Peter Joseph Neunzig

Revolutionär (1797-1877)

Norbert Schloßmacher (Bonn)

Peter Josef Neunzig, Porträt, Gemälde. (Stadtmuseum Düsseldorf)

Pe­ter Jo­seph Neun­zig ist als Künst­ler, (Ar­men-)Arzt in Ger­res­heim (heu­te Stadt Düs­sel­dorf), Be­tei­lig­ter an den re­vo­lu­tio­nä­ren Be­we­gun­gen der Jah­re 1848/1849 in Düs­sel­dorf so­wie als Freund von Hein­rich Hei­ne be­kannt ge­wor­den.

Pe­ter Jo­seph Neun­zigs Wie­ge stand in der Bol­ker­stra­ße in Düs­sel­dorf, wo sei­ne El­tern Pe­ter und Chris­ti­na Neun­zig ei­ne Gast­wirt­schaft be­trie­ben. Nicht die ein­zi­ge Un­ge­reimt­heit in sei­nem Le­ben ist der un­kla­re Ge­burts­tag; man nimmt den 19.3.1797 an. Da­mit ist Pe­ter Jo­seph Neun­zig nur um ei­ni­ge Mo­na­te äl­ter als der am 13.12.1797 in un­mit­tel­ba­rer Nach­bar­schaft ge­bo­re­ne Hein­rich Hei­ne, der üb­li­cher­wei­se als der grö­ß­te Sohn sei­ner Hei­mat­stadt ge­prie­sen wird. Trotz un­ter­schied­li­cher Schul­lauf­bahn ha­ben sich die Bei­den ge­kannt und ge­wiss auch ei­nen Teil ih­rer Kind­heit und Ju­gend mit­ein­an­der ver­bracht. Neun­zig hat­te drei jün­ge­re Ge­schwis­ter, über die we­nig be­kannt ist.

Wel­che Schu­le er be­such­te und wie lan­ge sein Schul­be­such dau­er­te, ist un­be­kannt. Schon früh war Neun­zigs In­ter­es­se so­wohl für das Zeich­nen als auch für die Me­di­zin aus­ge­prägt; in die­sen und an­de­ren Dis­zi­pli­nen er­hielt er über den re­gu­lä­ren Schul­be­such hin­aus Un­ter­richt. Ge­ra­de 18-jäh­rig wur­de er im April 1815 von der in Düs­sel­dorf an­säs­si­gen chir­ur­gisch-mi­li­tä­ri­schen „La­za­ret-Di­rec­tion" als „Ele­ve" an­ge­nom­men. Sei­ne nur zehn Mo­na­te wäh­ren­de Mi­li­tär­kar­rie­re en­de­te mit ei­nem von der preu­ßi­schen Ar­mee aus­ge­stell­ten Zer­ti­fi­kat, dem zu­fol­ge er „als La­za­reth-Chir­ur­gus… mit Fleiß und Wohl­ver­hal­ten ge­dient" hat.

Nach ei­nem zwei­se­mest­ri­gen Me­di­zin­stu­di­um in Müns­ter 1817/1818 ging Neun­zig im Ok­to­ber des Jah­res 1819 an die im Vor­jahr ge­grün­de­te Bon­ner Hoch­schu­le, um dort sein Aus­bil­dung fort­zu­set­zen. Gleich­zei­tig ließ sich Hein­rich Hei­ne für das Fach Ju­ris­pru­denz an der jun­gen Uni­ver­si­tät, de­ren At­mo­sphä­re äu­ßerst span­nungs­ge­la­den war - Vie­len galt Bonn als ein Zen­trum der stu­den­ti­schen Op­po­si­ti­on -, ein­schrei­ben. Bei­de wohn­ten in Bonn in der glei­chen Stra­ße (Jo­sef­stra­ße). Noch be­vor Neun­zig sei­ne ers­te Vor­le­sung ge­hört hat­te, ge­riet er mit der Uni­ver­si­täts­be­hör­de in Kon­flikt. Zwei­mal wur­de er vom Uni­ver­si­täts­rich­ter ver­nom­men, und zwar we­gen ei­nes in der „Düs­sel­dor­fer Zei­tung" ver­öf­fent­lich­ten Be­richts über ei­nen po­li­tisch mo­ti­vier­ten Fa­ckel­zug Bon­ner Stu­den­ten zum Kreuz­berg mit an­schlie­ßen­der Kund­ge­bung aus An­lass des sechs­ten Jah­res­tags der Völ­ker­schlacht bei Leip­zig. Neun­zigs Hoch­schul­kar­rie­re droh­te zu en­den, be­vor sie über­haupt be­gon­nen hat­te. Sei­nen Ver­bleib an der Al­ma ma­ter Bon­nen­sis ver­dank­te er un­ter an­de­rem den ent­las­ten­den Aus­sa­gen sei­nes Kom­mi­li­to­nen Hein­rich Hei­ne.

