Otto Friedrich Wilhelm von der Wenge Graf Lambsdorff

Manager, liberaler Politiker, Bundesminister (1926-2009)

Jürgen Frölich (Gummersbach/Bonn)

Autogrammkarte Otto Graf Lambsdorffs aus den 1990er Jahren. (Archiv des Liberalismus, Audiovisuelles Sammlungsgut, Signatur F5-218)

Der aus ei­nem deutsch-bal­ti­schen Adels­ge­schlecht stam­men­de, in Aa­chen ge­bo­re­ne Ot­to Graf Lambs­dorff war im letz­ten Vier­tel des 20. Jahr­hun­derts als Par­la­men­ta­ri­er, Bun­des­mi­nis­ter und Par­tei­po­li­ti­ker ei­ner der be­kann­tes­ten und pro­fi­lier­tes­ten Ver­tre­ter ei­ner klas­si­schen wirt­schafts­li­be­ra­len Ord­nungs­po­li­tik in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land. Sei­ne wirt­schafts- und ge­sell­schafts­po­li­ti­schen Vor­stel­lun­gen, wie sie vor al­lem 1982 in ei­nem nach­mals be­rühmt ge­wor­de­nen Kon­zept-Pa­pier zu­sam­men­ge­fasst wur­den, be­stimm­ten die Agen­da der Bun­des­re­pu­blik weit über sei­ne Mi­nis­ter­zeit hin­aus und wur­den auch von po­li­ti­schen Kon­kur­ren­ten zum Teil als Hand­lungs­an­lei­tung über­nom­men.

Der Stamm­sitz der Fa­mi­lie von der Wen­ge/Lambs­dorff be­fin­det sich im West­fä­li­schen auf dem heu­ti­gen Stadt­ge­biet von Dort­mund; im spä­ten Mit­tel­al­ter spal­te­te sich ein Fa­mi­li­en­zweig ab, der sich un­ter An­nah­me des zwei­ten Na­mens­be­stand­teils in Liv­land  ­nie­der­ließ und aus dem so­wohl in Preu­ßen als noch mehr in Russ­land et­li­che Ge­ne­rä­le und ho­he Be­am­te bis hin zu ei­nem za­ris­ti­schen Au­ßen­mi­nis­ter her­vor­gin­gen.

Ot­to Graf Lambs­dorff wur­de am 20.12.1926 als äl­tes­tes von drei Kin­dern des Ver­si­che­rungs­kauf­manns und ehe­ma­li­gen St. Pe­ters­bur­ger Ka­det­ten Her­bert Graf Lambs­dorff (1899-1976) und des­sen Frau Eva, ge­bo­re­ne von Schmid (1904-1978), ge­bo­ren. Der Va­ter war in die Aus­ein­an­der­set­zun­gen um das Bal­ti­kum nach dem Ers­ten Welt­krieg in­vol­viert ge­we­sen und dann sei­ner spä­te­ren Ehe­frau, die er in Pom­mern ken­nen­ge­lernt hat­te, in de­ren Ge­burts­stadt ge­folgt. Die müt­ter­li­che Sei­te der Vor­fah­ren weist viel­fa­che Ver­bin­dun­gen zu Aa­chen auf, und das Rhein­land bil­de­te auch spä­ter ei­ne wich­ti­ge Kom­po­nen­te im Le­ben von Lambs­dorff, ob­wohl er den grö­ß­ten Teil sei­ner Ju­gend in Ber­lin und Bran­den­burg, wo er In­ter­nats­schü­ler ei­ner ehe­ma­li­gen Rit­ter­aka­de­mie in Bran­den­burg/Ha­vel war, ver­brach­te. 1944 zum Kriegs­dienst ein­ge­zo­gen, wur­de er we­ni­ge Ta­ge vor Kriegs­en­de 1945 in Thü­rin­gen schwer ver­wun­det und war seit­dem auf ei­ne Geh­hil­fe an­ge­wie­sen. Nach­dem Lambs­dorff 1946 sei­ne Ab­itur­prü­fung in Un­na nach­ge­holt hat­te, stu­dier­te er in Bonn un­d Köln Ju­ra. 1950 leg­te er das ers­te und 1955 das zwei­te Staats­ex­amen ab; zwi­schen­drin wur­de er 1952 bei dem be­kann­ten Köl­ner Rechts­wis­sen­schaft­ler Carl Nip­per­dey (1895-1968) zum Dr. jur. pro­mo­viert.

