Marie Juchacz

Begründerin der Arbeiterwohlfahrt (1879-1956)

Jennifer Striewski (Bonn)

Marie Juchacz in Berlin, Porträtfoto, 27.04.1949. (AdsD / Friedrich-Ebert-Stiftung)

Ma­rie Juch­acz war ei­ne Frau­en­recht­le­rin, So­zi­al­po­li­ti­ke­rin und die ers­te Red­ne­rin in ei­nem deut­schen Par­la­ment. Bis 1933 war sie Vor­sit­zen­de der von ihr be­grün­de­ten Ar­bei­ter­wohl­fahrt.

Ma­rie Juch­acz wur­de am 15.3.1879 als Toch­ter des Zim­mer­manns Theo­dor Gohl­ke und sei­ner Frau Hen­ri­et­te in Lands­berg an der Warthe (Pro­vinz Po­sen) ge­bo­ren. In ärm­li­chen Ver­hält­nis­sen und in ei­nem stark länd­lich ge­präg­ten Um­feld auf­ge­wach­sen, be­such­te sie bis 1893 die Volks­schu­le, um da­nach als Dienst­mäd­chen in ver­schie­de­nen Haus­hal­ten und kurz­zei­tig in ei­ner Fa­brik zu ar­bei­ten. In den Jah­ren 1896 bis 1898 war sie zwei Jah­re als Wär­te­rin in der Lan­des­psych­ia­trie Lands­berg tä­tig, be­vor sie ei­nen Schnei­der­kurs be­leg­te und in der Werk­statt des Schnei­der­meis­ters Bern­hard Juch­acz, den sie 1903 hei­ra­te­te, ei­ne An­stel­lung fand. Die Ehe, aus der zwei Kin­der her­vor­gin­gen, wur­de 1906 ge­schie­den.

An­ge­regt durch ih­ren äl­te­ren Bru­der Ot­to, be­gann sich die jun­ge Frau für Po­li­tik und die So­zi­al­de­mo­kra­tie zu in­ter­es­sie­ren.1906 zog sie nach dem Schei­tern ih­rer Ehe mit ih­ren bei­den Kin­dern und ih­rer jün­ge­ren Schwes­ter Eli­sa­beth Röhl (1888-1930) nach Ber­lin, da für sie in ih­rer Hei­mat­ge­mein­de kei­ne po­li­ti­sche Be­tä­ti­gung mög­lich war. Bei­de Frau­en tra­ten 1907 in den Frau­en- und Mäd­chen­bil­dungs­ver­ein so­wie 1908 in die So­zi­al­de­mo­kra­ti­sche Par­tei Deutsch­lands (SPD) ein. Kur­ze Zeit nach ih­rem Bei­tritt wur­den den bei­den Schwes­tern die ers­ten Äm­ter in der so­zi­al­de­mo­kra­ti­schen Frau­en­be­we­gung über­tra­gen.

Frau­en hat­ten bis zu die­sem Zeit­punkt kein Recht, für ih­re po­li­ti­schen In­ter­es­sen ein­zu­tre­ten und durf­ten sich erst nach der Auf­he­bung des preu­ßi­schen Ver­eins­ge­set­zes im Jahr 1908 par­tei­po­li­tisch en­ga­gie­ren. Ma­rie Juch­acz wur­de noch im glei­chen Jahr in den Vor­stand des SPD-Wahl­ver­eins Neu­kölln ge­wählt und grün­de­te ei­ne „Ar­beits­ge­mein­schaft für fort­ge­schrit­te­ne und in­ter­es­sier­te Frau­en".

Im März 1913 fand Ma­rie Juch­acz, mitt­ler­wei­le ei­ne Po­li­ti­ke­rin von ho­hem Be­kannt­heits­grad, in Köln als Par­tei­se­kre­tä­rin für den Be­zirk Obe­re Rhein­pro­vinz ei­ne be­zahl­te An­stel­lung. Die Stel­le wur­de ihr von Lui­se Zietz (1865-1922), der ein­zi­gen Frau im SPD-Vor­stand ver­mit­telt. Von 1913 bis 1917 war sie Frau­en­se­kre­tä­rin der SPD in Köln und Mit­glied des Vor­stands der Be­zirks­kom­mis­si­on für den Be­zirk Obe­re Rhein­pro­vinz.