Aus Neun­zigs Stu­di­en­zeit hat sich ei­ne gan­ze Rei­he von ihm li­tho­gra­phier­ter und beim Düs­sel­dor­fer Ver­lag Arnz er­schie­ne­ner Stamm­buch­blät­ter mit Mo­ti­ven aus Bonn, dem Bon­ner Um­land so­wie mit Dar­stel­lun­gen aus dem Stu­den­ten­le­ben er­hal­ten, Re­sul­ta­te sei­ner Aus­bil­dung am Vor­läu­fer der spä­te­ren Düs­sel­dor­fer Kunst­aka­de­mie. Sei­ne me­di­zi­ni­sche Dis­ser­ta­ti­on (er­schie­nen 1823) wid­me­te er sei­nem da­ma­li­gen Freund und spä­te­ren Pro­fes­sor für ka­tho­li­sche Kir­chen­ge­schich­te in Bonn, Jo­hann Wil­helm Jo­sef Braun. In der Zeit bis zur Ap­pro­ba­ti­on (1828) war er pu­bli­zis­tisch tä­tig, un­ter an­de­rem ver­fass­te er zwei po­pu­lär­wis­sen­schaft­li­che me­di­zi­ni­sche Bü­cher.

Im Fe­bru­ar 1829 er­öff­ne­te Dr. med. Jo­seph Neun­zig ei­ne Arzt­pra­xis in Ger­res­heim (heu­te Stadt Düs­sel­dorf). Im glei­chen Mo­nat hei­ra­te­te er Jean­net­te (spä­ter An­na Ma­ria Jo­han­na) Kauffmann (1800-1841), Toch­ter des jü­di­schen Bon­ner Kauf­manns Mo­y­ses Sus­mann Kauffmann und Mut­ter des ge­mein­sa­men Soh­nes Carl Au­gust (ge­bo­ren 1824), nach­dem Mut­ter und Sohn zu­vor zum Ka­tho­li­zis­mus kon­ver­tiert und in der Düs­sel­dor­fer Pfarr­kir­che St. Lam­ber­tus ge­tauft wor­den wa­ren. Im Ok­to­ber 1829 wur­de ei­ne Toch­ter Jean­net­te ge­bo­ren. 1841 hei­ra­te­te der Wit­wer in zwei­ter Ehe die aus ei­ner alt­ein­ge­ses­se­nen Ger­res­hei­mer Fa­mi­lie stam­men­de Jo­se­fa Türffs. Sie starb be­reits 1844 nach der Ge­burt ei­nes Soh­nes, der die Mut­ter nur zwei Wo­chen über­leb­te.

Trotz sei­nes an­ge­se­he­nen Be­rufs leb­te Neun­zig mit sei­nen bei­den Kin­dern in be­schei­de­nen Ver­hält­nis­sen. Die Acker­bür­ger­stadt Ger­res­heim mit ih­ren rund 4.500 Ein­woh­nern, im Jah­re 1843, da­von ein Drit­tel in der Stadt selbst, konn­te nur für ei­nen be­schei­de­nen Wohl­stand sor­gen. Im Zu­ge der durch Ger­res­heim füh­ren­den ers­ten west­deut­schen Ei­sen­bahn­stre­cke (Düs­sel­dorf-El­ber­feld) ab 1838 be­gann die An­sied­lung ers­ter klei­ner In­dus­trie­an­la­gen und da­mit ein­her­ge­hend ein Wan­del der Wirt­schafts- und So­zi­al­struk­tur des Or­tes. Neun­zig war und blieb als nie­der­ge­las­se­ner und „Ge­mein­de-Ar­men-Arzt" in Ger­res­heim tä­tig. Sei­ne Toch­ter ver­hei­ra­te­te sich mit dem aus dem El­sass stam­men­den Un­ter­neh­mer Franz Ignatz Dre­her (1823-1894), der als In­dus­trie­pio­nier Ger­res­heims gilt. Der Sohn Carl Au­gust war als mä­ßig er­folg­rei­cher Kauf­mann in Ber­lin tä­tig.