 

Stark be­ein­druckt von der Er­hard­schen ­Wäh­rungs­re­form­trat Lambs­dorff 1951 der Frei­en De­mo­kra­ti­schen Par­tei (FDP) bei, „weil sie ei­ne kon­se­quent markt­wirt­schaft­li­che Po­si­ti­on ver­trat, weil sie an­ti­fö­de­ra­lis­tisch war und weil sie auf die Be­sei­ti­gung der Kon­fes­si­ons­schu­len in Nord­rhein-West­fa­len dräng­te“, so er selbst im Rück­blick. Nach dem Stu­di­en­ab­schluss leg­te er aber den Schwer­punkt auf ei­ne be­ruf­li­che Kar­rie­re in der Pri­vat­wirt­schaft; er trat in das pri­va­te Düs­sel­dor­fer Bank­haus Trink­aus ein und stieg dort bis zum Ge­ne­ral­be­voll­mäch­tig­ten auf. An­fang der 1970er Jah­re wech­sel­te Lambs­dorff in den Vor­stand der eben­falls in Düs­sel­dorf an­säs­si­gen Vic­to­ria-Rück­ver­si­che­rung AG.

Fast zeit­gleich wur­de al­ler­dings das po­li­ti­sche En­ga­ge­ment ver­stärkt, in­dem er – seit ei­ni­gen Jah­ren Schatz­meis­ter der nord­rhein-west­fä­li­schen FDP – über de­ren Lan­des­lis­te 1972 in den Bun­des­tag  ­ge­wählt wur­de. Das soll­te sich dann bis 1994 re­gel­mä­ßig wie­der­ho­len, wo­bei Lambs­dorff ab 1980 auf der Lan­des­lis­te je­weils den zwei­ten Platz nach dem lang­jäh­ri­gen Au­ßen­mi­nis­ter und Par­tei­vor­sit­zen­den Hans-Diet­rich Gen­scher (1927-2016) ein­nahm. Lambs­dorff hat­te zwar an der Er­ar­bei­tung der als links­li­be­ral an­ge­se­hen „Frei­bur­ger The­sen“, die die FDP 1971 als Grund­satz­pro­gramm ver­ab­schie­de­te, in­ten­siv mit­ge­ar­bei­tet, nutz­te aber sei­ne Funk­ti­on als wirt­schafts­po­li­ti­scher Spre­cher der Bun­des­tags­frak­ti­on, um sich als Ver­fech­ter ei­nes markt­wirt­schaft­li­chen Kur­ses zu pro­fi­lie­ren. Die vom SPD-Frak­ti­ons­vor­sit­zen­den Her­bert Weh­ner (1906-1990) spöt­tisch ge­mein­te Be­zeich­nung „Markt­graf“ wur­de bald zu Lambs­dorffs „Mar­ken­zei­chen“.

Hans-Dietrich Genscher und Otto Graf Lambsdorff auf dem FDP-Bundesparteitag in der Rheingoldhalle in Mainz, 28.10.1975, Foto: Ludwig Wegmann. (Bundesarchiv)

 

So nahm er ge­wich­ti­gen Ein­fluss auf die For­mu­lie­rung der „Kie­ler The­sen“ von 1977, mit de­nen die FDP auf die durch die ers­te „Öl­preis­kri­se“ ver­än­der­ten Rah­men­be­din­gun­gen zu re­agie­ren ver­such­te und in de­nen ver­stärkt Ak­zen­te auf ordo­li­be­ra­le Re­for­men ge­legt wur­den. Als der frei­de­mo­kra­ti­sche Wirt­schafts­mi­nis­ter Hans Fri­de­richs (ge­bo­ren 1931) im Ok­to­ber 1977 über­ra­schend in die Pri­vat­wirt­schaft wech­sel­te, war Lambs­dorff der „ge­bo­re­ne Nach­fol­ger“ an der Spit­ze des Bun­des­wirt­schafts­mi­nis­te­ri­ums.

