Elly Ney

Pianistin (1882-1968)

Beate Angelika Kraus (Bonn)

Elly Ney, Porträtfoto, 1925.

El­ly Ney war ei­ne be­deu­ten­de Pia­nis­tin, die seit den 1920er Jah­ren und auch noch in ho­hem Al­ter bis zu ih­rem To­de 1968 vor al­lem als Beet­ho­ven-In­ter­pre­tin her­vor­trat. Als be­geis­ter­te Na­tio­nal­so­zia­lis­tin hat­te sie nach 1945 vor­über­ge­hend Auf­tritts­ver­bot und steht mit ih­rer Kar­rie­re zu­gleich für die Ver­stri­ckung von Kunst und Zeit­ge­schich­te.

El­ly Ney wur­de am 27.9.1882 in Düs­sel­dorf ge­bo­ren, ver­brach­te je­doch den Gro­ß­teil ih­rer Kind­heit in Bonn. Nach ers­ter För­de­rung durch den dor­ti­gen Uni­ver­si­täts-Mu­sik­di­rek­tor Leon­hardt Wolff (1848-1934) er­hielt sie bin­nen neun Jah­ren ih­re pia­nis­ti­sche Aus­bil­dung bei Isi­dor Seiß (1840-1905) am Köl­ner Kon­ser­va­to­ri­um. Be­reits 1900 ge­wann sie den Men­dels­sohn-Preis der Stadt Ber­lin und 1901 in Köln den Ibach-Preis. Oh­ne Wis­sen des stren­gen Va­ters, aber mit Ein­ver­ständ­nis der Mut­ter reis­te sie 1903 nach Wien, um dort ih­re Stu­di­en fort­zu­set­zen, zu­nächst bei Theo­dor Le­sche­titz­ky (1830-1915) und schlie­ß­lich als Meis­ter­schü­le­rin Emil von Sau­ers (1862-1942). Es folg­te ei­ne un­ge­wöhn­li­che Kar­rie­re als Vir­tuo­sin: Ih­re Un­ter­richt­s­tä­tig­keit am Köl­ner Kon­ser­va­to­ri­um gab El­ly Ney be­reits nach we­ni­gen Jah­ren auf, um sich ganz ih­rer Kon­zert­tä­tig­keit zu wid­men. Sie war glei­cher­ma­ßen er­folg­reich bei So­lo­aben­den, bei der In­ter­pre­ta­ti­on von Kam­mer­mu­sik und als So­lis­tin bei Or­ches­ter­kon­zer­ten und kon­zer­tier­te in den 1920er-Jah­ren re­gel­mä­ßig in den USA.

El­ly Ney hat­te früh­zei­tig Beet­ho­ven zu ih­rer Iden­ti­fi­ka­ti­ons­fi­gur ge­wählt; so­gar ihr äu­ße­res Er­schei­nungs­bild war am Mus­ter des herr­schen­den Beet­ho­ven­bil­des ori­en­tiert. Ge­le­gent­lich re­zi­tier­te sie zu Kon­zert­be­ginn das „Hei­li­gen­städ­ter Tes­ta­ment"; Auf­nah­men be­le­gen da­bei ih­ren un­ver­kenn­bar rhei­ni­schen Dia­lekt. Auch ih­re Post be­ant­wor­te­te El­ly Ney mit Zi­ta­ten aus Beet­ho­vens Brie­fen. Als Künst­le­rin wur­de sie zu­neh­mend zur Beet­ho­ven-Iko­ne – und zu­gleich zur ein­zi­gen Pia­nis­tin, die sich in ih­rer Zeit als Beet­ho­ven-In­ter­pre­tin durch­zu­set­zen ver­moch­te.

Der Ruhm von El­ly Ney scheint un­ge­bro­chen; ih­re Auf­nah­men sind bis heu­te auf dem CD-Markt zu fin­den. Ihr Kla­vier­spiel war ge­prägt von ei­ner sehr ge­fühls­be­ton­ten, frei­en In­ter­pre­ta­ti­on, dem Ver­har­ren im je­wei­li­gen Klang und der Wahl re­la­tiv lang­sa­mer Tem­pi. Die zeit­ge­nös­si­sche Kri­tik be­wun­der­te an El­ly Ney die Fä­hig­keit, gro­ße klas­si­sche For­men nach zu er­le­ben, als kä­me ihr die Er­grif­fen­heit im Au­gen­blick des Auf­füh­rens. Man lieb­te sie, weil sie den Mut ha­be, Ge­fühl zu zei­gen, sich vor ih­rem Pu­bli­kum „in geis­tig-see­li­sche Wel­ten zu ver­sen­ken". Ih­re Auf­trit­te wur­den zum Ge­samt­kunst­werk ei­ner Beet­ho­ven-An­dacht.

