„Vorsorgliche Umquartierung“. Die (Erweiterte) Kinderlandverschickung im Zweiten Weltkrieg

Gerhard E. Sollbach (Dortmund)

Mit Plakaten wurde Ende 1944 in rheinisch-westfälischen Städten für die Evakuierung der Kinder im Rahmen der KLV geworben. (Stadtarchiv Herne)

1. Erscheinung des modernen Luftkriegs

Zu den Kriegs­er­eig­nis­sen im Zwei­ten Welt­krieg auch im rhei­nisch-west­fä­li­schen In­dus­trie­ge­biet ge­hört die mas­sen­wei­se Eva­ku­ie­rung von Kin­dern im Rah­men der Er­wei­ter­ten Kin­der­land­ver­schi­ckung, kurz KLV ge­nannt. Sie wur­de auf­grund ei­nes durch Rund­schrei­ben vom 27.9.1940 ver­brei­te­ten „Füh­rer­be­fehl­s“ Adolf Hit­lers (1889-1945) an­ge­ord­net.[1]  Die­se Eva­ku­ie­rungs­maß­nah­me war sei­ner­zeit je­doch in ers­ter Li­nie aus psy­cho­lo­gi­schen Grün­den be­foh­len wor­den. Zu die­sem Zeit­punkt ahn­te näm­lich noch nie­mand und konn­te auch noch nie­mand ah­nen, was für ver­hee­ren­de Aus­ma­ße der am 15.5.1940 be­gon­ne­ne stra­te­gi­sche Luft­krieg der Al­li­ier­ten ge­gen das Deut­sche Reich im Ver­lauf des Kriegs an­neh­men wür­de. Mit Ein­rich­tung der KLV woll­te das Re­gime haupt­säch­lich be­ru­hi­gend auf die durch die zu­neh­men­den Luft­alar­me und die ers­ten Bom­ben­ab­wür­fe auf deut­sche Städ­te auf­ge­schreck­te Zi­vil­be­völ­ke­rung ein­wir­ken.[2] 

Nach der Ankunft aus der Tschechoslowakei im Hauptbahnhof in Bochum sitzen zwei der im Sommer 1943 im Rahmen der Schulevakuierung in das Sudentenland gekommenen Kindern auf ihren Habseligkeiten, 4. August 1946. (Bildarchiv Stadt Herne)

 

Die KLV wie auch die sons­ti­gen kriegs­be­ding­ten Eva­ku­ie­run­gen gro­ßen Stils der Zi­vil­be­völ­ke­rung im Zwei­ten Welt­krieg sind ei­ne Er­schei­nung der mo­der­nen, durch den mas­si­ven Ein­satz der Luft­waf­fe ge­gen zi­vi­le Zie­le ge­kenn­zeich­ne­ten Kriegs­füh­rung und wur­den da­mals erst­mals prak­ti­ziert. An­ders als noch im Ers­ten Welt­krieg, als sich das ei­gent­li­che Kampf­ge­sche­hen auf ei­ne mehr oder we­ni­ger brei­te Front­li­nie be­schränk­te, war im Zwei­ten Welt­krieg die Zi­vil­be­völ­ke­rung in Deutsch­land di­rekt und in ei­nem bis­her nie da ge­we­se­nen Aus­maß von dem Kampf­ge­sche­hen be­trof­fen.[3]  Die KLV war ei­ne Maß­nah­me der NS­DAP be­zie­hungs­wei­se soll­te es zu­min­dest nach dem Wil­len der obers­ten Par­tei- und Staats­füh­rung sein. Ih­re Durch­füh­rung über­nah­men die NSV (Na­tio­nal­so­zia­lis­ti­sche Volks­wohl­fahrt), die HJ (Hit­ler-Ju­gend) und der NSLB (NS-Leh­rer­bund). Wie es in dem Rund­schrei­ben vom 27.9.1940 aus­drück­lich hei­ßt, soll­te die Ak­ti­on je­doch auf der Grund­la­ge der Frei­wil­lig­keit durch­ge­führt wer­den. Zu den Städ­ten be­zie­hungs­wei­se Ge­bie­ten, für die im Hin­blick auf ih­re Luft­kriegs­ge­fähr­dung die Durch­füh­rung der KLV als ers­tes an­ge­ord­net wur­de, ge­hör­ten au­ßer Ber­lin und Ham­burg so­wie dem Nord­see­be­reich des heu­ti­gen Bun­des­lan­des Nie­der­sach­sen auch das rhei­nisch-west­fä­li­sche In­dus­trie­ge­biet.[4] 

Auf einem Bahnsteig des Hauptbahnhofs Gelsenkirchen warten die für eine KLV-Maßnahme angemeldeten Mädchen und Jungen auf die Ankunft des Sonderzugs, Januar 1941. (Stadtarchiv Gelsenkirchen)

 

2. KLV-Aufnahmegebiete

Das er­wähn­te Rund­schrei­ben vom 27.9.1940 leg­te als so ge­nann­te „Auf­nah­me­ge­bie­te“ be­zie­hungs­wei­se „Auf­nah­me­gau­e“ für die KLV-Maß­nah­men vor­wie­gend ab­ge­le­ge­ne, länd­li­che, viel­fach aber be­reits schon vom Frem­den­ver­kehr er­schlos­se­ne Ge­bie­te fest, und zwar zu­nächst Hes­sen, Ba­den/Würt­tem­berg, die da­ma­li­ge Baye­ri­sche Ost­mark, die Mark Bran­den­burg, Ober­do­nau (Ober­ös­ter­reich), Sach­sen, Schle­si­en, das Su­de­ten­land, Meck­len­burg, Thü­rin­gen und das Wart­he­land. Der Kreis der Auf­nah­me­ge­bie­te ist in der Fol­ge­zeit je­doch auf Grund der Ver­schär­fung und Aus­wei­tung des Luft­kriegs mehr­fach ver­än­dert und er­wei­tert wor­den. KLV-Ver­schi­ckun­gen er­folg­ten in im­mer wei­te­re und auch au­ßer­halb des Deut­schen Reichs­ge­biets (in den Gren­zen von 1933) ge­le­ge­ne Re­gio­nen: in das „Reichs­pro­tek­to­rat Böh­men und Mäh­ren“, nach Mäh­risch-Schle­si­en, Dan­zig-West­preu­ßen, in den Wart­he­gau so­wie in das aus dem pol­ni­schen Rest­staat ge­bil­de­te „Ge­ne­ral­gou­ver­ne­ment“, aber auch nach Lett­land, Dä­ne­mark, in die Nie­der­lan­de, nach Frank­reich (El­sass-Loth­rin­gen), in das Gro­ßher­zog­tum Liech­ten­stein, nach Un­garn, Bul­ga­ri­en und Ju­go­sla­wi­en be­zie­hungs­wei­se die seit En­de 1940 selbst­stän­di­ge und mit dem Deut­schen Reich ver­bün­de­te Slo­wa­kei.