Dort po­si­tio­nier­te er sich wei­ter­hin auch als po­li­ti­scher Wi­der­part zu den Ge­werk­schaf­ten, nach­dem er zu­vor be­reits gro­ßen An­teil an der Be­rück­sich­ti­gung der Lei­ten­den An­ge­stell­ten in der be­trieb­li­chen Mit­be­stim­mung ge­habt hat­te. Die Zu­sam­men­ar­beit mit dem SPD-Kanz­ler Hel­mut Schmidt (1918-2015) war zu­nächst vor al­lem aus au­ßen­po­li­ti­schen Grün­den gut. Ähn­li­ches galt auch im Hin­blick auf den so­zi­al­de­mo­kra­ti­schen Fi­nanz­mi­nis­ter Hans Matt­hö­fer (1925-2009), bis sich nach der Bun­des­tags­wahl von 1980, die der SPD-FDP-Ko­ali­ti­on noch­mals ei­ne Mehr­heit ver­schafft hat­te, in­fol­ge der zwei­ten „Öl­preis­kri­se“ die wirt­schaft­li­che La­ge wei­ter ver­schlech­ter­te. Zu­neh­mend kri­ti­sier­te Lambs­dorff die stei­gen­de Staats­ver­schul­dung und for­der­te ei­ne Haus­halts­kon­so­li­die­rung vor al­lem über Min­der­aus­ga­ben.

Ei­nen ers­ten Hö­he­punkt er­reich­ten die ko­ali­ti­ons­in­ter­nen Aus­ein­an­der­set­zun­gen nach dem SPD-Par­tei­tag vom April 1982, des­sen wirt­schafts- und steu­er­po­li­ti­schen Be­schlüs­se Lambs­dorff ei­nem „Gru­sel­ka­ta­log so­zia­lis­ti­scher Fol­ter­werk­zeu­ge“ gleich­ka­men. Als Re­ak­ti­on dar­auf ließ er in sei­nem Mi­nis­te­ri­um ein Kon­zept aus­ar­bei­ten, das die Wirt­schafts­kri­se mit­tels ei­ner auf ordo­li­be­ra­len Grund­sät­zen ba­sie­ren­den wirt­schafts­po­li­ti­schen „Wen­de“ in den Griff be­kom­men soll­te. Po­li­ti­sche Bri­sanz er­hielt die­ses „Kon­zept für ei­ne Po­li­tik zur Über­win­dung der Wachs­tums­schwä­che und zur Be­kämp­fung der Ar­beits­lo­sig­keit“ da­durch, dass es im Sep­tem­ber 1982 zur of­fi­zi­el­len Ant­wort von Lambs­dorff wur­de, als der Kanz­ler ihn auf­for­der­te, sei­ne Kri­tik an der so­zi­al­de­mo­kra­ti­schen Wirt­schafts­po­li­tik schrift­lich zu­sam­men­zu­fas­sen. Die im nun­mehr so­ge­nann­ten „Lambs­dorff-Pa­pier“ vor­ge­schla­ge­nen Maß­nah­men zur Geld­wert­sta­bi­li­tät, Haus­halts­kon­so­li­die­rung und Wirt­schafts­be­le­bung - un­ter an­de­rem Sub­ven­ti­ons­ab­bau, Ein­schnit­te beim Ar­beits­lo­sen­geld und Selbst­be­tei­li­gung im Krank­heits­fall - stie­ßen auf star­ken Wi­der­stand beim Ko­ali­ti­ons­part­ner und wa­ren auch in der ei­ge­nen Par­tei nicht un­um­strit­ten.

Doch Lambs­dorff hat­te da­mit ei­ne Si­tua­ti­on her­bei­ge­führt, in der für die FDP ei­gent­lich nur noch der Ko­ali­ti­ons­wech­sel blieb, woll­te sie ih­ren pro­gram­ma­ti­schen Grund­la­gen treu blei­ben, zu­mal es nun auch – et­wa beim ­Na­to-Dop­pel­be­schlus­s – au­ßen­po­li­ti­schen Kon­flikt­stoff mit dem bis­he­ri­gen Re­gie­rungs­part­ner gab. Al­ler­dings in­sze­nier­te der Kanz­ler das En­de der SPD-FDP-Ko­ali­ti­on - mit Lambs­dorff als „Buh­man­n“ - öf­fent­lich­keits­wirk­sam so, als ob ihm ein „Ver­ra­t“ der Frei­en De­mo­kra­ten zu­grun­de ge­le­gen hät­te und ver­deck­te da­mit die tief­grei­fen­den Mei­nungs­ver­schie­den­hei­ten zwi­schen den Ko­ali­ti­ons­part­ner ei­ner­seits und zwi­schen Schmidt und sei­ner Par­tei an­de­rer­seits. Er konn­te aber nicht ver­hin­dern, dass der Op­po­si­ti­ons­füh­rer Hel­mut Kohl (1930-2017) am 1.10.1982 mit­tel­s ­Kon­struk­ti­vem Miss­trau­ens­vo­tum von CDU/CSU und ei­ner Mehr­heit der FDP-Frak­ti­on zu sei­nem Nach­fol­ger im Kanz­ler­amt ge­wählt wur­de. Lambs­dorff ge­hör­te der neu­en christ­lich-li­be­ra­len Ko­ali­ti­on er­neut als Wirt­schafts­mi­nis­ter an und trug mit dem nun be­gin­nen­den wirt­schafts­po­li­ti­schen Kurs­wech­sel ent­schei­dend zur öko­no­mi­schen Er­ho­lung der Bun­des­re­pu­blik in den 1980er Jah­ren bei.

