Aufbau West - Die Ansiedlung der nordböhmischen Glasindustrie in Euskirchen und Umgebung
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1. Die nordböhmische Glasindustrie mit ihrem Produktionsschwerpunkt in Haida-Steinschönau
„Nichts Anderes hat den Namen Böhmen soweit in die Welt getragen wie sein Glas“, mit diesen Worten wies Edmund Schebek im Jahr 1878 auf die Bedeutung eines der dominierendsten Industrie- und Handwerkszweige Böhmens hin[1].
Glasindustrie und Handel gingen in dieser Region aus dem Glashüttenbetrieb in den holzreichen Wäldern des Landstriches hervor und reichen bis ins 13. Jahrhundert zurück. Die Dominanz Nordböhmens als Raffinationszentrum verstärkte sich im 19. Jahrhundert. Im Jahre 1841 hatten von den 69 Glasraffinerien Böhmens 54 im Kerngebiet von Haida und Steinschönau ihren Sitz[2]. Diese Zahl wuchs stetig, im Jahr 1937 zählte man 270 dort ansässige Glasfirmen[3]. Die Region Haida-Steinschönau galt als Hauptexportzentrum böhmischen Hohlglases, deren Exportrate im Jahr 1938 bei 85 Prozent lag. Die Glasveredelung war in der Region der wichtigste Wirtschaftszweig. Nahezu das gesamte gewerbliche Leben wurde durch sie bestimmt. Produziert wurden Glasbehältnisse aller Art, jährlich 100 neue Formen mit vier oder mehr verschiedenen Dekoren. Gerade dieses umfangreiche Sortiment zog Einkäufer aus aller Welt immer wieder in die Region. Die meisten Glashütten produzierten Massenwaren, preiswerte und gefällige Artikel, die zum Export, vor allem nach Deutschland, England und Frankreich gedacht waren. Nur wenige der stets unter starkem wirtschaftlichem Druck arbeitenden Glasraffinerien konnten sich den Luxus einer eigenen künstlerischen Linie leisten. Doch es gab sie, die Glashütten, die Kunstgläser als Reproduktionen vergangener Stilepochen oder nach Fachschulentwürfen und Entwürfen der Wiener Werkstätten erzeugten. Bekannt waren Elias Palme in Steinschönau, die Glashütte Hantich in Haida oder die Firma Rasche aus Haida, für die Designer künstlerische Entwürfe lieferten. Maßgeblich beteiligt an den künstlerischen Leistungen der Glasveredelungsindustrie von Haida-Steinschönau waren die Glasfachschulen in diesen Orten. Durch ihre Nachwuchsausbildung wirkten sie prägend auf die Produktion der nordböhmischen Glasindustrie. Prägend war jedoch auch, dass gerade im Raum Haida-Steinschönau das Glasveredelungsgewerbe in vielen Heimarbeiterwerkstätten ausgeübt wurde. Im Zusammenspiel von handwerklichen Hausgewerbebetrieben und großen Firmen, der räumlichen Konzentration vieler Betriebe in Verbindung mit Rohglashütten, dem Fachschulwesen, das neben der Nachwuchsschulung wichtige gewerbefördernde Impulse gab, und dem Warensortiment, das aus hochwertigen Kunstglasprodukten und preiswerten Massenartikeln bestand, lag die Einzigartigkeit und Bedeutung der Glasproduktion im Raum Haida-Steinschönau.