Wäh­rend des Ers­ten Welt­kriegs ar­bei­te­ten Ma­rie Juch­acz und Eli­sa­beth Röhl in der Heim­ar­beits­zen­tra­le und bei der so ge­nann­ten Le­bens­mit­tel­kom­mis­si­on. Ge­mein­sam mit an­de­ren Frau­en sorg­ten sie dort für die Ein­rich­tung von Sup­pen­kü­chen und Näh­stu­ben, für Heim­ar­beits­mög­lich­kei­ten für Frau­en und en­ga­gier­ten sich in der Un­ter­stüt­zung von Kriegs­wit­wen und -wai­sen.

Im Früh­jahr 1917, als es zur Spal­tung der So­zi­al­de­mo­kra­ten und der Grün­dung der Un­ab­hän­gi­gen So­zi­al­de­mo­kra­ti­schen Par­tei Deutsch­lands (USPD) kam, hol­te der SPD-Par­tei­vor­stand Fried­rich Ebert (1871-1925) Ma­rie Juch­acz als Frau­en­se­kre­tä­rin nach Ber­lin zu­rück. Ne­ben der Lei­tung des Frau­en­re­fe­rats über­nahm sie von ih­rer Vor­gän­ge­rin Lui­se Zietz, die sich der USPD an­schloss, auch die Re­dak­ti­ons­lei­tung der SPD-Zeit­schrift „Die Gleich­heit".

Im Ok­to­ber 1917 wur­de sie als ein­zi­ge Frau in den Par­tei­vor­stand der nach der Ab­spal­tung ver­blie­be­nen Mehr­heits­so­zi­al­de­mo­kra­ten (MSPD) und schlie­ß­lich als ei­ne von 37 Frau­en nach der No­vem­ber­re­vo­lu­ti­on von 1918 in die Wei­ma­rer Na­tio­nal­ver­samm­lung ge­wählt. Dort hielt sie am 19.2.1919 die ers­te Re­de ei­ner deut­schen Par­la­men­ta­rie­rin. Als ein­zi­ge Frau ge­hör­te sie dem „Aus­schuss zur Vor­be­ra­tung des Ent­wurfs ei­ner Ver­fas­sung des Deut­schen Reichs" der Na­tio­nal­ver­samm­lung an. Erst drei Mo­na­te zu­vor war das Frau­en­wahl­recht recht­lich fest­ge­setzt wor­den.

Juch­acz setz­te sich mit Nach­druck für die ver­fas­sungs­recht­li­che Gleich­stel­lung von Mann und Frau ein. Die Par­ti­zi­pa­ti­on von Frau­en am po­li­ti­schen Ge­sche­hen be­griff sie als ei­ne Chan­ce, aus der bis­he­ri­gen ge­sell­schaft­li­chen Un­mün­dig­keit her­aus­zu­tre­ten und sich in die drän­gen­den Pro­ble­me ih­rer Zeit ein­zu­mi­schen. Da­bei war das ak­ti­ve und pas­si­ve Wahl­recht für sie nur der ers­te Schritt, mit „an­ge­streng­tes­ter und ziel­be­wuss­tes­ter Ar­beit den Frau­en im staats­recht­li­chen und wirt­schaft­li­chen Le­ben zu der Stel­lung zu ver­hel­fen, die ih­nen zu­kommt".

Als Mit­glied des Reichs­tags zwi­schen 1920 und 1933 wid­me­te sich Ma­rie Juch­acz haupt­säch­lich der So­zi­al­po­li­tik. Sie trat für den Müt­ter- und Wöch­ne­rin­nen­schutz, für Ju­gend­hil­fe und ei­ne Än­de­rung der Rechts­stel­lung nicht­ehe­li­cher Kin­der ein. Bis zu ih­rer Emi­gra­ti­on 1933 en­ga­gier­te sie sich für so­zi­al- und frau­en­po­li­ti­sche The­men wie zum Bei­spiel die Re­form des Ehe­schei­dungs­ge­set­zes oder des Straf­rechts­pa­ra­gra­phen 218, der seit 1871 fest­schrieb, dass Frau­en kein Recht hat­ten, über An­zahl und Fol­ge ih­rer Kin­der selbst zu ent­schei­den. Au­ßer­dem kämpf­te Juch­acz für die Ver­bes­se­rung staat­li­cher Für­sor­ge.