Nach den wäh­rend des Krie­ges be­ste­hen­den (neu­en) Gren­zen des Deut­schen Reichs gal­ten Ös­ter­reich, das Su­de­ten­land, El­sass-Loth­rin­gen, Dan­zig-West­preu­ßen und der Wart­he­gau al­ler­dings nicht als Aus­land. Im Bal­kan­raum wur­den über­dies die KLV-La­ger vor al­lem in den gro­ßen deutsch­spra­chi­gen Sied­lungs­ge­bie­ten Sie­ben­bür­gen, Ba­nat, Batsch­ka, Fünf­kir­chen, Zips und an­de­ren ein­ge­rich­tet und hier die KLV aber zum Teil auch als Fa­mi­li­en­un­ter­brin­gung durch­ge­führt.[5]  

Auch mit solchen 'Erklärungen' wurde ab Ende 1943/Anfang 1944 in Städten des Rhein-Ruhrgebiets Druck auf die Eltern ausgeübt, ihre Kinder durch die KLV evakuieren zu lassen. (Stadtarchiv Gladbeck)

 

3. Die KLV als Binnenwanderung

Was En­de 1940 als ei­ne räum­lich be­grenz­te und - zu­mal sei­tens der deut­schen Füh­rung sei­ner­zeit mit kei­ner lan­gen Kriegs­dau­er ge­rech­net wur­de - auch nur als kurz­fris­tig vor­ge­se­he­ne, vor­wie­gend psy­cho­lo­gisch mo­ti­vier­te Vor­sor­ge­maß­nah­me be­gann, soll­te sich bis Kriegs­en­de zu ei­ner der grö­ß­ten Bin­nen­wan­de­run­gen in der bis­he­ri­gen Ge­schich­te der Mensch­heit aus­wei­ten. Im Ver­lauf des Kriegs und als Re­ak­ti­on auf die im­mer ver­hee­ren­de­ren Bom­ben­an­grif­fe auf die deut­schen Städ­te sind näm­lich sämt­li­che Groß­stadt­re­gio­nen im west­li­chen Reichs­ge­biet von der KLV-Ak­ti­on er­fasst wor­den.[6] 

Über den zah­len­mä­ßi­gen Um­fang der im Rah­men der KLV wäh­rend des Zwei­ten Welt­kriegs eva­ku­ier­ten Kin­der gibt es al­ler­dings kei­ne ge­si­cher­ten An­ga­ben. Ei­nem Ver­merk des Mi­nis­te­ri­al­rats Schmidt-Schwar­zen­berg über ei­ne Be­spre­chung mit dem Reichs­haupt­amts­lei­ter Wil­ly Dam­son (1894-1944) von der Reichs­schatz­meis­te­rei der NS­DAP vom 20.2.1941 zu­fol­ge wa­ren bis da­hin auf Reichs­ebe­ne rund 320.000 Kin­der durch die KLV ver­schickt wor­den.[7]  Ins­ge­samt sol­len nach Schät­zun­gen des letz­ten Lei­ters der Reichs­stel­le-KLV, Ger­hard Da­bel (ge­bo­ren 1916), im Deut­schen Reich bis Kriegs­en­de et­wa 2,8 Mil­lio­nen Mäd­chen und Jun­gen im Al­ter von zehn bis 18 Jah­ren in bis zu 9.000 KLV-La­ger ver­schickt wor­den sein. Da­zu kä­men schät­zungs­wei­se noch et­wa 3 Mil­lio­nen im Rah­men der KLV eva­ku­ier­te sechs- bis zehn­jäh­ri­ge Kin­der, Klein­kin­der und Müt­ter.[8]  Neue­re Un­ter­su­chun­gen ge­hen je­doch von ei­ner nied­ri­ge­ren Ge­samt­zahl der KLV-Ver­schick­ten aus. Nach ei­ner der jüngs­ten Ver­öf­fent­li­chun­gen soll die aber im­mer­hin noch ge­wal­ti­ge Zahl von über 2 Mil­lio­nen Kin­dern im Rah­men der KLV wäh­rend des Zwei­ten Welt­kriegs "um­quar­tiert" wor­den sein, wie der amt­li­che Aus­druck da­mals hieß.[9] 

Polizeiverordnung betreffend die Verlegung von Schulen aus luftkriegsbedrohten Orten des Regierungsbezirks Düsseldorf, herausgegeben vom Oberbürgermeister als Ortspolizeibehörde der Stadt Oberhausen, 7.7.1943. (Stadtarchiv Oberhausen)

 

4. Drei Gruppen innerhalb der KLV

Bei den von der KLV er­fass­ten Per­so­nen un­ter­schied man von An­fang an drei Grup­pen: 1. Müt­ter mit Klein­kin­dern, die vor­nehm­lich auf dem Land bei Fa­mi­li­en Un­ter­kunft fan­den, 2. Kin­der bis zu zehn Jah­ren, die aus­schlie­ß­lich in so ge­nann­te Pfle­ge- oder Gast­fa­mi­li­en ge­ge­ben wur­den und die Schu­le am Auf­nah­me­ort be­such­ten, und 3. Ju­gend­li­che ab zehn Jah­ren bis zum je­wei­li­gen Schul­ab­schluss, die mög­lichst klas­sen- oder schul­wei­se ver­schickt und grund­sätz­lich in KLV-La­gern un­ter­ge­bracht und dort auch von den mit­ver­schick­ten Lehr­kräf­ten ih­rer Hei­mat­schu­le be­zie­hungs­wei­se ih­res Hei­mat­orts un­ter­rich­tet wer­den soll­ten.[10] 

Schulkinder mit der Verschickungskarte um den Hals besteigen in Wuppertal-Elberfeld einen KLV-Schulevakuierungs-Zug, Sommer 1943. (Stadtarchiv Wuppertal)

 