Otto Graf Lambsdorff am Rednerpult während des 28. ordentlichen FDP-Parteitages in Kiel, November 1977, Foto: Ludwig Wegmann. (Bundesarchiv)

 

Per­sön­lich über­schat­tet wur­de dies je­doch durch die Ver­wick­lung von Lambs­dorff in die so­ge­nann­te Flick-Af­fä­re, bei der es im Kern um den Ver­dacht ging, der na­mens­ge­ben­de Kon­zern ha­be ge­gen Par­tei­spen­den Steu­er­er­leich­te­run­gen für sich er­wirkt. Lambs­dorff hat­te als Schatz­meis­ter der nord­rhein-west­fä­li­schen FDP auch ent­spre­chen­de Spen­den ent­ge­gen­ge­nom­men und spä­ter als Wirt­schafts­mi­nis­ter Steu­er­vor­tei­le für den Flick-Kon­zern ge­neh­migt. Als des­we­gen ge­gen ihn ein Ver­fah­ren we­gen Be­stech­lich­keit und Steu­er­hin­ter­zie­hung er­öff­net wur­de, trat er im Ju­ni 1984 von sei­nem Ka­bi­netts­pos­ten zu­rück. Der lang­wie­ri­ge Pro­zess en­de­te schlie­ß­lich le­dig­lich mit ei­ner Geld­stra­fe we­gen Bei­hil­fe zur Steu­er­hin­ter­zie­hung, da es kei­ne An­halts­punk­te für Be­stech­lich­keit und per­sön­li­che Be­rei­che­rung gab.

Zwar kehr­te Lambs­dorff nicht in sein Mi­nis­ter­amt zu­rück, blieb aber als wirt­schafts­po­li­ti­scher Spre­cher sei­ner Frak­ti­on wei­ter­hin ein­fluss­reich. Und es wur­de all­ge­mein als ei­ne Art „Wie­der­gut­ma­chun­g“ durch sei­ne Par­tei, für die er „stell­ver­tre­tend den Kopf hin­ge­hal­ten hat­te“ (An­dre­as Wir­sching), an­ge­se­hen, dass man ihn im Ok­to­ber 1988 zum Bun­des­vor­sit­zen­den der FDP wähl­te. Von 1991 bis 1994 stand Lambs­dorff dann auch als ers­ter Deut­scher an der Spit­ze der ­Li­be­ra­len In­ter­na­tio­na­len. Als FDP-Vor­sit­zen­der ma­nag­te er im Zu­ge des deut­schen Ei­ni­gungs­pro­zes­ses ge­mein­sam mit dem aus Dres­den stam­men­den Frak­ti­ons­vor­sit­zen­den Wolf­gang Mischnick (1921-2002) die Zu­sam­men­füh­rung der seit 1948 ge­trenn­ten Li­be­ra­len in West- und Ost­deutsch­land: Knapp zwei Mo­na­te vor Voll­zug der staat­li­chen Ein­heit wur­de Lambs­dorff im Au­gust 1990 zum Vor­sit­zen­den der nun­mehr ge­samt­deut­schen FDP (wie­der)ge­wählt, der sich un­mit­tel­bar da­vor die ost­deut­schen Li­be­ra­len an­ge­schlos­sen hat­ten.