An­fang April 1848 wur­de Neun­zig für das so ge­nann­te Vor­par­la­ment no­mi­niert;, sei­ne (so­zi­al-)po­li­ti­schen In­ter­es­sen wa­ren be­kannt. Neun­zig stand sei­ner­zeit in Kon­takt zu Fer­di­nand Las­sal­le (1825-1864) und lässt sich als Teil­neh­mer po­li­ti­scher Ver­samm­lun­gen nach­wei­sen.

In Düs­sel­dorf es­ka­lier­te die Si­tua­ti­on ins­be­son­de­re im Früh­jahr 1849: am Abend des 9. Mai kam es zu blu­ti­gen Aus­ein­an­der­set­zun­gen, bei de­nen, so die spä­te­re An­kla­ge, Neun­zig zum Wi­der­stand ge­gen die Ob­rig­keit auf­ge­ru­fen ha­ben soll. Es wur­den Bar­ri­ka­den er­rich­tet, es kam zu Ge­fech­ten: 14 To­te und zahl­rei­che Ver­letz­te wa­ren das blu­ti­ge Re­sul­tat die­ses nächt­li­chen Kamp­fes.

Bei Pro­zess­be­ginn ge­gen die „Rä­dels­füh­rer" in Düs­sel­dorf im Au­gust 1849 war Neun­zig flüch­tig. Sein Steck­brief war im Düs­sel­dor­fer Amts­blatt zu le­sen: „Grö­ße 5 Fuß, 3 Zoll; Haa­re hell­blond, dünn; Stirn hoch; Au­gen­brau­en hell­blond; Au­gen blau; Na­se klein; Mund ge­wöhn­lich; Bart röth­lich; Kinn rund; Zäh­ne gut; Ge­sicht voll; Ge­sichts­far­be ge­sund; Sta­tur ge­setzt."

Am 20.3.1850 en­de­te der Pro­zess ge­gen 20 An­ge­klag­te, dar­un­ter auch Neun­zig, der sich in der Zwi­schen­zeit den Be­hör­den ge­stellt hat­te. Das Ur­teil lau­te­te auf fünf Jah­re Zwangs­ar­beit, le­bens­läng­li­che Po­li­zei­auf­sicht und Ver­lust der Kriegs­denk­mün­ze von 1815. Sein Schluss­wort macht deut­lich, dass er kei­nes­falls mit ei­ner der­art dra­ko­ni­schen Stra­fe ge­rech­net hat­te. Alex­an­der von Hum­boldt (1769-1859) ver­wand­te sich nach­weis­lich für ihn, zu­nächst oh­ne Er­folg. Le­dig­lich die Um­wand­lung der Zucht­haus­stra­fe in Fes­tungs­haft be­deu­te­te ei­ne ge­wis­se Ver­güns­ti­gung. Zwei über­lie­fer­te Schrei­ben aus sei­ner Haft­zeit an sei­ne Toch­ter ge­ben ei­ne Vor­stel­lung von sei­nem Le­ben in der Fes­tung We­sel. Nach sei­ner Ent­las­sung kehr­te er nach Ger­res­heim zu­rück und nahm sei­ne Tä­tig­keit als Arzt wie­der auf.

Um das Jahr 1870 wird er sei­ne Pra­xis auf­ge­ge­ben ha­ben. Die Grün­dung des Deut­schen Kai­ser­rei­ches 1871 be­grü­ß­te er mit war­men Wor­ten „Das war es ja, wo­für ich zu ei­ner an­de­ren po­li­ti­schen Zeit ge­lit­ten" schrieb er. Und wei­ter: „ein und die­sel­be Hand­lung ist in der ei­nen Zeit ‚Las­ter’, in der an­de­ren ‚Tu­gend’", wo­mit er auf sei­ne Ver­ur­tei­lung auf­grund der Er­eig­nis­se von 1848/1849 an­spiel­te.