Je nach Stand­punkt galt El­ly Ney aber auch als Witz­fi­gur, zu­mal sie ei­nen ge­wis­sen Hang zur Eso­te­rik an den Tag leg­te, durch Pen­deln die von Beet­ho­ven ge­wünsch­ten Tem­pi zu er­spü­ren glaub­te und als ra­di­ka­le Ver­tre­te­rin ve­ge­ta­ri­scher Le­bens­wei­se auf­trat. Der Kom­po­nist und Re­gis­seur Mau­ricio Ka­gel (1931-2008) ließ in ei­ner Film­sze­ne ei­ne Ka­ri­ka­tur der grei­sen El­ly Ney auf­tre­ten, als ei­ner ko­mi­schen Re­inkar­na­ti­on Beet­ho­vens: Wäh­rend sie im­mer wie­der den An­fang von Beet­ho­vens „Wald­stein­so­na­te" spielt, be­ginnt ihr wei­ßes Haar zu wach­sen, es wu­chert in den Flü­gel hin­ein – die Pia­nis­tin wird so zur weib­li­chen Va­ri­an­te von Bar­ba­ros­sa, gleich­sam als Beet­ho­vens geis­ter­haf­te Statt­hal­te­rin für die Ewig­keit. (Ver­glei­che „Lud­wig van. Ein Be­richt von Mau­ricio Ka­gel". Der 1969 pro­du­zier­te Film ist Ka­gels pro­vo­ka­ti­ver Bei­trag zum Beet­ho­ven-Ju­bi­lä­ums­jahr 1970.)

El­ly Ney gilt heu­te für vie­le als Pro­to­typ der na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Mu­si­ke­rin, und in der Tat kann sie nicht als Pia­nis­tin ge­se­hen wer­den, oh­ne den po­li­ti­schen As­pekt ih­rer Kar­rie­re zu be­rück­sich­ti­gen. Um­fang­rei­ches Ma­te­ri­al aus ih­rem Nach­lass, das sich im Stadt­ar­chiv Bonn be­fin­det, ist hier­zu al­ler­dings noch nicht auf­ge­ar­bei­tet wor­den. Es be­steht je­doch Ei­nig­keit dar­über, dass El­ly Neys Er­folg nicht al­lein durch ihr Ver­hal­ten im Na­tio­nal­so­zia­lis­mus be­grün­det ist, denn schon wäh­rend der Wei­ma­rer Re­pu­blik hat­te sie ih­re pia­nis­ti­schen Fä­hig­kei­ten hin­rei­chend un­ter Be­weis ge­stellt, auch mit dem aus­ge­zeich­ne­ten Trio, das sie mit dem Cel­lis­ten Lud­wig Ho­el­scher (1907-1996) und dem Gei­ger Wil­helm Stross (1907-1966) lei­te­te. In ih­ren Brie­fen fin­den sich in­des­sen be­reits 1933 zahl­lo­se Be­le­ge für ih­re Be­geis­te­rung für Adolf Hit­ler (1889-1945) und die neu­en Macht­ha­ber. Es las­sen sich drei Grün­de an­füh­ren, die für El­ly Ney ei­ne Rol­le ge­spielt ha­ben mö­gen.

(1.) Im na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Staat herrsch­te in prak­tisch al­len Be­rei­chen von Kul­tur, Po­li­tik und Ge­sell­schaft ei­ne re­gel­rech­te Beet­ho­ven-Ma­nie, die für ei­ne Beet­ho­ven-In­ter­pre­tin na­tür­lich vor­teil­haft war. Als es nach der Ein­füh­rung der Nürn­ber­ger „Ras­sen­ge­set­ze" 1936 Ju­den un­ter­sagt war, Beet­ho­ven zu spie­len, war El­ly Ney na­he­zu kon­kur­renz­los. Adolf Hit­ler er­nann­te sie 1937 zur Pro­fes­so­rin, und von 1939 bis 1945 un­ter­rich­te­te sie am Salz­bur­ger Mo­zar­te­um.