Wahlkampfkundgebung der FDP zur Bundestagswahl 1983 in Köln mit Otto Graf Lambsdorff, 25.2.1983, Foto: Lothar Schaack. (Bundesarchiv)

 

Die wirt­schafts- und so­zi­al­po­li­ti­schen As­pek­te der Deut­schen Ein­heit be­trach­te­te Lambs­dorff mit zu­neh­men­der Skep­sis, weil sie mit ei­ner er­neut stark wach­sen­den Staats­ver­schul­dung ein­her­gin­gen, konn­te sich aber mit sei­ner For­de­rung nach ei­nem Nied­rig­steu­er­ge­biet in den neu­en Bun­des­län­dern nicht durch­set­zen. Sei­ne star­ken Bin­dun­gen an das Rhein­land wur­den 1991 deut­lich, als er, der aus sei­nem Preu­ßen­tum und sei­ner Bis­marck-Ver­eh­rung kei­nen Hehl mach­te, sich ve­he­ment für den Ver­bleib von Re­gie­rung und Par­la­ment in Bonn ein­setz­te und im Bun­des­ta­g auch ent­spre­chend ab­stimm­te, ob­wohl sei­ne Frak­ti­on mehr­heit­lich in ei­ne an­de­re Rich­tung ten­dier­te. An­schlie­ßend folg­te peu à peu der Rück­zug aus der ak­ti­ven Po­li­tik: Im Ju­ni 1993 gab er den Par­tei­vor­sitz an Klaus Kin­kel (ge­bo­ren 1936) ab, En­de 1996 ver­zich­te­te er auf da­s Am­t  ­des wirt­schafts­po­li­ti­schen Spre­chers sei­ner Fak­ti­on und bei der Bun­des­tags­wahl 1998 auf ei­ne er­neu­te Kan­di­da­tur.

Ne­ben dem FDP-Eh­ren­vor­sitz – ab 1993 – kam als neu­es Be­tä­ti­gungs­feld für Lambs­dorff im April 1995 der Vor­sitz der FDP-na­hen Fried­rich-Nau­mann-Stif­tung hin­zu. Un­ter sei­ner Ägi­de konn­te die Stif­tung 1998 in An­we­sen­heit von Bun­des­prä­si­dent Ro­man Her­zog (1934-2017, Bun­des­prä­si­dent 1994-1999) ih­ren 40. Ge­burts­tag be­ge­hen, folg­te dann aber dem all­ge­mei­nen Trend und ver­leg­te ih­re Zen­tra­le vom rhei­ni­schen Kö­nigs­win­ter nach Pots­dam in die Nä­he des neu­en po­li­ti­schen Zen­trums Ber­lin; den neu­en Haupt­sitz im Ba­bels­ber­ger „Trum­an-Haus“, wo der US-Prä­si­dent Har­ry S. Trum­an (1884-1972) im Som­mer 1945 sein Quar­tier ge­habt hat­te, wähl­te Lambs­dorff selbst aus. In­halt­lich leg­te er als Stif­tungs­vor­sit­zen­der den Schwer­punkt auf drei Din­ge: Ne­ben der markt­wirt­schaft­li­che Er­neue­rung, sei­nem klas­si­schen The­ma, dreh­ten sich die Dis­kus­sio­nen und Ak­ti­vi­tä­ten vor­nehm­lich um ei­ne Re­form des deut­schen Fö­de­ra­lis­mus, bei der deut­lich wur­de, wie sehr Lambs­dorff sich in­zwi­schen von sei­nen „zen­tra­lis­ti­schen“ An­fän­gen ent­fernt hat­te, und um Men­schen­rechts­fra­gen in glo­ba­ler Per­spek­ti­ve.

Vorsitzender des DDR-Ministerrates Hans Modrow, Bundesministerin für innerdeutsche Beziehungen Dorothee Wilms, Bundeskanzler Helmut Kohl und der Regierende Bürgermeister Walter Momper (West-Berlin) während der Öffnung des Brandenburger Tores am 22. Dezember 1989. Im Hintergrund zwischen Kohl und Momper: Der Oberbürgermeister Erhard Krack (Ost-Berlin); vor Momper dessen Tochter Friederike. Rechts daneben: Walter Scheel, Otto Graf Lambsdorff und Hans-Dietrich Genscher, 22.12.1989.