Po­li­tisch ge­se­hen war Pe­ter Jo­seph Neun­zig mitt­ler­wei­le na­tio­nal­li­be­ral, da­bei scharf an­ti­ul­tra­mon­tan ori­en­tiert. Vor al­lem je­doch war er ein Fa­mi­li­en­mensch, sicht­lich stolz über die „gu­te Par­tie" sei­ner En­ke­lin Jean­net­te, die im Jah­re 1873 den da­ma­li­gen Düs­sel­dor­fer Bei­ge­ord­ne­ten, spä­te­ren Bür­ger­meis­ter von Neuss und lang­jäh­ri­gen Land­tags­ab­ge­ord­ne­ten Carl Wen­ders (1841-1905), ei­nen Zen­trums­po­li­ti­ker, hei­ra­te­te. Dass Wen­ders von 1878 bis 1898 den Wahl­kreis Düs­sel­dorf im preu­ßi­schen Ab­ge­ord­ne­ten­haus ver­trat, er­leb­te Pe­ter Jo­seph Neun­zig je­doch nicht mehr; er starb am 4.3.1877 we­ni­ge Ta­ge vor sei­nem 80. Ge­burts­tag. Kurz zu­vor noch hat­te die Toch­ter ih­rem Bru­der ge­schrie­ben: „Der Va­ter ist noch im­mer der al­te, an Durst fehlt es ihm am Abend nicht…".

Sei­ne Hei­mat­stadt Düs­sel­dorf ehr­te ihn 1957 durch die Be­nen­nung ei­ner Stra­ße im Stadt­teil Ger­res­heim nach ihm; auf dem Ger­res­hei­mer Hei­mat­brun­nen von 1973 (Bild­hau­er Karl-Heinz Klein, Düs­sel­dorf) ist er durch ein Por­trät ver­ewigt.

Werke (Auswahl)

De san­gui­ne va­ri­is­que flui­dis ani­ma­li­bus ex­pe­ri­men­ta mi­cro­sco­pi­ca, Bonn 1823 (Dis­ser­ta­ti­on).
Der ge­sun­de Mensch oder kur­ze und gründ­li­che An­lei­tung sich vor Krank­hei­ten und herr­schen­den Seu­chen zu be­wah­ren, die Ge­sund­heit zu be­fes­ti­gen, den Kör­per und die Sin­ne zu stär­ken, so wie ein glück­li­ches und ho­hes Al­ter zu er­rei­chen, nebst ein­fa­chen Ret­tungs­mit­teln bei plötz­lich ent­stan­de­nen Un­glücks­fäl­len, und dem Ver­hal­ten bei Ver­let­zun­gen; ein not­hwen­di­ges und nütz­li­ches Büch­lein für Je­der­mann, auch für den Un­ter­richt der Ju­gend, Düs­sel­dorf 1825.
Sys­te­ma­ti­sche Dar­stel­lung ei­ner Kno­chen- und Mus­kel­leh­re, nebst ei­ner über den äus­se­ren Un­ter­schied der ver­schie­de­nen Men­schen­kör­per für an­ge­hen­de bil­den­de Künst­ler, Düs­sel­dorf 1827.

Nachlass

Nach­lass von Pe­ter Jo­seph Neun­zig im Stadt­mu­se­um Düs­sel­dorf. 

Literatur

Schlo­ß­ma­cher, Nor­bert, Hei­ne-Freund, Me­di­zi­ner und Re­vo­lu­tio­när. Der Arzt Dr. med. Pe­ter Jo­seph Neun­zig (1797-1877), in: Bo­dsch, In­grid (Hg.), Har­ry Hei­ne stud. Ju­ris in Bonn 1819/20 (Aus­stel­lungs­ka­ta­log), Bonn 1997, S. 37-78. - Un­we­sent­lich über­ar­bei­tet und er­wei­tert un­ter dem glei­chen Ti­tel, in: Düs­sel­dor­fer Jahr­buch 68 (1997), S. 88-139.
Schlo­ß­ma­cher, Nor­bert, Pe­ter Jo­seph Neun­zig (1797-1877), Li­tho­graph, Me­di­zi­ner und Re­vo­lu­tio­när, in: Rhei­ni­sche Le­bens­bil­der 19 (2013), S. 107-134.

Online

De san­gui­ne va­ri­is­que flui­dis ani­ma­li­bus ex­pe­ri­men­ta mi­cro­sco­pi­ca, Bonn 1923 (Di­gi­ta­le Vor­la­ge der Dis­ser­ta­ti­on Neun­zigs von der Uni­ver­si­täts- und Lan­des­bi­blio­thek Düs­sel­dorf). [On­line]

 
Zitationshinweis

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Schloßmacher, Norbert, Peter Joseph Neunzig, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/peter-joseph-neunzig/DE-2086/lido/57c9539b3d91d6.18336983 (abgerufen am 17.04.2024)