be­glei­ter stel­len die Gra­bun­gen auf dem links­rhei­nisch ge­le­ge­nen ager Ur­su­la­nus in der Mit­te des 12. Jahr­hun­derts dar.[18] Auf­grund ei­ner güns­ti­gen Quel­len­la­ge sind wir über die Gra­bun­gen, die auf Ver­an­las­sung Erz­bi­schof­s Ar­nold II. und un­ter der Ägi­de des Kus­tos der Be­ne­dik­ti­ner­ab­tei in Deutz, Thi­ode­ri­cus (ge­stor­ben um 1164), er­folg­ten, so­wie über den Um­gang mit den auf­ge­fun­de­nen Ge­bei­nen gut in­for­miert. Die Aus­grä­ber stie­ßen nicht nur auf die Über­res­te ei­ner gro­ßen An­zahl männ­li­cher und weib­li­cher Ver­stor­be­ner, son­dern fan­den in de­ren Grä­bern auch Ta­feln mit ih­ren Na­men. An­hand die­ser In­schrif­ten und mit Hil­fe gött­li­cher Of­fen­ba­run­gen iden­ti­fi­zier­te die Mys­ti­ke­rin Eli­sa­beth aus dem Be­ne­dik­ti­ner­klos­ter Schö­nau die Ver­stor­be­nen als Ge­fähr­ten und Ge­fähr­tin­nen der hei­li­gen Ur­su­la und be­rei­cher­te de­ren Ge­fol­ge um mehr als 200 na­ment­lich be­nenn­ba­re Mär­ty­rer(in­nen), de­ren Re­li­qui­en nun er­ho­ben, ins Deut­zer Klos­ter ge­bracht und ver­ehrt wer­den konn­ten. Im Zu­sam­men­hang mit den Gra­bun­gen wur­de ei­ne Lis­te der in Stein ge­haue­nen Ti­tu­li auf­ge­stellt, die Stein­ta­feln selbst hin­ge­gen sind fast gänz­lich ver­lo­ren. Tat­säch­lich han­del­te es sich – so­weit sich das heu­te re­kon­stru­ie­ren lässt – in vie­len Fäl­len wohl um früh­christ­li­che Grab­in­schrif­ten, die falsch ent­zif­fert und er­gänzt wur­den. Dass da­ne­ben auch Ti­tu­li gänz­lich neu an­ge­fer­tigt wur­den, be­zeugt der Fund ei­ner (mitt­ler­wei­le ver­lo­re­nen) Ta­fel, de­ren zwei­fel­los mit­tel­al­ter­li­che In­schrift sich iden­tisch in der Lis­te der Ti­tu­li fin­det: S(an)c(t)a Ur­sumaria v(ir­go) fi­lia Aba­ri­si du­cis (Die hei­li­ge Jung­frau Ur­sumaria, Toch­ter des Her­zogs Aba­ri­sus).[19] 

St. Georg, Krypta, Kapitell, um 1067, Foto: Gerda Hellmer. (AWK NRW, Arbeitsstelle Inschriften)

 

Auch in spä­te­ren Jahr­hun­der­ten wur­den im Be­reich christ­li­cher Kir­chen Ge­bei­ne aus rö­mi­scher Zeit auf­ge­fun­den und als Re­li­qui­en in­ter­pre­tiert. In St. Ma­ria im Ka­pi­tol wur­den 1303 mensch­li­che Ge­bei­ne frei­ge­legt und in zwei stei­ner­ne Sar­ko­pha­ge um­ge­bet­tet. Sie ste­hen noch heu­te im Um­gang der Ost­kon­che und tra­gen den gleich­lau­ten­den, nur mit klei­nen Ab­wei­chun­gen aus­ge­führ¬­ten Text: + IN HOC SAR­CO­PHA­GO RE­CON­DI­TE SVNT RE­LI­QVIE THE­BAEO­RVM MAR­TYRVM ET SANC­TARVM VIR­GINVM (In die­sem Sar­ko­phag wer­den Re­li­qui­en der The­bäi­schen Mär­ty­rer und der Hei­li­gen Jung­frau­en ver­wahrt).[20] In St. Ge­re­on wur­de im be­gin­nen­den 13. Jahr­hun­dert gleich ei­ne gan­ze Rei­he von Sar­ko­pha­gen mit mensch­li­chen Ge­bei­nen ge­füllt. Die In­schrif­ten, die in die Gie­bel­sei­te oder in die Deck­plat­te der stei­ner­nen Sar­ko­pha­ge ein­ge­hau­en wur­den, be­le­gen nicht nur, dass man auch in die­sen sterb­li­chen Über­res­ten Re­li­qui­en der The­bäi­schen Mär­ty­rer er­kann­te, son­dern ge­ben zu­dem an, wie vie­le von ih­nen in den je­wei­li­gen Sar­ko­phag um­ge­bet­tet wor­den wa­ren – fünf, sie­ben, zwölf, so­gar 20 Kör­per sol­len es ge­we­sen sein. Ei­ne wei­te­re (ver­lo­re­ne) In­schrift in St. Ge­re­on führ­te den Gläu­bi­gen in acht Ver­sen, die über­wie­gend an lit­ur­gi­sche Ge­sän­ge zum Al­ler­hei­li­gen­fest und zum Fest des hl. Ge­re­on an­knüpf­ten, den her­vor­ra­gen­den Stel­len­wert der hei­li­gen Mär­ty­rer für den Glau­ben und die Kir­che buch­stäb­lich vor Au­gen:

