Martin Gauger

Jurist, Kriegsdienstverweigerer, NS-Opfer (1905-1941)

Klaus Schmidt (Köln)

Martin Gauger, Porträtfoto. (Friedensbibliothek-Antikriegsmuseum der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz)

Mar­tin Gau­ger war der ein­zi­ge Ju­rist in Deutsch­land, der nach der Macht­über­nah­me durch die Na­tio­nal­so­zia­lis­ten den Treu­eid auf Adolf Hit­ler (1889-1945) ver­wei­ger­te. Der über­zeug­te Pa­zi­fist un­ter­nahm nach Er­halt sei­nes Mus­te­rungs­be­scheids 1940 ei­nen Sui­zid­ver­such und floh da­nach in die Nie­der­lan­de. Bei ei­nem Rück­kehr­ver­such wur­de er ver­haf­tet und nach 1941 in das KZ Bu­chen­wald über­stellt. Von dort wur­de er mit ei­nem  „In­va­li­den­trans­por­t“ in die NS-Tö­tungs­an­stalt Pir­na-Son­nen­stein ge­bracht und ver­gast.

Der Sohn des pie­tis­tisch ge­präg­ten El­ber­fel­der (heu­te Stadt Wup­per­tal) Pfar­rers Jo­seph Gau­ger wuchs als fünf­tes von ins­ge­samt acht Kin­dern auf. Sei­ne ­Mut­ter stamm­te aus ei­ner wohl­ha­ben­den Wup­per­ta­ler Fa­mi­lie. 1924-1930 stu­dier­te Gau­ger Rechts- und Wirt­schafts­wis­sen­schaft in Tü­bin­gen, Kiel, Lon­don, Ber­lin und Bres­lau. Da­nach war er Ge­richts­re­fe­ren­dar und 1934 As­ses­sor bei der Staats­an­walt­schaft und beim Land­ge­richt in Wup­per­tal.

In je­nem Jahr 1934 über­nahm Hit­ler das Amt des Reichs­prä­si­den­ten,  ein Volks­ent­scheid ver­lieh am 19. Au­gust dem Akt Schein­le­ga­li­tät. Zu den­je­ni­gen, die da­für plä­dier­ten, die Äm­ter Reichs­kanz­ler und Reichs­prä­si­dent ge­trennt be­ste­hen zu las­sen, ge­hör­te Mar­tins Va­ter, Di­rek­tor der Evan­ge­li­schen Ge­sell­schaft in Wup­per­tal-El­ber­feld. Er woll­te in der Zeit­schrift „Licht und Le­ben“ so für Ge­wal­ten­tei­lung plä­die­ren. Doch das Ma­nu­skript wur­de durch Post­kon­trol­le ab­ge­fan­gen, er sel­ber in Schutz­haft ge­nom­men und die Zeit­schrift be­fris­tet ver­bo­ten. 

Das war für Mar­tin Gau­ger der un­mit­tel­ba­re An­lass, den Treue­eid auf Hit­ler, der für al­le Be­am­ten am 20. Au­gust ge­setz­lich ver­ord­net wur­de und den er bei der Staats­an­walt­schaf­t Mön­chen­glad­bach a­bleis­ten soll­te, nicht zu leis­ten. Er wur­de – als ein­zi­ger na­ment­lich be­kann­ter Ju­rist – so­fort ent­las­sen. „Der ­Ver­lust mei­nes Am­tes geht mir er­bärm­lich na­he“, schrieb er sei­nem Bru­der. Er sei je­doch froh, kei­nen „un­ein­ge­schränk­ten Eid der Treue und des Ge­hor­sams ge­gen­über je­man­dem ge­leis­tet zu ha­ben, der sei­ner­seits an kein Recht und kein Ge­setz ge­bun­den is­t“. Er hat­te die Sor­ge, sich mit dem Eid zu ver­pflich­ten, ge­gen je­mand auch ge­gen oder oh­ne Ge­setz, nur auf Grund ei­nes Füh­rer­be­fehls vor­ge­hen zu müs­sen.