(2.) El­ly Ney war be­ses­sen da­von, je­der­mann die gro­ße klas­si­sche Mu­sik na­he zu brin­gen. Die na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Or­ga­ni­sa­tio­nen bo­ten ihr die nö­ti­gen Struk­tu­ren, um ein Mas­sen­pu­bli­kum zu er­rei­chen. El­ly Ney spiel­te Zeit ih­res Le­bens mit un­ge­heu­rer En­er­gie wirk­lich über­all – und in fast al­len Le­bens­la­gen: für Ar­bei­ter, Ju­gend­kon­zer­te für Schü­ler, für die Wehr­macht, für ver­wun­de­te Sol­da­ten in La­za­ret­ten, selbst noch in Zei­ten häu­fi­ger Bom­ben­an­grif­fe, in de­nen Kon­zer­te durch Flie­ger­alarm und Zwi­schen­auf­ent­hal­te im Bun­ker un­ter­bro­chen wer­den muss­ten. Nach 1945 spiel­te sie in Ge­fäng­nis­sen, im Durch­gangs­la­ger Fried­land für Kriegs­ge­fan­ge­ne und Ost­ver­trie­be­ne und auch für das Na­tio­na­le Olym­pi­sche Ko­mi­tee für Deutsch­land. Ihr Sen­dungs­be­wusst­sein war so aus­ge­prägt, dass sie wohl nicht im­mer dar­über nach­dach­te, wel­chen Pro­pa­gan­da­zwe­cken sie je­weils dien­te.

(3.) Vie­le Zeug­nis­se spre­chen für die Ei­tel­keit der Pia­nis­tin, die nach zwei ge­schei­ter­ten Ehen (ab 1911 mit dem nie­der­län­di­schen Di­ri­gen­ten und Vio­li­nis­ten Wil­lem van Hoogstra­ten und ab 1928 für re­la­tiv kur­ze Dau­er mit Paul Al­lais, ei­nem Koh­len­berg­werks­di­rek­tor aus Chi­ca­go) um­so mehr ih­ren be­ruf­li­chen Weg in den Vor­der­grund stell­te. Es schmei­chel­te der Di­va, im Krei­se der je­wei­li­gen Macht­ha­ber zu ver­keh­ren, sel­te­ne Or­chi­de­en zu er­hal­ten oder von ei­ner Grup­pe des „Bund Deut­scher Mä­del" zur Pa­tro­nin er­ko­ren zu wer­den. Schon 1927, nach der Er­nen­nung zur Eh­ren­bür­ge­rin der Stadt Bonn, schrieb sie vol­ler Stolz an Wil­lem van Hoogstra­ten: „Den­ke dir an mei­nem Ge­burts­tag wird in Bonn ge­flaggt! Was sagst Du nun?" (Brief vom 3.8.1927, Stadt­ar­chiv Bonn).

Nach 1945 war El­ly Ney we­gen ih­rer Rol­le im Na­tio­nal­so­zia­lis­mus öf­fent­li­cher Kri­tik aus­ge­setzt: Am 20.12.1948 und am 9.3.1949 be­schloss die Stadt­ver­tre­tung Bonn ein Auf­tritts­ver­bot, das je­doch am 25.1.1952 wie­der auf­ge­ho­ben wur­de. Die Pia­nis­tin en­ga­gier­te sich fort­an in al­ter Fri­sche für das Nach­kriegs­deutsch­land, sam­mel­te bei­spiels­wei­se ei­gen­hän­dig Geld für den Bau der neu­en Bon­ner Beet­ho­ven­hal­le.

El­ly Ney kon­zer­tier­te auch noch als 85-Jäh­ri­ge und starb am 31.3.1968 in Tutzing, wo sie auch bei­ge­setzt wur­de. Als Pia­nis­tin war sie ei­ne Aus­nah­me­er­schei­nung. Sie steht ei­ner­seits für die Ver­wo­ben­heit von Kunst und Zeit­ge­schich­te – und an­de­rer­seits für die Wech­sel­wir­kung zwi­schen selbst in­sze­nier­tem Künst­ler­tum und Beet­ho­ven-Re­zep­ti­on.