Ful­get in glo­ria pre­tio­sus san­gu­is eo­rum.
No­mi­na eo­rum in li­bro vi­tae scrip­ta ma­nent.
De­us Sa­baoth in vi­ta<e> spe­cu­lo re­gat eos.
Ho­rum so­cieta­te exul­tat coel­um.
Heredi­tas eo­rum in ae­ter­num erit.
Glo­ria ha­ec est om­ni­bus sanc­tis ei­us.
Glo­rio­sus mar­tyrum san­gu­is ex­or­nat eccle­si­am.
Glo­ri­am eo­rum pron­un­ti­at om­nis eccle­sia.  </e>

(Ihr kost­ba­res Blut strahlt vol­ler Ruhm, ih­re Na­men blei­ben im Buch des Le­bens ein­ge­schrie­ben. Der Gott der Heer­scha­ren mö­ge sie im Spie­gel ih­res (hei­li­gen) Le­bens lei­ten, in ih­rer Ge­mein­schaft mö­ge der Him­mel jauch­zen! Ihr Er­be wird in al­le Ewig­keit be­ste­hen. Die­ser Ruhm wird all sei­nen Hei­li­gen zu­teil. Das ruhm­rei­che Blut der Mär­ty­rer schmückt die Kir­che, die gan­ze Kir­che ver­kün­det ih­ren Ruhm).[21] 

7. Stets im Bilde – Bildbeischriften

Be­red­ter Aus­druck der Hei­li­gen­ver­eh­rung sind auch zahl­rei­che Bil­der­zy­klen in Köl­ner Kir­chen, die Le­ben und Ta­ten der Hei­li­gen dar­stel­len, er­klärt und kom­men­tiert durch In­schrif­ten, die meist am un­te­ren Bild­rand an­ge­bracht wur­den. Da­zu ge­hö­ren der weit­ge­hend ver­lo­re­ne Bru­no­zy­klus in der Kar­tau­se (ent­stan­den 1486-1489), der 20 Ge­mäl­de um­fas­sen­de Se­ve­rin­szy­klus in St. Se­ve­rin (um 1500) so­wie meh­re­re Zy­klen zum Le­ben und Mar­ty­ri­um der hei­li­gen Ur­su­la. Un­ter den letzt­ge­nann­ten be­fin­det sich ei­ne Se­rie von 20 Bil­dern aus dem Jahr 1456, de­ren er­läu­tern­de Bild­un­ter­schrif­ten in deut­schen Reim­ver­sen ab­ge­fasst sind und die ei­ne zeit­li­che Lü­cke in der hand­schrift­li­chen Über­lie­fe­rung der volks­sprach­li­chen Vers­le­gen­de zur Ge­schich­te der hei­li­gen Ur­su­la über­brü­cken.[22] 