Bei den als La­ger die­nen­den Un­ter­künf­ten han­del­te es sich um die un­ter­schied­lichs­ten Ein­rich­tun­gen hin­sicht­lich Art und Grö­ße. Sie reich­ten von klei­nen Pen­sio­nen bis zu gro­ßen Ho­tels, von ein­fa­chen Ju­gend­her­ber­gen bis zu kom­for­ta­blen Kurs­a­na­to­ri­en.[11]  Nach­dem man ab dem (Früh-)Som­mer 1943 im Rah­men der Räu­mung luft­kriegs­be­droh­ter Städ­te zur Ver­le­gung gan­zer Schul­sys­te­me über­ging, war an­ge­sichts der ge­wal­ti­gen Zah­len zu ver­schi­cken­der Kin­der ei­ne voll­stän­di­ge la­ger­mä­ßi­ge Un­ter­brin­gung aber end­gül­tig il­lu­so­risch ge­wor­den. Da­her muss­ten auch die über Zehn­jäh­ri­gen häu­fig in Fa­mi­li­en­pfle­ge­stel­len un­ter­ge­bracht wer­den.[12]  Doch gab es ge­ra­de in aus­ge­spro­che­nen Fe­ri­en- und Kur­or­ten Pro­ble­me, ge­nü­gend Pri­vat­quar­tie­re für die ver­schick­ten Kin­der und Ju­gend­li­chen zu be­schaf­fen. Wie bei­spiels­wei­se die Schü­ler der seit En­de Au­gust 1943 nach Bad Mer­gen­t­heim in Würt­tem­berg ver­leg­ten Duis­bur­ger Stein­bart-Ober­schu­le er­leb­ten, nah­men die In­ha­ber von Pen­sio­nen un­d ­die­je­ni­gen Fa­mi­li­en, die Zim­mer zur Ver­fü­gung hat­ten, all­ge­mein lie­ber gut zah­len­de Kur­gäs­te auf.

Für den Trans­port al­ler drei KLV-Grup­pen so­wie au­ßer­dem für die Un­ter­brin­gung der vor­schul­pflich­ti­gen Kin­der und der Kin­der der ers­ten vier Schul­jah­re in den Pfle­ge- be­zie­hungs­wei­se Gast­fa­mi­li­en war die NSV zu­stän­dig. Um die Un­ter­brin­gung der Kin­der vom fünf­ten Schul­jahr an küm­mer­te sich da­ge­gen die HJ.

Streng vertrauliches Rundschreiben vom 21. Juni 1943, in dem die von Baldur von Schirach als „Beauftragter des Führer für die KLV“ angeordnete Evakuierung von Schulen im Rahmen der KLV mitgeteilt wird (Anfang). (Privatbesitz)

 

5. Zwei Phasen

Die KLV-Ak­ti­on im Zwei­ten Welt­krieg weist zwei zu un­ter­schei­den­de Pha­sen auf. In der ers­ten, von En­de 1940/An­fang 1941 bis zum Früh­jahr/Som­mer 1943 rei­chen­den Pha­se, er­folg­te die Teil­nah­me an der KLV nicht nur in der Theo­rie, son­dern weit­ge­hend auch in der Pra­xis auf­grund frei­wil­li­ger Mel­dung. Da je­doch zu­meist nur ei­ni­ge Mäd­chen und Jun­gen aus ein­zel­nen Klas­sen für die KLV ge­mel­det wur­den, kam es in die­ser Zeit erst ge­gen En­de und nur in Ein­zel­fäl­len zur Ver­schi­ckung gan­zer Klas­sen oder gar Schu­len. Das än­der­te sich in der zwei­ten Pha­se ab dem Früh­jahr/Som­mer 1943. Nun­mehr er­folg­te als Re­ak­ti­on auf die sich ver­schär­fen­de al­li­ier­te Luf­tof­fen­si­ve im Rah­men der noch­mals er­wei­ter­ten KLV ver­stärkt die be­reits in dem Rund­schrei­ben vom 27.9.1940 als wün­schens­wert be­zeich­ne­te Ver­le­gung gan­zer Klas­sen und Schu­len auch tat­säch­lich und in grö­ße­rem Um­fang. Die Rechts­grund­la­ge da­für bil­de­te ein vom 4.6.1943 da­tie­ren­des Rund­schrei­ben Bal­durs von Schi­rach (1907-1974) als „Be­auf­trag­ter des Füh­rers für die KLV“.[13] 

Abmarsch nach dem morgendlichen Flaggenappell der Jungen des KLV-Lagers „Haus Pilsen“ in Bad Luhaschowitz (Böhmen), 1943/1944. (Privatbesitz)

 

Dar­in wur­de fest­ge­stellt, dass die La­ge in den be­son­ders Luft­kriegs be­droh­ten Ge­bie­ten des Deut­schen Reichs „Maß­nah­men für den Schutz und die Er­zie­hung der Ju­gend“ er­for­de­re, die den bis­he­ri­gen Ein­satz der KLV er­wei­ter­ten und ver­stärk­ten. Um aber trotz der Aus­wei­tung der KLV ei­ne „ord­nungs­ge­mä­ße Schul­aus­bil­dun­g“ auch in Zu­kunft zu ge­währ­leis­ten, hei­ßt es dar­in wei­ter, soll­ten in Zu­kunft mög­lichst nur noch gan­ze Schu­len ver­schickt wer­den. Die An­ord­nung ei­ner sol­chen all­ge­mei­nen Schul­ver­le­gung in Luft­kriegs be­droh­ten Or­ten er­folg­te durch den zu­stän­di­gen Gau­lei­ter, und zwar auf­grund der ihm als Reichs­ver­tei­di­gungs­kom­mis­sar in sei­nem Gau­ge­biet zu­ste­hen­den Be­fug­nis, bei Ge­fahr di­rek­ter Kampf­ein­wir­kung in dem be­tref­fen­den Ge­biet Maß­nah­men zur Eva­ku­ie­rung der Zi­vil­be­völ­ke­rung zu ver­an­las­sen.[14] 

Morgen- und Flaggenappell des KLV-Jungenlagers „Alpenhof“ in Seefeld/Tirol der Mittelschule Essen-Altstadt, 1943/1944. (Privatbesitz)

 

Die prak­ti­sche Um­set­zung ge­schah bei­spiels­wei­se im Gau Es­sen, wo der Gau­lei­ter und Reichs­ver­tei­di­gungs­kom­mis­s­ar Jo­sef Ter­bo­ven En­de Ju­ni 1943 ­die ­Schlie­ßung und Ver­le­gung sämt­li­cher all­ge­mein bil­den­der Schu­len für be­stimm­te Städ­te an­ge­ord­net hat­te, auf die Wei­se, das der zu­stän­di­ge Re­gie­rungs­prä­si­dent in Düs­sel­dorf durch ei­nen Schnell­brief vom 30.6.1943 die Ober­bür­ger­meis­ter der be­trof­fe­nen Städ­te auf­for­der­te, „mit­ grö­ß­ter Be­schleu­ni­gun­g“ zur „För­de­rung der Schul­ver­le­gun­g“ ei­ne ent­spre­chen­de Po­li­zei­ver­ord­nung zu er­las­sen. Ein Mus­ter für ei­ne sol­che Po­li­zei­ver­ord­nung war dem Schrei­ben bei­ge­fügt. Gleich­zei­tig wur­den die Ober­bür­ger­meis­ter an­ge­wie­sen, auch „et­wai­ge Rechts­be­den­ken“ da­bei zu­rück­zu­stel­len.[15] 