Literatur

Kraus, Bea­te An­ge­li­ka, El­ly Ney und Thé­rè­se War­tel: Beet­ho­ven-In­ter­pre­ta­ti­on durch Pia­nis­tin­nen – ei­ne Selbst­ver­ständ­lich­keit?, in: Der „männ­li­che" und der „weib­li­che" Beet­ho­ven. Be­richt über den In­ter­na­tio­na­len mu­sik­wis­sen­schaft­li­chen Kon­gress vom 31. Ok­to­ber bis 4. No­vem­ber 2001 an der Uni­ver­si­tät der Küns­te Ber­lin, hg. von Bartsch, Cor­ne­lia/Bor­chard, Bea­trix/Ca­den­bach, Rai­ner, Bonn 2003, S. 429-447.
Hin­ter­keu­ser, Hans, El­ly Ney und Karl­ro­bert Krei­ten – Zwei Mu­si­ker un­term Ha­ken­kreuz, Bonn 2016.
Ney, El­ly, Ein Le­ben für die Mu­sik (Be­ar­bei­tung und Zwi­schen­tex­te von Jo­sef Ma­gnus Weh­ner), Darm­stadt 1952.

An­mer­kung: Das er­folg­rei­che Buch er­schien be­reits fünf Jah­re spä­ter in ei­ner zwei­ten und er­wei­ter­ten Auf­la­ge (Ney, El­ly, Er­in­ne­run­gen und Be­trach­tun­gen. Mein Le­ben aus der Mu­sik, Aschaf­fen­burg 1957). Stich­pro­ben ha­ben er­ge­ben, dass die ab­ge­druck­ten Quel­len (zum Bei­spiel Brie­fe) zum Teil still­schwei­gend ‚ver­bes­sert’ sind; sie sind al­so nur be­dingt zi­tier­fä­hig.
 
Bei der nach­ste­hen­den, chro­no­lo­gisch ge­ord­ne­ten Li­te­ra­tur han­delt es sich zu­meist um ‚Hul­di­gungs­schrif­ten’; die ein ein­sei­ti­ges, durch­weg po­si­ti­ves Bild der Pia­nis­tin ver­mit­teln:

Pidoll, Carl von, El­ly Ney. Ge­dan­ken über ein Künst­ler­tum, Leip­zig 1942.
Mau­ri­na, Zen­ta, Be­geg­nung mit El­ly Ney. Ei­ne Dank­sa­gung, Mem­min­gen 1956.
Schind­ler, Hein­rich, El­ly Ney Mün­chen/Köln 1957.
Herz­feld, Fried­rich, El­ly Ney , Genf 1962.
Hoogstra­ten, Eleo­no­re van (Hg.), Wor­te des Dan­kes an El­ly Ney, Tutzing 1968.
Hein, Hel­mut, Pro­fes­sor El­ly Ney spielt. Ein So­net­ten­zy­klus. Er­lauscht von Hel­mut Hein [1979?].
Vo­gel, Hein­rich, Aus den Ta­ge­bü­chern von El­ly Ney, Tutzing 1979.
Hoogstra­ten, Eleo­no­re van (Hg.), El­ly Ney, Brief­wech­sel mit Wil­lem van Hoogstra­ten, Ers­ter Band, 1910-1926, Tutzing 1970.

Online

Brück, Ma­ri­on, Ar­ti­kel "Ney, El­ly", in: Neue Deut­sche Bio­gra­phie 19 (1999), S. 194-195. [On­line]
Kraus, Bea­te An­ge­li­ka, El­ly Ney (In­for­ma­ti­on bei MU­GI. Mu­sik und Gen­der im In­ter­net. Pro­jekt der Hoch­schu­le für Mu­sik und Thea­ter Ham­burg). [On­line]
Wink­ler-Jor­dan, Mecht­hild/Pusch, Lui­se F., El­ly Ney (In­for­ma­ti­on auf der Web­site Fem­Bio.org des Fem­Bio Frau­en-Bio­gra­phie­for­schung e.V.). [On­line]

 
Zitationshinweis

Bitte geben Sie beim Zitieren dieses Beitrags die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Kraus, Beate Angelika, Elly Ney, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/elly-ney/DE-2086/lido/57c953e9559543.07783511 (abgerufen am 19.03.2024)