Be­son­ders reich­hal­tig wur­de das Klos­ter der Kar­me­li­ter im 16. Jahr­hun­dert mit Bil­dern aus­ge­stat­tet: Im Ka­pi­tel­saal hing au­ßer 20 Por­träts her­aus­ra­gen­der Or­dens­mit­glie­der auch ein Zy­klus von 20 Bil­dern mit über­wie­gend le­gen­da­ri­schen Epi­so­den aus der Ge­schich­te des Or­dens, und die Kam­mern des Pro­vin­zi­als schmück­ten 13 Bil­der mit Dar­stel­lun­gen be­rühm­ter Ur­teils­sprü­che. Al­le die­se Ge­mäl­de sind ver­lo­ren, und oh­ne ih­re In­schrif­ten wüss­ten wir nichts über sie. Doch die Na­men und Ster­be­da­ten der Kar­me­li­ter­pa­tres sind eben­so wie die in la­tei­ni­sche Ver­se ge­fass­ten Bild­un­ter¬­schrif­ten zu den sze­ni­schen Dar­stel­lun­gen in den his­to­rio­gra­phi­schen Quel­len des Or­dens über­lie­fert und er­mög­li­chen die Re­kon­struk­ti­on der Bild­the­men. Her­mann Weins­berg schil­dert die Ent­ste­hung ei­nes wei­te­ren Ge­mäl­de­zy­klus für den Kreuz­gang des Kar­me­li­ter­klos­ters, der die be­reits ge­nann­ten Bil­der­se­ri­en an Um­fang noch weit über­traf. Es han­del­te sich um Bil­der zu bib­li­schen The­men aus der Werk­statt de­s Bar­tho­lo­mä­us Bruyn, für de­ren Fi­nan­zie­rung der Kar­me­li­ter­pro­vin­zi­al ei­ne Viel­zahl von Spen­dern ge­won­nen hat­te, dar­un­ter auch Her­mann Weins­berg. Aus sei­nen Auf­zeich­nun­gen er­fah­ren wir et­li­che De­tails des Her­stel­lungs­pro­zes­ses, un­ter an­de­rem, dass je­de Sze­ne durch drei Ver­spaa­re er­läu­tert wur­de. Der Wort­laut die­ser Bild­bei­schrif­ten ist nicht über­lie­fert; Weins­berg be­rich­tet aber, dass auf je­dem Bild der ers­te Buch­sta­be der Ver­sin­schrift durch ro­te Far­be her­vor­ge­ho­ben war und die­se ro­ten Buch­sta­ben an­ein­an­der­ge­reiht Na­men und Ti­tel des Kar­me­li­ter­pro­vin­zi­als er­ga­ben. Milen­dunck, der His­to­rio­graph der Kar­me­li­ter, über­lie­fert den ge­nau­en Wort­laut die­ses Akrosti­chons: Ever­ar­dus Bil­li­cus co­lo­ni­en­sis theo­lo­gus pro­vin­cia­lis fra­trum car­me­l­i­tar­um am­bitum ta­bu­lis is­tis or­n­ari pro­cu­ra­vit (Eber­hard Billick, Köl­ner Theo­lo­ge, Pro­vin­zi­al der Kar­me­li­ter­brü­der, ließ den Kreuz­gang mit die­sen Ta­feln aus­schmü­cken). Da die­ser Text 103 Buch­sta­ben um­fasst und je­des Bild nur ei­nen die­ser Buch­sta­ben trug, darf man der Schil­de­rung des Je­sui­ten Da­ni­el Pa­pe­broch (1628-1714) Glau­ben schen­ken, der bei sei­nem Be­such in Köln 1660 im Kreuz­gang des Kar­me­li­ter­klos­ters über 100 Bil­der mit Dar­stel­lun­gen des Al­ten, vor al­lem aber des Neu­en Tes­ta­ments sah.

St. Maria im Kapitol, Reliquiensarkophag, Inschrift von 1303 oder wenig später, Foto: Gerda Hellmer. (AWK NRW, Arbeitsstelle Inschriften)

 