2. Die nordböhmische Glasindustrie in den Händen der Sudetendeutschen und ihre Vertreibung
Als 1918 die erste tschechoslowakische Republik errichtet wurde, setzte sich der Sammelbegriff Sudetendeutsche für alle Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien durch. Nach einer Volkszählung des Jahres 1930 zählten 60 Prozent aller Berufszugehörigen in der tschechoslowakischen Glasindustrie zur Gruppe der deutschen Volkszugehörigen, während ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung 32 Prozent betrug. Mit dem Münchener Abkommen von 1938 erreichte es Adolf Hitler (1889-1945), dass alle sudetendeutsche Gebiete an das Deutsche Reich abgetreten wurden und mit der Besetzung der „Rest-Tschechei“ setzte er faktisch der tschechoslowakischen Republik ein Ende. Die Ausweisung der Sudetendeutschen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs durch die Tschechen wurde von Anfang an als Antwort darauf verstanden. Edvard Beneš (1884-1948), Präsident der tschechoslowakischen Exilregierung, suchte bereits ab 1942 die Zustimmung der britischen, amerikanischen und sowjetischen Regierungen für seine Nachkriegspläne, denen die Alliierten dann endgültig im Sommer 1945 zustimmten. Offen geblieben war zunächst die Frage, welches Ausmaß die Ausweisung der Deutschen aus der neuen Tschechoslowakei haben sollte, ob davon nur aktive nationalsozialistische und großdeutsch gesinnte Personen betroffen sein oder ob eine radikale Lösung des Minderheitenproblems angewendet werden sollte. Schrittweise wurden jedoch nach der Konstituierung einer neuen tschechischen Republik alle Maßnahmen gesetzlich vorbereitet, alle Deutschen ohne Frage nach der Schuld abzuschieben. Das Vermögen „staatlich unzuverlässiger“ Personen wurde unter „nationale Verwaltung“ gestellt. Damit konnte entschädigungslos das Vermögen der Sudentendeutschen konfisziert werden. Alle deutschen Unternehmen wurden zu Staatseigentum erklärt und erhielten tschechische Verwalter mit diktatorischen Vollmachten. Oftmals fehlte diesen jedoch die fachliche Kompetenz zur Leitung der Unternehmen. Diskriminierende Repressalien richteten sich gegen Deutsche (Kennzeichnung mit einer weißen Armbinde mit dem Buchstaben N (Nĕmec = Deutscher), Benutzungsverbot öffentlicher Verkehrsmittel, Herabsetzung der Lebensmittelzuteilungen, Einschränkung der Ausgangszeiten, Schließung der deutschen Schulen mit gleichzeitigem Aufnahmeverbot für Kinder deutscher Volkzugehörigkeit in tschechische Schulen, Zwangsverpflichtungen zu Aufräumarbeiten usw. Eine weitere Strafmaßnahme bildete die systematische Internierung in Lagern. In einer Note vom 16. August 1945 teilte die tschechische Regierung dem Alliierten Kontrollrat mit, dass 2,5 Millionen Deutsche für die Ausweisung aus der Tschechoslowakei vorgesehen seien. Von diesen 2,5 Millionen sollten nach Beschluss des Kontrollrates 1.750.000 im amerikanischen Sektor und 750.000 im sowjetischen Sektor Aufnahme finden. Die organisierten Ausweisungen begannen im Januar 1946. Die Auszuweisenden waren mit ausreichender Kleidung, 50 kg Gepäck, Proviant für drei Tage und unter Berücksichtigung der Zusammengehörigkeit von Familien zu versehen und wurden in die Aufnahmelager transportiert. Im November 1946 wurde die Ausweisung in die westlichen Besatzungszonen eingestellt, weil alle Unterbringungsmöglichkeiten für die Neuankommenden erschöpft waren. Am 10. Juni 1946 hatte die Ausweisung in die sowjetische Besatzungszone eingesetzt. Nach November 1946 befanden sich immer noch Tausende von Männern, deren Familien bereits ausgewiesen waren, sowie Familien, deren männliche Angehörige aus der Kriegsgefangenschaft nicht mehr in die ČSR zurückkehren konnten, dort. Bis 1949 konnten im Rahmen der Familienzusammenführung noch viele Sudetendeutsche die ČSR verlassen. Insgesamt sind bis 1950 2,9 Millionen Sudetendeutsche abgeschoben worden[4].
Durch diese Umsiedlungsaktion war das Sudetenland entvölkert worden. Arbeitskräftemangel und wirtschaftliche Not kennzeichneten die Region bis in die 1960er Jahre. Die Betriebsgebäude der Glasindustrie wurden zum größten Teil stillgelegt und abgerissen, nur wenige von Tschechen weiter betrieben. Von den 55 Betriebsstätten der Haidaer Region, die 1948 nach der Verstaatlichung in das neugegründete Nationalunternehmen Borocrystal eingegliedert worden waren, wurden bis 1951 30 aufgelöst. Die Glasfachschulen in Haida (Nový Bor) und Steinschönau (Kamenický Senov) wurden unter tschechischer Leitung fortgeführt. Erst in den 1960/70er Jahren begann eine Rekonstruktion älterer Betriebe.