Ih­re grö­ß­te so­zi­al­po­li­ti­sche Leis­tung war je­doch die Grün­dung der Ar­bei­ter­wohl­fahrt (AWO) 1919. Ge­prägt durch ih­re ei­ge­nen Er­fah­run­gen und die Er­leb­nis­se wäh­rend des Krie­ges, hat­te Ma­rie Juch­acz be­reits wäh­rend ih­rer Tä­tig­keit in Köln er­wo­gen, ei­ne Selbst­hil­fe- und Wohl­fahrts­ein­rich­tung der or­ga­ni­sier­ten Ar­bei­ter­schaft auf­zu­bau­en. Die Für­sor­ge­ar­beit wäh­rend des Krie­ges ließ in ihr die Idee rei­fen, dass die So­zi­al­de­mo­kra­ti­sche Par­tei ei­ne Or­ga­ni­sa­ti­on be­nö­tig­te, die Be­dürf­ti­gen Hil­fe bie­ten könn­te.

1919 wur­de sie vom Par­tei­vor­stand be­auf­tragt, ei­nen Haupt­aus­schuss für die Ar­bei­ter­wohl­fahrt zu grün­den und zu lei­ten. Am 10.1.1920 rief Ma­rie Juch­acz, un­ter­stützt von der preu­ßi­schen Land­tags­ab­ge­ord­ne­ten Hed­wig Wa­chen­heim (1891-1961), den „Haupt­aus­schuss für Ar­bei­ter­wohl­fahrt" (AWO) ins Le­ben. Die AWO ent­wi­ckel­te sich un­ter ih­rer Vor­sit­zen­den Ma­rie Juch­acz rasch zu ei­ner trag­fä­hi­gen Or­ga­ni­sa­ti­on mit Schu­lungs­ein­rich­tun­gen für So­zi­al­ar­bei­ter, Kin­der­gär­ten und Er­ho­lungs­hei­men. Vor ih­rer Auf­lö­sung 1933 hat­te die AWO cir­ca 135.000 eh­ren­amt­li­che Mit­glie­der, die in 2.600 Orts­aus­schüs­sen mit 1.414 Be­ra­tungs­stel­len tä­tig wa­ren. Die Grund­idee der AWO stell­te da­bei ei­ne vom de­mo­kra­ti­schen Geis­te und der Nächs­ten­lie­be ge­präg­te Wohl­fahrts­pfle­ge dar.

Ma­rie Juch­acz ge­lang es, dem jun­gen Wohl­fahrts­ver­band brei­te An­er­ken­nung und Ach­tung zu si­chern. Die Ar­bei­ter­wohl­fahrt rück­te im Lau­fe der 1920er Jah­re zu­neh­mend ins Zen­trum von Juch­acz’ Ak­ti­vi­tä­ten, die par­tei­po­li­ti­schen Man­da­te und Funk­tio­nen ver­lo­ren für sie nach und nach an Be­deu­tung. Ih­re Haupt­auf­ga­be sah sie in der Un­ter­stüt­zung hilfs­be­dürf­ti­ger Men­schen.

Nach der Macht­über­nah­me durch Adolf Hit­ler (Amts­zeit 1933-1945) lös­te sich die AWO 1933 auf, um der Ver­ein­nah­mung durch die NS­DAP zu ent­ge­hen. Nur ein­zel­ne ehe­ma­li­ge Mit­ar­bei­ter und Mit­ar­bei­te­rin­nen setz­ten ih­re Für­sor­ge­ar­beit bis 1936 für Flücht­lin­ge, In­haf­tier­te und de­ren Fa­mi­li­en fort.

Im März 1933 emi­grier­te die mitt­ler­wei­le 54-jäh­ri­ge Ma­rie Juch­acz ge­mein­sam mit ih­rem Schwa­ger Emil Kir­sch­mann zu­nächst ins Saar­land und nach der Über­nah­me des Saar­ge­biets durch das na­tio­nal­so­zia­lis­ti­sche Re­gime wei­ter nach Süd­frank­reich. 1941 floh sie über Mar­ti­ni­que nach New York, wo sie bis 1949 leb­te. Dort grün­de­te sie 1945 die „Ar­bei­ter­wohl­fahrt USA – Hil­fe für die Op­fer des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus", die nach En­de des Krie­ges mit Pa­ket­send­sen­dun­gen Un­ter­stüt­zung im zer­stör­ten Deutsch­land leis­te­te.