Von der Schule ausgestellte Bestätigung der Anmeldung für eine KLV-Maßnahme, 21. April 1943. (Privatbesitz)

 

Ein nur zehn Ta­ge nach dem Rund­schrei­ben von Schi­rachs vom 4.6.1943 er­folg­ter Rund­er­lass des Reichs­mi­nis­ters für Wis­sen­schaft, Er­zie­hung und Volks­bil­dung ord­ne­te so­dann an, dass in den Or­ten im Luft­kriegs­ge­biet, aus de­nen al­le Schu­len ei­ner be­stimm­ten Schul­art im Rah­men der KLV ver­legt wor­den sei­en, der öf­fent­li­che Un­ter­richt der be­tref­fen­den Schul­art ein­ge­stellt wer­den müs­se.[16]  In den von die­ser Maß­nah­me be­trof­fe­nen Städ­ten war die Frei­wil­lig­keit der Teil­nah­me an der KLV weit­ge­hend theo­re­ti­scher Na­tur. Wer nicht die Mög­lich­keit be­saß, sei­ne Kin­der bei Ver­wand­ten oder Be­kann­ten in ei­ner nicht Luft­kriegs ge­fähr­de­ten Ge­gend un­ter­zu­brin­gen, muss­te sie, wenn er sich nicht des Ver­sto­ßes ge­gen die nach wie vor be­ste­hen­de ge­setz­li­che Schul­pflicht schul­dig ma­chen oder sei­nen Kin­dern die Fort­set­zung ih­rer Schul­bil­dung ver­weh­ren woll­te, zwangs­läu­fig mit ih­rer Schu­le in die KLV fah­ren las­sen. Hin­zu kam der von Par­tei und Be­hör­den auf die El­tern aus­ge­üb­te mehr oder we­ni­ger mas­si­ve Druck.

Mit den ge­schlos­se­nen Schu­len soll­ten nach Mög­lich­keit aber auch die nicht ar­beits­mel­de­pflich­ti­gen Müt­ter und die jün­ge­ren Ge­schwis­ter im Rah­men der „all­ge­mei­nen Um­quar­tie­run­g“ aus den be­trof­fe­nen Städ­ten ver­schickt wer­den.[17] 

6. Elternwiderstand und behördlicher Druck

Die KLV, vor al­lem aber die Schul­ver­le­gung, ist in der Be­völ­ke­rung auf weit ver­brei­te­te und teil­wei­se so­gar en­er­gi­sche Ab­leh­nung der El­tern ge­sto­ßen. „Der Wi­der­stand der El­tern­schaft ist er­heb­li­ch“, hei­ßt es in ei­nem Schrei­ben vom 4.5.1943 des Schul­rats für die Schul­auf­sichts­be­zir­ke Es­sen II und III an den zu­stän­di­gen Re­gie­rungs­prä­si­den­ten in Düs­sel­dorf.[18]  Im Volks­mund hieß die KLV da­her auch „Kin­der­land­ver­schlep­pun­g“. Der Wi­der­stand ge­gen die KLV war so­wohl po­li­tisch als auch re­li­gi­ös und für­sorg­lich mo­ti­viert.

Tagesdienstplan vom 24.10.1944 des KLV-Jungenlagers „Haus Pilsen“ in Bad Luhaschowitz (Böhmen) der Klassen 1 und 2 der Mittelschule Duisburg-Hamborn. (Privatbesitz)

 

In der An­fangs­zeit ha­ben zu­min­dest die hö­he­ren Staats- und Par­tei­stel­len aber tat­säch­lich dar­auf ge­ach­tet, dass bei den vor­sorg­li­chen Eva­ku­ie­rungs­maß­nah­men ge­ne­rell kein Zwang an­ge­wandt wur­de. So teil­te zum Bei­spiel der Re­gie­rungs­prä­si­dent in Müns­ter im Sep­tem­ber 1943 dem Schul­rat in Bot­trop auf des­sen An­fra­gen un­ter an­de­rem mit, dass ei­ne Be­stra­fung der El­tern, die sich wei­ger­ten, ih­re Kin­der zu ver­schi­cken, „nicht in Er­wä­gung ge­zo­gen (wird)“[19] . Spä­ter sind El­tern aber auch durch in­di­rek­ten wie auch di­rek­ten Druck be­zie­hungs­wei­se mit be­hörd­li­chen Zwangs­maß­nah­men ins­be­son­de­re lo­ka­ler Stel­len[20]  da­zu ge­drängt wor­den, ih­re Kin­der an der KLV teil­neh­men zu las­sen. Aus Ober­hau­sen et­wa wur­de im Spät­früh­jahr 1943 be­rich­tet, dass der Schul­lei­ter ei­ner dor­ti­gen Volks­schu­le im Rah­men der Wer­bung für die KLV al­le zwei Wo­chen die noch nicht zur Ver­schi­ckung ge­mel­de­ten Kin­der mit ih­ren El­tern zu sich vor­lud und zur Teil­nah­me an der KLV dräng­te. Da­mit er­füll­te er aber auch ei­ne An­wei­sung des zu­stän­di­gen Schul­rats, der sich laut An­ga­be in der Schul­chro­nik „eben­falls für ei­ne schnel­le und voll­stän­di­ge Eva­ku­ie­rung der Schul­ju­gend voll und ganz ein­setz­te“.[21] 

Elternbrief der Erweiterten Kinderlandverschickung im NS-Gau Württemberg-Hohenzollern, Juli 1941. (Privatbesitz)

 