2.1 Ein Beispiel: Die Vertreibung des Besitzers der Glashütte Hantich & Co. in Haida, Ernst Hantich (geboren 1893 in Höflitz)
Eine der innovativsten Glashütten war die Flora-Hütte von Ernst Hantich in Haida. Sie fertigte nicht nur nach den Entwürfen der Haidaer Glasfachschule, sondern stand auch in intensiver Beziehung zur Wiener Werkstätte und realisierte deren Formenentwürfe. Auf den Gesellschafter Rudolf John ging eine eigene Erfindung, das Johnolyth-Glas, zurück.
Am 24. Mai 1945 wurde Ernst Hantich in Haida verhaftet. Schon zuvor hatten tschechische Aufsichtsbeamte die Kontrolle in der Glashütte übernommen. Nun wurde er verpflichtet, tagsüber die Leitung der Hütte zu übernehmen, nachts war er im Internierungslager Böhmisch-Leipa inhaftiert. Seine Ehefrau wurde zwangsverpflichtet, in einer tschechischen Soldatenküche zu arbeiten, der 14-jährige Sohn zur Zwangsarbeit in einer Zuckerrübenfabrik verschickt. Die 11-jährige Tochter durfte keine Schule mehr besuchen und auch keinen Privatunterricht erhalten. Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmungen der Möbel folgten. Die Villa musste verlassen werden, eine möblierte Wohnung wurde ihnen zugewiesen. Ernst Hantich wurde im April 1946 von einem tschechischen Volksgericht zu zehn Jahren Haft verurteilt. Ein Kontakt zur Familie wurde ihm alle sechs Wochen gewährt. Am 6. Juli 1946 erhielt die Familie Hantich die Nachricht, dass sie am nächsten Morgen mit einem Transport nach Deutschland ausgewiesen werden solle. Vier Tage warteten sie im Durchgangslager Böhmisch-Leipa, bis sie die Heimat verließen, ohne den Vater, der einem ungewissen Schicksal überlassen blieb. Nach einigen Stationen endete die Ausweisung im thüringischen Gehlberg, wo die Kinder die Schule besuchen konnten und die Mutter in einer Fabrik arbeitete, um den Lebensunterhalt zu verdienen. Am 25. September 1950 erreichte die Familie plötzlich die Nachricht von der Freilassung des Vaters, der in die Bundesrepublik ausgewiesen worden war. Ernst Hantich war in Euskirchen in die kurz vorher gegründete Jola-Hütte, geleitet von Rudolf John und Hantichs Schwager Johann Laubner, eingestiegen und versuchte einen Neubeginn. Im November erhielt die Familie nach vielen Schwierigkeiten einen Interzonenpass und konnte Thüringen verlassen, um nach Euskirchen überzusiedeln[5].
3. Die Neuansiedlung im Westen
Für die Aufnahme der Sudetendeutschen hatten die Alliierten in der amerikanischen Besatzungszone die Länder Bayern, Württemberg und Hessen sowie die sowjetische Besatzungszone bestimmt. Schon bald nach der Ausweisung begannen die Raffineure aus der Region Haida-Steinschönau mit der Wiedererrichtung ihrer Betriebe, sobald Räumlichkeiten, Kapital oder die Zustimmung eines Gemeinde- oder Stadtrates es zuließen. Dies war mit größten Schwierigkeiten verbunden, denn Bankguthaben, Produktionsmittel, Kundenkarteien, Musterbücher usw. waren in der ČSR geblieben. Bereits vor der Währungsreform erfolgten zahlreiche Neugründungen der ehemals nordböhmischen Glasveredlungsbetriebe - zu einer Zeit, als weder Soforthilfegesetz noch Lastenausgleichsgesetz existierten. Das Kapital der neugegründeten Betriebe war gering, dem gegenüber standen der eiserne Aufbauwille ihrer Inhaber, unternehmerische Initiative und Erfahrung. Öffentliche Förderungsmaßnahmen folgten, dennoch erwies es sich als schwierig, die nun verstreut lebenden Fachkräfte wieder einzusammeln und Zuzugsgenehmigungen zu erhalten[6]. Die größte Gruppe der Haidaer-Steinschönauer Glasveredelungsindustrie hatte sich im bayerischen Kreis Vohenstrauß eingefunden; sie suchten die Nähe der Glasfachschule Zwiesel. Eine geschlossene Ansiedlung wurde im Bayerischen Wald angestrebt. Doch auch das der Westen von Nordrhein-Westfalen wurde von