1949 kehr­te Ma­rie Juch­acz nach Deutsch­land zu­rück. Auf der Reichs­kon­fe­renz der neu ge­grün­de­ten Ar­bei­ter­wohl­fahrt in Köln 1949 wur­de sie we­gen ih­rer her­aus­ra­gen­den Ver­diens­te in der Wohl­fahrts­pfle­ge zur Eh­ren­vor­sit­zen­den er­nannt. Po­li­tisch wur­de sie je­doch nicht mehr ak­tiv. Bis zu ih­rem Tod nahm sie an zahl­rei­chen Vor­stands­sit­zun­gen, Ar­beits­ta­gun­gen und Fach­kon­fe­ren­zen der AWO teil, die sich mitt­ler­wei­le von der SPD als ei­gen­stän­di­ge Or­ga­ni­sa­ti­on ge­löst hat­te. So war Juch­acz auch 1955, ob­wohl be­reits durch Krank­heit ge­schwächt, Mit­glied der Reichs­kon­fe­renz der Ar­bei­ter­wohl­fahrt in Mün­chen, wo sie ih­ren letz­ten Vor­trag hielt.

Ma­rie Juch­acz starb am 28.1.1956 im Al­ter von 76 Jah­ren in Düs­sel­dorf. Ih­re Asche wur­de im Grab ih­rer Schwes­ter Eli­sa­beth Röhl auf dem Süd­fried­hof in Köln bei­ge­setzt.

An Ma­rie Juch­acz er­in­nern in meh­ren Städ­ten nach ihr be­nann­te Stra­ßen so­wie die Ma­rie-Juch­acz-Stif­tung der Ar­bei­ter­wohl­fahrt. 2003 wur­de Juch­acz mit ei­ner Ein-Eu­ro-Brief­mar­ke der Deut­schen Post in der Se­rie Frau­en der deut­schen Ge­schich­te ge­ehrt. Au­ßer­dem ist der Vor­stands­sit­zungsaal der SPD-Frak­ti­on im Ber­li­ner Reichs­tags­ge­bäu­de nach ihr be­nannt.

Werke

Die Ar­bei­ter­wohl­fahrt: Vor­aus­set­zun­gen und Ent­wick­lung, Ber­lin 1924.
Ju­gend­wohl­fahrt, Ber­lin 1924.
Der kom­men­de Frie­de, Ber­lin 1919.
Prak­ti­sche Win­ke für die so­zi­al­de­mo­kra­ti­sche Frau­en­be­we­gung, Ber­lin 1921.

Literatur

Ar­bei­ter­wohl­fahrt Bun­des­ver­band e.V. (Hg.), 50 Jah­re Ar­bei­ter­wohl­fahrt, Bonn 1969.
Ar­bei­ter­wohl­fahrt Bun­des­ver­band e.V. (Hg.), Bei­trä­ge zur Ge­schich­te der Ar­bei­ter­wohl­fahrt 1919-1994, Bonn 1995.
Ar­bei­ter­wohl­fahrt Bun­des­ver­band e.V. (Hg.), Wan­der­aus­stel­lung Ma­rie Juch­acz 1879-1956, Bonn 2004.
Der­tin­ger, Ant­je, Ma­rie Juch­acz, in: Schnei­der, Die­ter (Hg.), Sie wa­ren die ers­ten. Frau­en in der Ar­bei­ter­be­we­gung, Frank­furt am Main 1988, S. 211-230.
Ha­sen­cle­ver, Chris­ta, Ma­rie Juch­acz. Grün­de­rin der Ar­bei­ter­wohl­fahrt. Le­ben und Werk, Bonn 1979.
Köh­ler-Lut­ter­beck, Ur­su­la (Hg.), Frau­en im Rhein­land, Köln 2001, S. 140-144.
Ro­ehl, Fritz-Mi­cha­el, Ma­rie Juch­acz und die Ar­bei­ter­wohl­fahrt, Han­no­ver 1961.

Online

Koch, Ga­brie­le, Ma­rie Juch­ac­z (In­for­ma­ti­on auf der Web­site Fem­Bio.org des Fem­Bio Frau­en-Bio­gra­phie­for­schung e.V.). [On­line]
Mil­ler, Su­san­ne, "Juch­acz, Ma­ria", in: Neue Deut­sche Bio­gra­phie 10 (1974), S. 633. [On­line]

 
Zitationshinweis

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Striewski, Jennifer, Marie Juchacz, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/marie-juchacz/DE-2086/lido/57c92fddc69b11.62149235 (abgerufen am 19.03.2024)