8. Stadt und Bürger

Köln war nicht nur die Stadt der Kir­chen, Hei­li­gen und Re­li­qui­en, son­dern auch ein kom­ple­xes Ge­mein­we­sen, Wirt­schafts­me­tro­po­le und po­li­ti­sches Zen­trum. Dass bis ins 13. Jahr­hun­dert der Erz­bi­schof als Stadt­herr fun­gier­te, fin­det in ei­ner von ihm in Auf­trag ge­ge­be­nen Ur­kun­den­in­schrift Aus­druck, die im Dom aus­ge­stellt, groß­for­ma­tig und her­vor­ra­gend aus­ge­führt ist, im öf­fent­li­chen In­ter­es­se heu­te aber den­noch ein Schat­ten­da­sein fris­tet. Ge­meint ist das Pri­vi­leg, das Erz­bi­schof En­gel­bert II. im Jah­re 1266 zu­guns­ten der Köl­ner Ju­den er­ließ und das nur als In­schrift, nicht aber in Form ei­ner Per­ga­men­tur­kun­de über­lie­fert ist.[23] In die et­wa zwei Me­ter ho­he und 94 Zen­ti­me­ter brei­te Kalk­stein­plat­te ist in ei­ner de­ko­ra­ti­ven Ma­jus­kel­schrift, ei­ner so­ge­nann­ten go­ti­schen Ma­jus­kel, ein 34 Zei­len um­fas­sen­der Text ein­ge­hau­en wor­den, des­sen Buch­sta­ben mit ei­ner dunk­len Pas­te ge­füllt wur­den, so dass sie sich vom hel­len Stein gut ab­he­ben. Der Erz­bi­schof be­stä­tigt den Köl­ner Ju­den das Recht, auf ih­rem Fried­hof Ver­stor­be­ne zu be­stat­ten, oh­ne da­für Zoll oder Steu­ern zah­len zu müs­sen, ver­bot die Voll­zie­hung von Blu­tur­tei­len auf oder ne­ben dem Fried­hof, si­cher­te ih­nen auf erz­bi­schöf­li­chem Ge­biet das Geld­leihmo­no­pol zu und be­stä­tig­te, dass sie nicht mehr Zöl­le und Ab­ga­ben zah­len muss­ten als die Chris­ten. Die­se Frei­hei­ten soll­ten AD PER­PET­VAM ME­MO­RI­AM IN PV­B­LI­CO AS­PECTV HO­MINVM (zum ewi­gen Ge­den­ken zur öf­fent­li­chen An­sicht der Men­schen) in Stein ein­ge­hau­en wer­den. Öf­fent­lich­keit und Dau­er­haf­tig­keit wa­ren dem­nach hier wie auch in an­de­ren Fäl­len die haupt­säch­li­chen Be­weg­grün­de da­für, ei­ne Ur­kun­de als In­schrift aus­zu­füh­ren. So fin­den sich Ur­kun­den­in­schrif­ten pro­mi­nen­ter Aus­stel­ler an gut sicht­ba­ren Or­ten zum Bei­spiel auch in Spey­er (Pri­vi­le­gi­en Kai­ser Hein­richs V., 1111, und Kai­ser Fried­richs I., 1182), Mainz (Pri­vi­leg des Erz­bi­schofs Adal­bert, 1135) und Worms (Pri­vi­leg Kai­ser Fried­richs I., 1184).[24] In die­sen Fäl­len exis­tier­te al­ler­dings zu­sätz­lich zur In­schrift ei­ne Per­ga­men­tur­kun­de. In Köln hin­ge­gen scheint man sich aus­schlie­ß­lich auf den halt­ba­ren Kalk­stein ver­las­sen zu ha­ben, der tat­säch­lich bis heu­te in bes­tem Zu­stand er­hal­ten ist.

Die Schutz­rech­te der Ju­den wur­den den­noch be­reits we­ni­ge Jahr­zehn­te nach Aus­stel­lung des Pri­vi­legs wie­der miss­ach­tet. Mit­te des 14. Jahr­hun­derts kam es auch in Köln zu blu­ti­gen Po­gro­men ge­gen die an­säs­si­gen Ju­den, und 1424 wur­den die­se end­gül­tig der Stadt ver­wie­sen. Die ar­chäo­lo­gi¬­schen Gra­bun­gen im Be­reich des ehe­ma­li­gen Ju­den­vier­tels vor dem Rat­haus ha­ben Fun­de zu Ta­ge ge­bracht, die ein­drucks­vol­le Ein­bli­cke in die Struk­tu­ren der jü­di­schen Ge­mein­de ge­wäh­ren. Da­zu ge­hö­ren auch mit­tel­al­ter­li­che In­schrif­ten, et­wa Ab­rech­nun­gen ei­nes Händ­lers auf aus­ge­dien­ten Schie­fer­ta­feln und das Frag­ment ei­nes in he­bräi­scher Schrift nie­der­ge­schrie­be­nen, aber in Jid­disch ver­fass­ten Tex­tes, wohl ei­nes Rit­te­re­pos.[25] 