den nordböhmischen Glasveredlern trotz großer Kriegszerstörungen als attraktiver Standort gesehen. Im August 1946 wandte sich ein Beauftragter der früheren Gablonzer Schmuckwarenindustrie an die Landesregierung in Düsseldorf, um über die Ansiedlung einer geschlossenen Gruppe sudentendeutscher Glasveredler in der britischen Zone zu verhandeln[7]. In der Landesplanungsgemeinschaft Rheinland hielt man anfänglich die Standorte Monschau und Schleiden für geeignet. Doch der Einsatz des Rheinbacher Stadt- und Amtsdirektors, Dr. Viktor Römer (geboren 1900 in Bitburg, gestorben 1963 in Rheinbach), überzeugte die Landesplanungsgemeinschaft und das Wirtschaftsministerium von einer Standortwahl auf der Schiene Bonn-Land, Rheinbach, Euskirchen und Düren. Am 4. Dezember 1946 beschloss der Industrieausschuss in Düsseldorf einstimmig die Ansiedlung der nordböhmischen Glasindustrie in diesem Raum und versprach Hilfe bei der Beschaffung von Wohn- und Betriebsräumen sowie von Rohstoffkontingenten. Geleitet wurde der Ansiedlungsplan von dem Gedanken, eine Konzentration der nordböhmischen Glasindustrie in NRW zu schaffen, um Tradition und Können dieser Vertriebenengruppe für den Wiederaufbau der Wirtschaft zu nutzen. Die Nähe zu den früheren westlichen Exportländern der nordböhmischen Glasindustrie spielte ebenfalls eine entscheidende Rolle. In Rheinbach sollten ab Februar 1947 zunächst sieben Betriebe mit 50 bis 80 Familien angesiedelt werden. Existenzfähig und förderungswürdig war der neue Industriezweig jedoch nur, wenn großräumig geplant wurde, unter Einbeziehung der Landkreise Bonn, Euskirchen und Düren. Rheinbach war darüber hinaus als Standort einer Glasfachschule, einer zu gründenden zentralen Aufbaustelle und einer Rohglashütte im Gespräch. Mit Kabinettsbeschluss vom 3. September 1947 erfolgte die feierliche Einweihung der Glasfachschule durch Ministerpräsidenten Karl Arnold im Rheinbacher Rathaus, die zugleich der offizielle Start der Neuansiedlung war. Die Staatliche Glasfachschule galt als die Nachfolgerin der früheren Staatsfachschule für Glasveredlung in Steinschönau. Nahezu der komplette Lehrkörper dieser Schule wurde in Rheinbach wieder angestellt. Zuständig für Planung und Leitung der Neuansiedlung war seit August 1947 die Aufbau- und Verwaltungsstelle in Rheinbach. Sie entschied über die Ansiedlung eines Glasveredelungsbetriebs und seine Zuweisung in einen bestimmten Ort des Planungsgebietes. Sie wählte die Firmen aus, sammelte die in Deutschland versprengt lebenden Facharbeiter und Firmen, kümmerte sich um Produktionsgenehmigungen, beschaffte Wohnungen und Werkstätten und stellte die Rohglasbasis sicher. Die als bürgerlich-rechtliche Gesellschaft arbeitende Aufbaustelle nahm eine starke Position ein und machte die Stadt Rheinbach zum Zentrum der Neuansiedlung[8], von der Stadt Euskirchen mit Argwohn gebilligt, denn auch sie war als Zentrum mit der Gründung einer Glasfachschule und einer Glashütte zur Rohglaslieferung für alle neuen Betriebe im Gespräch gewesen. Bis März 1948 hatten sich im Planungsgebiet insgesamt 20 Glasveredlungsfirmen mit 465 Personen angesiedelt, davon entfielen auf den Amtsbezirk Rheinbach elf Firmen mit 91 Fachleuten und 273 Personen[9].
Zum 1. Februar 1949 ging die Funktion der Aufbaustelle an eine Interessengemeinschaft über, deren Gesellschafter die Kreise Bonn, Euskirchen, Düren und Schleiden, die Städte Rheinbach und Euskirchen, die Gemeinde Blankenheim, die Vereinigung der böhmischen Glasveredler in Rheinbach[10], die Gablonzerindustrie, vertreten durch die Firma Fischer & Schobel in Ahrdorf (Gemeinde Blankenheim), die IHK Aachen und Bonn, die Handwerkskammer Köln und der Leiter der Staatsfachschule für Glas- und Keramische Industrie in Rheinbach waren[11].