 

Be­son­ders letz­te­res er­reg­te Auf­merk­sam­keit, weil ers­tens der wei­ter­hin streit­ba­re Lambs­dorff hier we­nig di­plo­ma­ti­sche Rück­sicht nahm und sich zum Bei­spiel bei sei­nem En­ga­ge­ment für den Da­lai La­ma so­wohl mit dem ei­ge­nen Au­ßen­mi­nis­ter als auch der chi­ne­si­schen Re­gie­rung an­leg­te. Zwei­tens wi­der­sprach dies auch der land­läu­fi­gen Ein­schät­zung von Lambs­dorff als eher kon­ser­va­ti­vem Li­be­ra­len, der im Zwei­fel wirt­schaft­li­chen As­pek­ten ein­deu­tig Vor­rang vor Fra­gen des Rechts­staa­tes und der Men­schen­rech­te ein­räu­men wür­de. Nicht erst als Stif­tungs­vor­sit­zen­der be­ton­te er: „Für mich sind Rechts­staat und Markt­wirt­schaft zwei Sei­ten der­sel­ben Me­dail­le; das hat mein gan­zes po­li­ti­sches Le­ben ge­prägt.“

Lambs­dorff gro­ßes Re­nom­mee such­te auch die ab 1998 am­tie­ren­de rot-grü­ne Bun­des­re­gie­rung zu nut­zen, die ihn 1999 zum „Son­der­be­auf­trag­ten“ bei den durch­aus heik­len, in­ter­na­tio­na­len Ver­hand­lun­gen über Ent­schä­di­gun­gen für Zwangs­ar­bei­ter aus der Zeit des Zwei­ten Welt­kriegs mach­te. Lambs­dorffs er­folg­rei­che Ver­mitt­lungs­be­mü­hun­gen führ­ten im Jah­re 2000 zur Grün­dung der Bun­de­stif­tung „Er­in­ne­rung, Ver­ant­wor­tung und Zu­kunf­t“, an der sich die Bun­des­re­gie­rung und vie­le deut­sche Un­ter­neh­men be­tei­lig­ten. Die rot-grü­ne Bun­des­re­gie­rung un­ter Kanz­ler Ger­hard Schrö­der (ge­bo­ren 1944, Bun­des­kanz­ler 1998-2005) nahm auch in­halt­li­che An­lei­hen beim „Lambs­dorff-Pa­pier“, als sie ab 2003 ihr um­fas­sen­des so­zi­al- und wirt­schafts­po­li­ti­sches Re­form­pro­gramm mit dem Ti­tel „Agen­da 2010“ in An­griff nahm.

FDP-Gründungsparteitag in Berlin, v.l.n.r.: Gerhart Rudolf Baum, Otto Graf Lambsdorff, Hans-Dietrich Genscher, Wolfgang Mischnick und Cornelia Schmalz-Jacobsen, 4.2.1990, Foto: Karl-Heinz Schindler. (Bundesarchiv)

 

Sei­ne „preu­ßi­sche“ Dis­zi­plin stell­te Lambs­dorff letzt­ma­lig un­ter Be­weis, als er 2006 den Stif­tungs­vor­sitz räum­te, um ein grö­ße­res per­so­nel­les Re­vi­re­ment in der frei­de­mo­kra­ti­schen Füh­rung zu er­mög­li­chen. Er starb am 5.12.2009, kurz nach­dem er den FDP-Vor­sit­zen­den Gui­do Wes­ter­wel­le, den Sie­ger der Bun­des­tags­wahl 2009, ver­geb­lich zu über­zeu­gen ver­sucht hat­te, nicht das Aus­wär­ti­ge Am­t zu über­neh­men, son­dern sich aus po­li­tisch-stra­te­gi­schen Grün­den auf die In­nen­po­li­tik zu kon­zen­trie­ren.

Für Lambs­dorff, der zeit sei­nes Le­bens prak­ti­zie­ren­der evan­ge­li­scher Christ, zeit­wei­se auch Pres­by­ter ge­we­sen war und als Rechts­rit­ter dem Jo­han­ni­ter­or­den an­ge­hört hat­te, wur­den so­wohl in der Bon­ner Kreuz­kir­che als auch im Bran­den­bur­ger Dom – bei­de Kir­chen hat­te er ge­för­dert – Ge­denk­got­tes­diens­te ab­ge­hal­ten, was sei­nen un­ge­wöhn­li­chen Cha­rak­ter als „rhei­ni­scher Preu­ße“ – so die Rhei­ni­sche Post – noch­mals her­aus­stell­te. Er wur­de im Fa­mi­li­en­grab auf dem Fried­hof im bran­den­bur­gi­schen Stahns­dorf be­er­digt.