Nach der Schlacht bei Worrin­gen 1288 ge­lang es der Stadt, sich zu­neh­mend von der erz­bi­schöf­li­chen Herr­schaft zu be­frei­en. An die tur­bu­len­ten Er­eig­nis­se er­in­nert ei­ne Schrift­ta­fel, die ur­sprüng­lich über dem Ein­gang der Bo­ni­fa­ti­us­ka­pel­le in der Se­ve­rin­stra­ße an­ge­bracht war und heu­te im Köl­ni­schen Stadt­mu­se­um auf­be­wahrt wird: An­no do­mi­ni m°cc lxxx viii fuit prae­li­um in wor­in­gen et hoc in sab­ba­to. An­no do­mi­ni m° cc lxix fuit co­lo­nia Tra­di­ta per fo­ra­men apud ul­re port­zen (Im Jah­re des Herrn 1288 fand in Worrin­gen ei­ne Schlacht statt, und zwar an ei­nem Sams­tag. Im Jah­re des Herrn 1269 [rich­tig: 1268] wur­de Köln durch ei­ne Öff­nung (in der Stadt­mau­er) bei der Ul­re­pfor­te preis­ge­ge­ben).[26] Der aus Köln ver­trie­be­ne Erz­bi­schof En­gel­bert II. hat­te dem Be­richt der Chro­nik de­s Gott­fried Ha­gen zu­fol­ge ei­nen An­woh­ner der Stadt­mau­er da­für be­zahlt, ein Loch in die Stadt­be­fes­ti­gung zu gra­ben, durch das die erz­bi­schöf­li­chen Sol­da­ten in der Nacht des 15. Ok­to­ber ein­drin­gen konn­ten, von den Bür­gern je­doch zu­rück­ge­drängt wur­den. 20 Jah­re spä­ter er­litt der Erz­bi­schof – nun­mehr Sieg­fried von Wes­ter­burg (Epis­ko­pat 1275-1297) – trotz der Un­ter­stüt­zung durch die Gra­fen von Gel­dern und Lu­xem­burg ei­ne emp­find­li­che Nie­der­la­ge ge­gen die Stadt Köln und ih­re Ver­bün­de­ten, die die Herr­schaft des Erz­bi­schofs über die Stadt Köln fak­tisch be­en­de­te.

Die Ka­pel­le wur­de zwi­schen 1298 und 1310 vom Rat der Stadt er­rich­tet, al­so we­ni­ge Jah­re nach dem Ge­sche­hen. Die In­schrift ist in ei­ner go­ti­schen Mi­nus­kel ein­ge­hau­en wor­den, ei­ner Schrift, die in Stein­in­schrif­ten in Deutsch­land ab et­wa 1320 nach­weis­bar ist. Sie ent­hält Ver­sa­li­en, das hei­ßt Groß­buch­sta­ben am Wort­an­fang, die erst ab der zwei­ten Hälf­te des 14. Jahr­hun­derts ver­wen­det und zu­nächst aus äl­te­ren Schrif­ten (der Ka­pi­ta­lis oder der go­ti­schen Ma­jus­kel) über­nom­men wur­den. Das T am Be­ginn von Tra­di­ta hin­ge­gen ist zwar aus der in der ro­ma­ni­schen und go­ti­schen Ma­jus­kel ge­läu­fi­gen run­den Form des Buch­sta­bens (ei­nem Bo­gen mit Deck­bal­ken) ab­ge­lei­tet; der Buch­sta­be ist aber auf­ge­löst, neu zu­sam­men­ge­setzt und da­durch ver­frem­det. Die Form passt al­so nicht ins 14. Jahr­hun­dert, son­dern in die zwei­te Hälf­te des 15. Jahr­hun­derts. Das­sel­be gilt für das A am Be­ginn des Wor­tes An­no, des­sen lin­ker Schaft durch ei­ne schlan­ke Pal­met­te er­setzt ist und das ähn­lich am Epi­taph für den 1461 ver­stor­be­nen Ar­nold von Clot­hin­gen in St. Ge­org zu fin­den ist. Die pa­läo­gra­phi­sche Ein­ord­nung der In­schrift in die zwei­te Hälf­te des 15. Jahr­hun­derts har­mo­niert mit der sprach­li­chen Form des Orts­na­mens wor­in­gen, die Mit­te des 15. Jahr­hun­derts erst­mals nach­weis­bar ist.