Vor al­lem, als im Früh­jahr/Som­mer 1943 die „ge­schlos­se­ne Um­quar­tie­run­g“ al­ler all­ge­mein bil­den­den Schu­len in den Ruhr­ge­biets­städ­ten er­folg­te, wur­de sei­tens der zu­stän­di­gen Stel­len kein Ar­gu­ment und kein Mit­tel aus­ge­las­sen, um die El­tern zur Teil­nah­me an die­ser bis zum Schluss zu­min­dest for­mal frei­wil­li­gen Ak­ti­on zu ver­an­las­sen. So ist zum Bei­spiel in Bo­chum ver­sucht wor­den, das städ­ti­sche Ver­wal­tungs­per­so­nal, so­weit es Kin­der hat­te, durch Ein­schüch­te­rung da­zu zu be­we­gen, sei­ne Kin­der durch die KLV ver­schi­cken zu las­sen. Zu die­sem Zweck for­der­te der Ober­bür­ger­meis­ter der Stadt Bo­chum in ei­nem Rund­schrei­ben vom 16.10.1943 al­le De­zer­nen­ten, Amts­vor­ste­her und Dienst­stel­len­lei­ter auf, bei sämt­li­chen ver­hei­ra­te­ten Be­am­ten, An­ge­stell­ten und Ar­bei­tern ih­res Zu­stän­dig­keits­be­reichs fest­stel­len zu las­sen, ob sie Kin­der hät­ten, und wenn ja, wo sich die­se zur Zeit be­fän­den. Die Lis­ten wa­ren dem Ober­bür­ger­meis­ter ein­zu­rei­chen. Die­ses Vor­ge­hen er­folg­te, wie es deut­lich dro­hend in dem Schrei­ben hei­ßt, „um ei­nen Über­blick zu be­kom­men, in­wie­weit aber auch städ­ti­sche Be­am­te, An­ge­stell­te und Ar­bei­ter ge­gen die­se Maß­nah­men [= Schul­ver­le­gung durch die KLV] ver­sto­ßen ha­ben“. Am 21.12.1944 wur­de die Ak­ti­on wie­der­holt. Hier hei­ßt es in dem Rund­schrei­ben zur Be­grün­dung noch un­miss­ver­ständ­li­cher, es sol­le auf die­sem Weg er­mit­telt wer­den, in wel­chem Aus­maß auch von städ­ti­schen Be­diens­te­ten die an­ge­ord­ne­ten vor­sorg­li­chen Eva­ku­ie­rungs­maß­nah­men „sa­bo­tier­t“ wor­den sei­en.[22] 

„Junge Heimat“, Heft 3, 1941. Die Lesehefte wurden von der Dienststelle Kinderlandverschickung in Berlin für die Lesestunde in den KLV-Lagern herausgegebenen und enthielten eine Mischung aus Unterhaltung und politischer Belehrung. (Privatbesitz)

 

7. Auswege

Al­ler­orts in den von der dro­hen­den oder be­reits be­gon­ne­nen Schul­ver­le­gung be­trof­fe­nen Ruhr­ge­biets­städ­ten ha­ben El­tern im Früh­jahr und Som­mer 1943 aber auch ver­sucht, ih­re Kin­der vor der KLV da­durch zu be­wah­ren, dass sie die­se in von der Schul­schlie­ßung nicht be­rühr­te Nach­bar­or­te um­mel­de­ten. So be­rich­te­te der Schul­rat von Es­sen V und VI am 8.9.1943 an den Ober­bür­ger­meis­ter, dass „sehr vie­le El­tern“ in den Vor­mo­na­ten ih­re schul­pflich­ti­gen Kin­der auf der­ar­ti­ge Wei­se in Volks­schu­len be­nach­bar­ter Or­te, un­ter an­de­rem in Kett­wig und Al­ten­dorf (heu­te bei­de Stadt Es­sen), un­ter­ge­bracht hät­ten. Nach den Er­kennt­nis­sen des Schul­rats han­del­te es sich da­bei je­doch häu­fig um rei­ne Schein-Um­mel­dun­gen, und die Schul­kin­der leg­ten tat­säch­lich je­den Tag den Schul­weg vom El­tern­haus in Es­sen zu dem neu­en Schul­ort zu­rück. Da­ne­ben wur­de auch hier be­ob­ach­tet, dass „sehr vie­le Kin­der“ aus der KLV nach Es­sen zu­rück­kehr­ten.[23] 

Sextanerinnen (5. Klasse) der aus Gelsenkirchen-Buer evakuierten Oberschule für Mädchen erhalten in ihrem KLV-Lager in Mallnitz/Kärnten Unterricht im Freien, Sommer 1943. (Privatbesitz)

 

Ein an­de­rer - le­ga­ler - Aus­weg für die El­tern war, ih­re Kin­der zu Ver­wand­ten in nicht Luft­kriegs be­droh­te oder von der Räu­mung nicht er­fass­te Or­te und Ge­gen­den zu brin­gen. Ei­ne der­ar­ti­ge Ver­wand­ten­ver­schi­ckung (so ge­nann­te „freie Ver­schi­ckun­g“) wur­de von der Staats- und Par­tei­füh­rung wie auch von der KLV-Or­ga­ni­sa­ti­on durch­aus be­grü­ßt und un­ter­stützt. So wur­den in der von dem Ober­bür­ger­meis­ter der Stadt Ober­hau­sen zur Be­för­de­rung der KLV-Schul­ver­le­gung er­las­se­nen ört­li­chen Po­li­zei­ver­ord­nung vom 7.7.1943 die El­tern auf­ge­for­dert, nach der er­folg­ten Schlie­ßung sämt­li­cher all­ge­mein bil­den­der Schu­len in der Stadt ih­re Kin­der ent­we­der für die KLV-Ak­ti­on an­zu­mel­den, „oder bei Ver­wand­ten aus­wärts un­ter­zu­brin­gen“.[24]  In Fäl­len der Pri­vat-Eva­ku­ie­rung zu Ver­wand­ten al­ler drei für die KLV in Fra­ge kom­men­den Grup­pen leis­te­te die KLV-Or­ga­ni­sa­ti­on da­her prak­ti­sche und nicht zu­letzt fi­nan­zi­el­le Hil­fe, un­ter an­de­rem durch die Über­nah­me der Rei­se­kos­ten.[25]  Nach ei­nem Rund­er­lass vom 11.8.1943 des Reichs­mi­nis­ters des In­nern soll­te bei al­len Eva­ku­ie­rungs­maß­nah­men aus den Luft­kriegs ge­fähr­de­ten Ge­bie­ten des Reichs und so­mit auch bei den im Rah­men der Ver­wand­ten­hil­fe er­fol­gen­den Ver­schi­ckun­gen über­dies der Be­griff der Ver­wandt­schaft nicht eng, son­dern „nach dem land­läu­fi­gen Sprach­ge­brauch“ aus­ge­legt wer­den.[26]  Die­se Be­stim­mung ha­ben sich zahl­rei­che El­tern zu­nut­ze ge­macht und ih­re Kin­der auch zu an­geb­li­chen Ver­wand­ten in Si­cher­heit ge­bracht.