Otto Graf Lambsdorff auf dem ersten gemeinsamen Wahlprogrammparteitag der FDP, Foto: Thomas Uhlemann. (Bundesarchiv)

 

Lambs­dorff war zwei­mal ei­ne Ehe ein­ge­gan­gen: 1953 mit Re­na­te, ge­bo­re­ne Lep­per (1929-1988), und 1975, ein Jahr nach der Schei­dung, mit­ ­der Ban­ke­rin Alex­an­dra, ge­bo­re­ne von Quis­torp (ge­bo­ren 1945). Aus der ers­ten Ehe stam­men drei Kin­der.

Für sei­ne Ver­diens­te um die Markt­wirt­schaft wur­de Lambs­dorff vor al­lem mit „wirt­schafts­na­hen“ Aus­zeich­nun­gen wie der Lud­wig-Er­hard-Me­dail­le ver­se­hen, er er­hielt aber auch das Of­fi­ziers­kreuz der Fran­zö­si­schen Eh­ren­le­gi­on und das Gro­ßkreuz des Bun­des­ver­dienst­or­dens, zu­dem war er Eh­ren­dom­herr des Bran­den­bur­ger Dom­ka­pi­tels.

Werke (Auswahl)

Ziel­set­zung. Auf­ga­ben und Chan­cen der Markt­wirt­schaft, Düs­sel­dorf/Wien 1977.
Be­wäh­rung. Wirt­schafts­po­li­tik in Kri­sen­zei­ten, Düs­sel­dorf/Wien 1980.
Fri­sche Luft für Bonn. Ei­ne li­be­ra­le Po­li­tik mit mehr Markt als Staat, Stutt­gart 1987.
(mit Lo­thar Späth) Ak­ti­ve In­dus­trie­po­li­tik? Über die Rol­le des Staa­tes in der Wirt­schafts­po­li­tik, Stutt­gart 1987.
Der Frei­heit ver­pflich­tet. Re­den und Auf­sät­ze 1995-2006, hg. von Jür­gen Mor­lock. Stutt­gart 2006.
Von Frei­burg über Kiel zur „Wen­de“. Ein Ge­spräch mit Ot­to Graf Lambs­dorff, in: Ger­hardt, Wolf­gang (Hg.), Ge­schich­te, Ge­gen­wart und Zu­kunft de­s Li­be­ra­lis­mus. Stutt­gart/Leip­zig 2008, S. 86-100.

Literatur

An­der­sen, Uwe, Lambs­dorff, Ot­to Graf, in: Kempf, Udo/Merz, Hans-Ge­org (Hg.), Kanz­ler und Mi­nis­ter 1949-1998. Bio­gra­fi­sches Le­xi­kon der deut­schen Bun­des­re­gie­run­gen, Wies­ba­den 2001, S. 404-409.  
Bö­ken­kamp, Gé­r­ard [u.a.] (Hg.), 30 Jah­re „Lambs­dorff-Pa­pier“, Ber­lin 2012. 
Mor­lock, Jür­gen (Hg.), Der Frei­heit ­ver­pflich­tet. Band 2: Bei­trä­ge zum 80. Ge­burts­tag von Ot­to Graf Lambs­dorff, Stutt­gart 2007. 
Scher­ner, Jo­han­nes, Lambs­dorff, Ot­to (Fried­rich Wil­helm) Graf, in: Bio­gra­phi­sches Hand­buch der Mit­glie­der des Deut­schen Bun­des­ta­ges 1949-2002, Mün­chen 2002, S. 478-479. 
Schnei­der, Hans-Ro­de­rich, Ge­fragt – Ot­to Graf Lambs­dorff, 2. Auf­la­ge, Born­heim/Rhld 1980. 
See­berg-El­ver­feldt, Ro­land (Be­arb.), Ge­nea­lo­gie der Gra­fen von der Wen­ge ge­nannt Lambs­dorff, Neu­stadt/Aisch 1986. 
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Grabmahl Otto Graf Lambsdorffs auf dem Südwestkirchhof Stahnsdorf, 14.1.2017, Foto: Z thomas.

 
Zitationshinweis

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Frölich, Jürgen, Otto Friedrich Wilhelm von der Wenge Graf Lambsdorff, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/otto-friedrich-wilhelm-von-der-wenge-graf-lambsdorff-/DE-2086/lido/5abcdc40b18791.73005623 (abgerufen am 23.04.2024)