In den fol­gen­den Mo­na­ten schrieb er vie­le ver­geb­li­che Be­wer­bun­gen und ei­ne ju­ris­ti­sche Dis­ser­ta­ti­on über „Be­kennt­nis und Kir­chen­re­gi­ment in ih­rer Be­zie­hung zu­ein­an­der“. Als sie 1936 er­schien, wur­de sie so­fort als „schäd­li­ches und un­er­wünsch­tes Schrift­tum“ be­schlag­nahmt. In der Dis­ser­ta­ti­on wies er nach, dass ei­ne Kir­chen­lei­tung, die Irr­leh­re ver­brei­te, auch ju­ris­tisch nicht recht­mä­ßig sei. Mit die­ser Be­grün­dung hat­te die „Be­ken­nen­de Kir­che“ (BK) auf der (Ber­lin-)Dah­le­mer Syn­ode im Ok­to­ber 1934 an Stel­le der re­gime­treu­en „Deut­schen Chris­ten“ ei­ne ei­ge­ne Kir­chen­lei­tung ein­ge­setzt.

Im Ja­nu­ar 1935 er­hielt Gau­ger ei­ne An­stel­lung in der Rechts­ab­tei­lung der Vor­läu­fi­gen Kir­chen­lei­tung der Be­ken­nen­den Kir­che in Ber­lin. Als die­se im Fe­bru­ar 1936 wäh­rend der 4. Be­kennt­nis­syn­ode der Deut­schen Evan­ge­li­schen Kir­che in Bad Oeyn­hau­sen auf­grund theo­lo­gi­scher und kir­chen­po­li­ti­scher Aus­ein­an­der­set­zun­gen aus­ein­an­der brach, wur­de er lei­ten­der Ju­rist des lu­the­ri­schen Flü­gels, des „Ra­tes der Evan­ge­lisch-Lu­the­ri­schen Kir­che Deutsch­land­s“.

Im März 1936 schrieb er sei­nen El­tern: „Ich muß sa­gen, daß ich, wenn ich ir­gend die Wahl hät­te, den Kir­chen­dienst, der ja im­mer mehr ein kir­chen­po­li­ti­scher Dienst ge­wor­den ist, auf­gä­be. Das Recht ist für die Aus­ein­an­der­set­zung im­mer be­deu­tungs­lo­ser ge­wor­den.“ We­gen der Eid-Ver­wei­ge­rung sei er aber für Staat und In­dus­trie nicht trag­bar. Auf dem kirch­li­chen Pos­ten kön­ne er auch nicht blei­ben: „Die Lan­des­kir­chen wer­den sich mei­ner ganz gern noch zwei bis drei Jah­re be­die­nen und mich dann mit den bes­ten Se­gens­wün­schen auf die Schutt­hal­de wer­fen.“ Die staats­loya­le Hal­tung der lu­the­ri­schen Bi­schö­fe wur­de vom NS-Staat nicht ho­no­riert.

Als auch der Luther­rat als il­le­gal be­zeich­net wur­de, mein­te Gau­ger, da­mit ha­be sich der Ver­such, „mit dem Staat ins Rei­ne zu kom­men, of­fi­zi­ell als ge­schei­tert er­wie­sen“. 1938 er­hielt er ei­nen Ruf als Pro­fes­sor an das Chris­ti­an Col­le­ge in Ma­dras in In­di­en. Doch er lehn­te ab: „Ich kann mei­nem Pos­ten hier nicht ent­lau­fen, so­lan­ge ich da über­haupt noch Ar­beits­mög­lich­kei­ten ha­be.“ Als Reichs­kir­chen­mi­nis­ter Hanns Kerrl (1887-1941) der Kir­chen­füh­rer­kon­fe­renz im Mai 1939 fünf „Grund­sät­ze für ei­ne den Er­for­der­nis­sen der Ge­gen­wart ent­spre­chen­de neue Ord­nung der DE­K“ zur Un­ter­zeich­nung vor­leg­te, ver­such­te Gau­ger ver­geb­lich, das zu ver­hin­dern. Nun sah er in sei­nem Pos­ten kei­nen Sinn mehr, doch sei­nen Rück­tritt lehn­te Bi­schof Hans Mei­ser (1881-1956) ab. Durch den Ber­li­ner Ge­fäng­nis­pfar­rer Ha­rald Po­el­chau (1903-1972), ei­nen Freund der Fa­mi­lie Gau­ger, hat­te er in­zwi­schen Her­mann Stöhr (1898-1940), den Stet­ti­ner evan­ge­li­schen Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rer ken­nen­ge­lernt. Als sein ei­ge­ner Ent­schluss, den Kriegs­dienst zu ver­wei­gern, im Luther­rat be­kannt wur­de, lös­te Mei­ser das Dienst­ver­hält­nis.