KLV-Informationsblatt für die Eltern, Ende 1940. (Privatbesitz)

 

8. Keine totale Verschickung

Tat­säch­lich sind in den akut Luft­kriegs be­droh­ten und von ei­nem Räu­mungs­be­fehl ein­schlie­ß­lich der Schu­le­va­ku­ie­rung be­trof­fe­nen Städ­ten wäh­rend des Kriegs aber zahl­rei­che schul­pflich­ti­ge Volks­schul­kin­der und auch nicht mehr schul­pflich­ti­ge Schü­le­rin­nen und Schü­ler der Mit­tel- so­wie Ober­schu­len trotz al­ler An­ord­nun­gen und Dro­hun­gen ein­fach von ih­ren El­tern von der KLV zu­rück- und zu Hau­se be­hal­ten wor­den. Auch die im Früh­jahr 1943 ein­set­zen­den schwe­ren Luft­an­grif­fe auf das rhei­nisch-west­fä­li­sche In­dus­trie­ge­biet ver­moch­ten of­fen­bar so­gar in der Gau­haupt­stadt des NS-Gaus West­fa­len-Süd, Bo­chum, die skep­ti­sche Hal­tung vie­ler El­tern ge­gen­über der KLV nicht voll­stän­dig zu be­sei­ti­gen. Nach den zu er­mit­teln­den Zah­len sind im Ver­lauf des Kriegs aus der Stadt Bo­chum näm­lich nur et­wa 40 Pro­zent der Schul­kin­der durch die KLV ver­schickt wor­den. Ein et­wa gleich gro­ßer Pro­zent­satz, rund 16.000 Schul­kin­der, wur­de im Rah­men der so ge­nann­ten „frei­en Um­quar­tie­rung in Selbst­hil­fe“, vor­wie­gend in Form der Ver­brin­gung zu Ver­wand­ten und Be­kann­ten, in nicht Luft­kriegs ge­fähr­de­te Ge­bie­te ge­bracht. In der Stadt selbst ver­blie­ben dann aber bis zum Kriegs­en­de - wi­der­recht­lich - im­mer noch et­wa 6.000 Schul­kin­der, die na­tür­lich auch kei­nen Un­ter­richt er­hiel­ten.[27]  Der An­teil von bis zu et­wa 50 Pro­zent der in die KLV ver­schick­ten Schü­ler­schaft und von ei­nem et­wa gleich gro­ßen Pro­zent­satz der durch pri­va­te Eva­ku­ie­rung in „si­che­re“ Ge­bie­te Aus­ge­wi­che­nen dürf­te ei­ne weit ver­brei­te­te Si­tua­ti­on dar­stel­len.[28] 

Ei­ne voll­stän­di­ge Eva­ku­ie­rung der Kin­der, auch der nicht schul­pflich­ti­gen, hat es in kei­ner von der all­ge­mei­nen Räu­mung und da­mit ver­bun­de­nen Schul­ver­le­gung be­trof­fe­nen Stadt in der rhei­nisch-west­fä­li­schen Re­gi­on ge­ge­ben. In Gel­sen­kir­chen-Buer zum Bei­spiel wei­ger­ten sich nach amt­li­chen An­ga­ben vom 23.8.1943 die El­tern von ins­ge­samt 37 Pro­zent der Schü­le­rin­nen und Schü­ler an den ört­li­chen Volks-, Mit­tel- und hö­he­ren Schu­len rund­weg, ih­re Kin­der im Rah­men der KLV ver­schi­cken zu las­sen.[29]  Der SD-Be­richt vom 10.2.1944 über „Neue Er­fah­run­gen bei der Eva­ku­ie­rung der Kin­der aus den Luft­kriegs­ge­bie­ten und der Ver­le­gung der Schu­len“ stellt dann auch nüch­tern fest, dass trotz der vor­aus­ge­gan­ge­nen mehr­wö­chi­gen nach­drück­li­chen Wer­be­kam­pa­gne von Par­tei, HJ, den Dienst­stel­len der KLV und den Schu­len für die Teil­nah­me an der KLV sich im­mer noch „ein er­heb­li­cher Teil“ der El­tern nicht zur Ver­schi­ckung ih­rer Kin­der be­reit fand.[30] 

9. Die KLV als fürsorglicher Akt?

Der Reichsleiter und „Beauftragte des Führers für die KLV“, Baldur von Schirach, und der Reichsjugendführer Arthur Axmann beim Besuch von Kindern in der KLV, 1941. (Privatbesitz)

 

9.1 Erholung und Schutz

Von der NS-Pro­pa­gan­da wur­de die KLV-Maß­nah­me lan­ge als ei­ne gro­ßar­ti­ge und gro­ßzü­gi­ge Frei­zeit- und Er­ho­lungs­maß­nah­me dar­ge­stellt.[31]  Ein im Som­mer 1943 in den Zei­tun­gen im rhei­nisch-west­fä­li­schen Ge­biet ver­öf­fent­lich­ter Be­richt pries die (Er­wei­ter­te) KLV als „ei­ne der grö­ß­ten so­zia­len Maß­nah­men“ der NS­DAP.[32]  Be­reits im Herbst 1941 hat­te der „Be­auf­trag­te des Füh­rers für die KLV“, Reichs­lei­ter Bal­dur von Schi­rach, die Ver­schi­ckungs­maß­nah­me als „das grö­ß­te Ju­gend­er­ho­lungs­werk der Welt“ be­zeich­net. Ex­akt die­ser Aus­druck „grö­ß­tes Ju­gend­er­ho­lungs­wer­k“ für die (Er­wei­ter­te) KLV fin­det sich auch in ei­ner am 14.9.1941 von dem Deut­schen Nach­rich­ten­bü­ro in Ber­lin ver­brei­te­ten Mel­dung.[33]  Auch als An­fang 1943 in den rhei­nisch-west­fä­li­schen Zei­tun­gen be­son­ders eif­rig für die Teil­nah­me an der KLV ge­wor­ben wur­de, stan­den der Fe­ri­en- und Er­ho­lungs­cha­rak­ter der Ver­schi­ckung im­mer noch im Vor­der­grund. Wie in­ten­siv in der Pres­se sei­ner­zeit für die Teil­nah­me an der KLV-Ak­ti­on ge­wor­ben wur­de, be­zeugt un­ter an­de­rem die Fest­stel­lung, dass al­lein die „Na­tio­nal-Zei­tun­g“ in Es­sen wäh­rend der vier Jah­re ins­ge­samt rund 2.000 Bei­trä­ge zum The­ma KLV ver­öf­fent­lich­te.[34] 