Das Selbst­be­wusst­sein der Stadt Köln spie­gelt sich in der Aus­ge­stal­tung des Rat­hau­ses wi­der. Der Lan­ge Saal (der spä­te­re Han­sa­saal) wur­de 1349 beim Brand des Ju­den­vier­tels schwer be­schä­digt und in den dar­auf­fol­gen­den 20 Jah­ren wie­der auf­ge­baut und aus­ge­schmückt. An der Nord­wand war der Kö­nig (wohl Karl IV.) mit sie­ben wei­te­ren Per­so­nen ab­ge­bil­det, von de­nen drei als sei­ne geist­li­chen Wäh­ler, al­so die Erz­bi­schö­fe von Köln, Mainz und Trier, iden­ti­fi­ziert wer­den konn­ten. Sie tru­gen Spruch­bän­der mit mah­nen­den Wor­ten: Mei­det ga­ve und has­set gie­rich­eit / want sei ver­dri­ven ge­rech­tig­keit („Mei­det Hast und Gier, denn sie ver­trei­ben die Ge­rech­tig­keit“), Rich­tet den ar­men als den rei­chen, / so steit das reich wer­dent­lich (Rich­tet den Ar­men eben­so wie den Rei­chen, so bleibt das Reich in Wür­de be­ste­hen); Lie­bet Gott vor al­len din­gen / so mach dem reich woll ge­lin­gen. Die Ma­le­rei­en der West­wand zeig­ten 23 wei­se Män­ner: Pro­phe­ten und wei­te­re Per­so­nen aus dem Al­ten Tes­ta­ment, an­ti­ke Dich­ter und Phi­lo­so­phen so­wie an­ti­ke und mit­tel­al­ter­li­che Herr­scher und ei­nen an­ony­men so­ge­nann­ten „Me­tris­ta“. Die Ma­le­rei­en selbst sind ver­lo­ren, die ur­sprüng­lich vor­han­de­nen Na­men­s¬bei­schrif­ten und die la­tei­ni­schen Ver­sin­schrif­ten sind je­doch seit dem 16. Jahr­hun­dert in Ab­schrif­ten über­lie­fert. In den Spruch­bei­schrif­ten wur­den Ein­tracht und Un­be­stech­lich­keit, vor al­lem aber ganz all­ge­mein ei­ne gu­te Re­gie­rung auf der Grund­la­ge von Ge­rech­tig­keit und Got­tes­furcht an­ge­mahnt. Auch als der Rats­saal in den zwi­schen 1407 und 1414 neu er­bau­ten Ratsturm ver­legt wur­de, plat­zier­te man im Vor­raum acht Pro­phe­ten­fi­gu­ren mit Spruch­bän­dern, auf de­nen un­ter an­de­rem die Sor­ge für das Ge­mein­wohl, gründ­li­che Be­ra­tung, ra­sche Um­set­zung der Be­schlüs­se und Ver­schwie­gen­heit als un­ab­ding­ba­re Ei­gen­schaf­ten gu­ter Rats­her­ren ge­nannt wur­den. Die Dar­stel­lun­gen und Tex­te am Köl­ner Rat­haus fü­gen sich in das Ge­samt­bild der Rat­hau­si­ko­no­gra­phie deut­scher Städ­te im Spät­mit­tel­al­ter ein. Die Text-Bild-Pro­gram­me, die sich ab dem 15. Jahr­hun­dert an den Rats- und Re­gi­ments­leh­ren ori­en­tie­ren, er­fuh­ren noch bis ins 17. Jahr­hun­dert hin­ein Er­gän­zun­gen und Än­de­run­gen. Un­ver­än­dert blieb aber ih­re Funk­ti­on: In ers­ter Li­nie dien­ten sie der Selbst­dar­stel­lung der Stadt und der Ver­mitt­lung ih­res Selbst­ver­ständ­nis­ses nach au­ßen.

Literatur

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Dom, Judenprivileg, oberer Teil, 1266, Foto: Helga Giersiepen. (AWK NRW, Arbeitsstelle Inschriften)

 
Zitationshinweis

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Giersiepen, Helga, Kölner Inschriften des Mittelalters – ein epigraphischer Streifzug, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/koelner-inschriften-des-mittelalters-%25E2%2580%2593-ein-epigraphischer-streifzug/DE-2086/lido/5e3abb72a64b03.64557303 (abgerufen am 29.03.2024)