1939 wi­der­setz­te er sich sei­ner Mus­te­rung zum Wehr­dienst. Als der Krieg be­gann, wur­de ihm ei­ne Ar­beit beim Ro­ten Kreuz in Genf an­ge­bo­ten. Er lehn­te die­sen Flucht­weg ab. Als er dann im April 1940 den Ge­stel­lungs­be­fehl er­hielt, schrieb er: „Ich ha­be ei­ni­ge Zeit an­ge­nom­men, ich könn­te die­sen Krieg er­tra­gen, wenn ich nicht mit der Waf­fe die­nen müss­te, aber das ist doch ganz eng und falsch ge­dacht und ei­gent­lich auch feig.“ Jetzt war er da­von über­zeugt, „man dür­fe über­haupt nicht Kriegs­dienst tun; in die­sem Krieg we­nigs­tens, weil er kein Ver­tei­di­gungs­krieg is­t“. Und er füg­te hin­zu: „Ich kann die­sen Krieg nicht för­dern, ich kann nicht hel­fen, dass das Meer von Blut und Trä­nen noch an­de­re Län­der über­flu­tet.“

Sein Ver­such, sich am 25.4.1940 das Le­ben zu neh­men, schei­ter­te. Er ver­steck­te sich bei Po­el­chaus und plan­te dort ei­ne Flucht über die Nie­der­lan­de nach Eng­land. Am 17. Mai durch­schwamm er den Rhein. Am Tag da­nach be­setz­te die deut­sche Wehr­macht die Nie­der­lan­de. Da er nicht mehr nach Eng­land flie­hen konn­te, plan­te er, auf dem Weg über Deutsch­land mit dem Fahr­rad in die Schweiz zu ge­lan­gen. Durch Schüs­se in die Bei­ne hin­der­ten deut­sche Sol­da­ten ihn am 19. Mai an der wei­te­ren Flucht. Seit dem 22.5.1940 wur­de er in der Straf­an­stalt Düs­sel­dorf-De­ren­dorf ge­fan­gen ge­hal­ten. Dort äu­ßer­te er sich über das Ver­hält­nis von Not­wehr und Ver­tei­di­gung: „Nach mei­ner Mei­nung kann ein Krieg nur als Ver­tei­di­gungs­krieg ge­recht­fer­tigt wer­den, al­so in ech­ter Not­wehr.“ Die Aus­wer­tung des Not­wehr­be­griffs auf in­ter­na­tio­na­le Streit­fäl­le lehn­te er ab.

Als er am 9.6.1941 in das KZ Bu­chen­wald ver­legt wur­de, be­müh­ten sich sei­ne Mut­ter und sein Bru­der Sieg­fried ver­geb­lich, die lu­the­ri­schen Bi­schö­fe Mei­ser und Theo­phil Wurm (1868-1953) da­für zu ge­win­nen, sich für ei­nen Pro­zess ein­zu­set­zen, um Mar­tin Gau­ger aus der Ge­walt der Ge­sta­po zu be­frei­en und der Jus­tiz zu un­ter­stel­len. In ei­nem Ab­schieds­brief an sei­nen Bru­der Sieg­fried ver­ur­teil­te er noch ein­mal den Krieg, ver­tei­dig­te sei­ne Ver­wei­ge­rung und füg­te hin­zu: „Wenn ein­mal der Ne­bel sich zer­teilt hat, in dem wir le­ben, dann wird man sich fra­gen, war­um nur ei­ni­ge, war­um nicht al­le sich so ver­hal­ten ha­ben.“