Doch ab Herbst 1944 wur­de als Re­ak­ti­on auf die sich für Deutsch­land zur Ka­ta­stro­phe ent­wi­ckeln­den Luft­kriegs­la­ge in der KLV-Wer­bung der Luft­schutz­cha­rak­ter der Ver­schi­ckung di­rekt aus­ge­spro­chen und auch her­aus­ge­stellt. Zu­gleich ge­stal­te­te sich die Wer­bung im­mer ag­gres­si­ver.[35]  Vor al­lem auch in der Rhein-Ruhr-Re­gi­on wur­de nun­mehr un­ter an­de­rem mit Hil­fe von ein­dring­li­chen Pla­ka­ten und Flug­blät­tern un­ter Hin­weis auf die gro­ße Ge­fahr ei­nes wei­te­ren Ver­blei­bens in den ge­fähr­de­ten Städ­ten mas­siv für ei­ne Ver­schi­ckung der Kin­der ge­wor­ben be­zie­hungs­wei­se en­er­gisch da­zu auf­ge­for­dert. So ver­kün­de­te ein Pla­kat auf blut­ro­tem Hin­ter­grund: „Der Luft-Ter­ror geht wei­ter - Müt­ter schafft Eu­re Kin­der fort!“.[36]  Ein Hand­zet­tel mit der fett und groß ge­druck­ten Über­schrift „An al­le, die es an­geh­t“ en­det mit der op­tisch eben­so her­vor­ge­ho­be­nen Auf­for­de­rung an die El­tern „Ret­tet recht­zei­tig das Le­ben Eu­rer Kin­der! Bringt Eu­re Kin­der fort!“.[37] 

9.2 NS-ideologische Erziehung

Doch we­der die Er­ho­lung noch der Schutz der Kin­der wa­ren für das NS-Re­gime der ei­gent­li­che und vor­ran­gi­ge Zweck der KLV-Maß­nah­me. Die­se As­pek­te wur­den nur zwangs­läu­fig durch die Kriegs­er­eig­nis­se in den Vor­der­grund ge­rückt. Nach dem Wil­len der NS-Macht­ha­ber soll­te die KLV vor al­lem der ge­ziel­ten und in­ten­si­ven welt­an­schau­li­chen Er­zie­hung der Ju­gend im Sin­ne des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus die­nen. Dass die di­rek­te NS-welt­an­schau­li­che In­dok­tri­nie­rung der ei­gent­li­che Zweck der KLV-Ak­ti­on und auch vom Re­gime ge­wollt war, be­zeu­gen die 1940 erst­mals und 1943 in der vier­ten Aus­ga­be her­aus­ge­kom­me­nen „An­wei­sun­gen für Jun­gen- und Mä­del­la­ger“ der er­wei­ter­ten Kin­der­land­ver­schi­ckung. In ih­nen wird näm­lich auch die welt­an­schau­li­che Schu­lung in den KLV-La­gern de­tail­liert vor­ge­schrie­ben. Das von dem da­ma­li­gen Reichs­ju­gend­füh­rer Ar­thur Axmann (1913-1996) per­sön­lich un­ter­zeich­ne­te Vor­wort nennt zu­dem un­miss­ver­ständ­lich die ideo­lo­gi­sche Ziel­set­zung des KLV-La­ger­auf­ent­halts. Es hei­ßt dort: „Grund­satz un­se­rer La­ger­füh­rung der Er­wei­ter­ten Kin­der­land­ver­schi­ckung ist die Er­zie­hung des Pimp­fes und des Jung­mä­dels zur na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Volks­ge­mein­schaf­t“.

Der län­ger­fris­ti­ge Auf­ent­halt in ei­nem La­ger, wo die Kin­der und Ju­gend­li­chen von an­de­ren, kon­kur­rie­ren­den Er­zie­hungs­mäch­ten wie El­tern­haus und Kir­che ab­ge­schnit­ten wa­ren, bot für ei­ne sol­che to­ta­le In­dok­tri­nie­rung die bes­ten Vor­aus­set­zun­gen. Die mit der or­ga­ni­sa­to­ri­schen Durch­füh­rung der KLV-La­ger für die Kin­der ab zehn Jah­ren be­auf­trag­te HJ be­kam so die Mög­lich­keit, die her­an­wach­sen­de Ge­ne­ra­ti­on in der ge­schlos­se­nen So­zi­al­form des La­gers mas­siv im na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Sinn zu ideo­lo­gi­sie­ren. Hier konn­te sie ih­re Er­zie­hungs­auf­ga­be voll aus­spie­len, die ihr so­gar of­fi­zi­ell durch das Ge­setz über die Hit­ler-Ju­gend vom 1.12.1936 zu­ge­wie­sen wor­den war. Die­se Mög­lich­keit ist von der HJ auch ge­nutzt wor­den. Den Leh­rern wur­de zwar die Lei­tung der KLV-La­ger über­tra­gen. Für den ge­sam­ten au­ßer­un­ter­richt­li­chen Be­reich wa­ren je­doch aus­schlie­ß­lich die HJ-La­ger­mann­schafts­füh­rer be­zie­hungs­wei­se BDM-La­ger­mä­del­füh­re­rin­nen zu­stän­dig.[38]  Al­ler­dings klaff­ten auch hier Norm und Pra­xis in den ein­zel­nen La­gern mehr oder we­ni­ger weit aus­ein­an­der.[39] 

An­de­rer­seits muss auch fest­ge­hal­ten wer­den, dass durch die KLV meh­re­re 100.000 Kin­der und Ju­gend­li­che aus den von Luft­alar­men und Bom­ben­an­grif­fen be­trof­fe­nen (Groß-)Städ­ten her­aus­ge­bracht wur­den und so vor noch grö­ße­ren phy­si­schen und psy­chi­schen Schä­den be­wahrt wor­den sind.

Quellen

„An­wei­sun­gen für Jun­gen- und Mä­del­la­ger“, 3. Aus­ga­be, 1942.
Be­richt „Das gro­ße Ge­schenk der Par­tei“, in: West­fä­li­sche Lan­des­zei­tung - Ro­te Er­de (Dort­mund) vom 12.8.1941.
Bun­des­ar­chiv Pots­dam, Ak­te R 2/11914.
Chro­nik der Feld­mann-Schu­le in Alt-Ober­hau­sen: Stadt­ar­chiv Ober­hau­sen, Ak­te 40-298, S. 198.
KLV-Hand­zet­tel „An al­le, die es an­geh­t“ „Ret­tet recht­zei­tig das Le­ben Eu­rer Kin­der! Bringt Eu­re Kin­der fort!“, 1944, Ex­em­plar im Stadt­ar­chiv Wit­ten, Krieg­s­chro­nik.
KLV-Pla­kat „Der Luft-Ter­ror geht wei­ter - Müt­ter schafft Eu­re Kin­der fort!“, 1944, Ex­em­plar im Stadt­ar­chiv Her­ne.
Mel­dung des Deut­schen Nach­rich­ten­bü­ros Ber­lin vom 14.9.1941, zi­tiert nach der Ver­öf­fent­li­chung in der Dort­mun­der Ta­ges­zei­tung „Tre­mo­ni­a“ vom 15.9.1941- Ex­em­plar des Ar­ti­kels in der Dort­mun­der Krieg­s­chro­nik: Stadt­ar­chiv Dort­mund, Best. 424 Nr. 21 S. 49
Rund­schrei­ben vom 5.6.1943 der NS­DAP-Reichs­lei­tung: Haupt­amt für Volks­wohl­fahrt - Am­t ­für Wohl­fahrts­pfle­ge und Ju­gend­hil­fe an die Gau­wal­tun­gen - Ex­em­plar im Stadt­ar­chiv Bo­chum, Ak­te 40/41 (1-2). Rund­er­lass vom 15.6.1943 - Ex­em­plar im Stadt­ar­chiv Bo­chum, Ak­te 40/41 (1-2).
Rund­schrei­ben (Ab­schrift) vom 19.6.1943 der Reichs­ju­gend­füh­rung - Ex­em­plar im Stadt­ar­chiv Bo­chum, Ak­te BO 40/41 (1-2).
Rund­schrei­ben (Druck­ex­em­plar) vom 21.6.1943 des „Be­auf­trag­ten des Füh­rers für die In­spek­ti­on der Hit­ler-Ju­gend­ und Reichs­lei­ters der Ju­gend­er­zie­hung der NS­DA­P“, Dienst­stel­le KLV - Ex­em­plar im Lan­des­ar­chiv NRW Ab­tei­lung West­fa­len: Gau­lei­tung West­fa­len-Nord, Gau­amt für Volks­wohl­fahrt Nr. 648, Band 2.
Rund­schrei­ben des Bo­chu­mer Ober­bür­ger­meis­ters vom 16.10.1943 be­zie­hungs­wei­se 21.12.944: Stadt­ar­chiv Bo­chum, Ak­te BO 71/3. Schrei­ben des Bi­schofs von Müns­ter, Cle­mens Au­gust Graf von Ga­len, vom 9.5.1945 an die bri­ti­sche Mi­li­tär­re­gie­rung in Müns­ter, ab­ge­druckt in: Löff­ler, Pe­ter (Be­arb.), Bi­schof Cle­mens Au­gust Graf von Ga­len. Ak­ten, Brie­fe und Pre­dig­ten 1933-1946, Band 2: 1939-1946, 2. Auf­la­ge, Pa­der­born u. a. 1996, S. 1126-1127.
SD-Be­richt vom 30.9.1943, ab­ge­druckt in: Bo­b­e­rach, Heinz (Hg.), Mel­dun­gen aus dem Reich. Die ge­hei­men La­ge­be­rich­te des Si­cher­heits­diens­tes der SS 1938-1945, Band 15, Herr­sching 1984, S. 5827-5832.
SD-Be­richt vom 10.2.1944, in: Bo­b­e­rach, Heinz (Hg.) Mel­dun­gen aus dem Reich. Die ge­hei­men La­ge­be­rich­te des Si­cher­heits­diens­tes der SS 1938-1945, Band 16, Herr­sching 1984, S. 6315-6318, hier: S. 6315.
Stadt­ar­chiv Es­sen, Ak­te 45-4035.
Stadt­ar­chiv Gel­sen­kir­chen, Ak­te 0/XXI 15 c 1.
Stadt­ar­chiv Ha­gen, Ab­schrift, Ak­te 11319.
Stadt­ar­chiv Ober­hau­sen, Ak­te Ab­tei­lung 40-131.
Tä­tig­keits­be­richt der Stadt Bo­chum für Mai - De­zem­ber 1945 so­wie Ver­wal­tungs­be­richt der Stadt Bo­chum 1938 - 1948, bei­de: Stadt­ar­chiv Bo­chum, Ak­te BO 40/4.

Literatur

Beer, Wil­fried, Kriegs­all­tag an der Hei­mat­front, Bre­men 1990.
Da­bel, Ger­hard, KLV – Die er­wei­ter­te Kin­der-Land-Ver­schi­ckung. KLV-La­ger 1940-1945, Frei­burg 1981.
Gehr­ken, Eva, Na­tio­nal­so­zia­lis­ti­sche Er­zie­hung in den La­gern der Er­wei­ter­ten Kin­der­land­ver­schi­ckung 1940-1945, Gif­horn 1997.
Hüt­ten­ber­ger, Pe­ter, Die Gau­lei­ter. Stu­die zum Wan­del des Macht­ge­fü­ges in der NS­DAP, Stutt­gart 1969.
Kock, Ger­hard, „Der Füh­rer sorgt für un­se­re Kin­der…“ Die Kin­der­land­ver­schi­ckung im Zwei­ten Welt­krieg, Pa­der­born u. a. 1997.
Lang, Ga­brie­le, Kin­der­land­ver­schi­ckung klingt so nett. Die Schü­le­rin­nen der Ma­ria-Wächt­ler-Schu­le in den Kriegs­jah­ren 1941-1945, in: Brey­vo­gel, Wil­fried (Hg.), Mäd­chen­bil­dung in Deutsch­land. Die Ma­ria-Wächt­ler-Schu­le 1896-1996, Es­sen 1996, S. 151-173.
Schi­rach, Bal­dur von, Ich glaub­te an Hit­ler, Ham­burg 1967.

Online

Sol­bach, Ger­hard A., Der gro­ße Ab­schied. Die er­wei­ter­te Kin­der­land­ver­schi­ckung (KLV), in: his­to­ri­cum.net. [On­line]

Die KLV-Verschickungs-Karte war von den Kindern während des Transports an einer Schnur um den Hals zu tragen. (Privatbesitz)

 
Anmerkungen
Zitationshinweis

Bitte geben Sie beim Zitieren dieses Beitrags die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Sollbach, Gerhard E., „Vorsorgliche Umquartierung“. Die (Erweiterte) Kinderlandverschickung im Zweiten Weltkrieg, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/vorsorgliche-umquartierung.-die-erweiterte-kinderlandverschickung-im-zweiten-weltkrieg/DE-2086/lido/57d1383ad7bdd8.16458782 (abgerufen am 19.03.2024)