Im KZ ge­lang es Al­fred Lei­kam (1915-1992), ei­nem jun­gen Chris­ten aus Würt­tem­berg, trotz schärfs­ter Iso­la­ti­on ei­ni­ge Ma­le mit Mar­tin Gau­ger zu spre­chen, be­vor er am 14.7.1941 mit 90 jü­di­schen und po­li­ti­schen Häft­lin­gen in die Eu­tha­na­sie-An­stalt auf dem Son­nen­stein bei Pir­na ge­bracht und dort in ei­ner Gas­kam­mer er­mor­det wur­de. Sein Tod wur­de mit „Herz­schla­g“ be­kun­det. Lei­kam be­rich­te­te spä­ter, es sei Gau­ger schwer ge­fal­len, „sei­nen Glau­ben an die Ge­rech­tig­keit Got­tes hoch­zu­hal­ten“. Er ha­be es auch nicht ver­ste­hen kön­nen, „dass bis weit in die Krei­se der be­ken­nen­den Chris­ten­heit hin­ein der Na­tio­nal­so­zia­lis­mus im­mer noch An­er­ken­nung fand, ob­wohl in der Kriegs­füh­rung, in der Hand­ha­bung der KZ-La­ger und in dem ge­sam­ten Rechts­ge­bah­ren Nie­der­tracht und Ge­mein­heit ganz of­fen zu­ta­ge tra­ten“. 

Seit dem Jahr 2000 ist die frü­he­re „Eu­tha­na­sie“-Tö­tungs­an­stalt ei­ne Ge­denk­stät­te. Ei­ne Ste­le im Raum ne­ben der Gas­kam­mer in Pir­na-Son­nen­stein ist Mar­tin Gau­ger ge­wid­met. Die Ste­le mit sei­nem Fo­to und sei­ner Bio­gra­phie ist ei­ne von ins­ge­samt 22, die an die Men­schen er­in­nern, die dort von den Na­tio­nal­so­zia­lis­ten er­mor­det wur­den. Gau­ger starb als ei­ner von mehr als 1.000 KZ-Häft­lin­gen. „Die Ent­schei­dung konn­te mir nie­mand ab­neh­men“ hei­ßt der klei­ne Band, in dem Gau­gers Bio­gra­phie nach­zu­le­sen ist. Im Sep­tem­ber 2005 wur­de im evan­ge­li­schen Ge­mein­de­zen­trum Pir­na-Son­nen­stein mit ei­ner Ge­denk­ver­an­stal­tung an den 100 Jah­re zu­vor ge­bo­re­nen Mar­tin Gau­ger er­in­nert. Im Ge­den­ken an ihn ver­leiht der „Bund der Rich­ter und Staats­an­wäl­te in Nord­rhein-West­fa­len“ seit 2004 al­le zwei Jah­re den Mar­tin-Gau­ger-Preis. Er wird im Rah­men ei­nes lan­des­wei­ten Schü­ler­wett­be­werbs aus­ge­lobt und ist dem Ge­dan­ken der Men­schen­rech­te ver­pflich­tet. Die Preis­ver­lei­hung fin­det mög­lichst am in­ter­na­tio­na­len Tag der Men­schen­rech­te am 10. De­zem­ber statt. In Er­in­ne­rung an Gau­ger wur­de an sei­ner letz­ten Adres­se in Wup­per­tal, Hop­fen­sta­ße 6, ein Stol­per­stein ver­legt.

 
Zitationshinweis

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Schmidt, Klaus, Martin Gauger, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/martin-gauger/DE-2086/lido/57c6c68c975877.68385323 (abgerufen am 29.03.2024)