4. Die Ansiedlung in Euskirchen
Im zu 75 Prozent kriegszerstörten Euskirchen war die Beschaffung von Wohnraum und Betriebsstätten für das Ansiedlungsprojekt das vordringlichste Problem. Erst im September 1947, gleichzeitig mit dem Kabinettsbeschluss, setzte die Stadtverwaltung die Wohnraumbeschaffung für 20 Glasbläserfamilien auf ihre Prioritätenliste[12]. Zwei Firmen waren zunächst für den Standort Euskirchen bestimmt worden: F. A. Knittel „Rheinerzer Kristallglaswerke“ und Posselt & Sohn. Beide Firmen wurden am Anfang provisorisch untergebracht und man bemühte sich um Sonderkontingente für die Beschaffung von Baustoffen. Im Mai 1948 konnten elf Nissenhütten an der Erft in der Gegend des städtischen Schlachthofes für die Mitarbeiter der Fa. Knittel aufgestellt werden[13]. In den nächsten Jahren mehrten sich die Anfragen in Euskirchen. Im Oktober 1948 sollten weitere Glasveredlungsbetriebe angesiedelt werden, außerdem war Euskirchen als Standort für zwei Glashütten bestimmt worden. Bis dahin waren die Facharbeiter der Firmen Posselt, Knittel und Rasche teilweise noch in Massenquartieren untergebracht, so bei Knittel in der Turnhalle des Erziehungsheims, bei Rasche im Fabrikgebäude in der Gerberstraße 31 und bei Posselt teilweise in den Räumen der Flakhalle an der Frauenbergerstraße. Mit Fördergeldern und Darlehen des Landes NRW und dem Siedlungsprogramm der Rheinischen Heimstätten entstanden in den nächsten Jahren Kleinsiedelungen mit circa 80 Wohnungen für die Facharbeiter der Glasindustrie[14].
5. Die Euskirchen Glasveredlungsfirmen
Während in Rheinbach die Ansiedlung der Glasveredler wuchs und mit der Staatlichen Glasfachschule ein festes Standbein hatte, waren die Anfänge in Euskirchen eher bescheiden.
Der Betrieb Josef Posselt’s Glasfabrikation war 1870 in Blottendorf gegründet worden. Vor dem Zweiten Weltkrieg wurde der Firmensitz nach Haida verlegt. Nach der Vertreibung aus der Tschechoslowakei erfolgte zunächst eine Neugründung in Wasungen im Thüringer Wald. Anfang 1947 sollte die Firma in Rheinbach angesiedelt werden, doch im August kam die Nachricht der Verzögerung. In der russischen Zone waren der Firma Schwierigkeiten entstanden wegen einer unerlaubten Betriebsverlagerung in den Westen. Auch die von der Aufbaustelle zugesagten Bemühungen, alle Facharbeiter, die noch in der russischen Zone waren, umzusiedeln, waren im Sande verlaufen.
In Euskirchen meldete Irmfried Posselt (geboren 1906 in Haida) die Firma Josef Posselt Sohn GmbH zur Erzeugung und zum Export Böhmischer Hohlglaswaren, Malerei, Schliff und Glasur am 14. Juni 1948 in der Frauenberger Straße 154 an. Nach einem Umzug 1954 innerhalb Euskirchens kam es 1958 zur Verlegung nach Rheinbach.
Die Firma F.(ranz) A.(ugust) Knittel, Reinerzer Kristallglaswerke, ursprünglich beheimatet in Bad Reinerz (Schlesien), war bekannt und berühmt für die Herstellung ihrer Kristallgläser, die in viele europäische Länder sowie nach Südafrika und Südamerika exportiert wurden. 1939 waren bei den gesamten Reinerzer Kristallglaswerken 857 Mitarbeiter beschäftigt. Die Ansiedlung dieser Firma war für Euskirchen vorgesehen und ein Zuzug für 22 Familien beantragt. In der Baumstraße 27 wurde der Betrieb im Juni 1948 angemeldet, doch schon 1951 zog die Firma Knittel nach Bad Ems um.
Im Dezember 1947 suchte die Stadt Euskirchen Kontakt zu Rudolf Rasche (geboren 1904 in Haida), dem ehemaligen Inhaber der Firma Adolf Rasche, einer der bedeutendsten Glasveredelungsbetriebe im Haidaer Gebiet. „Einem Betrieb, der nach Umsatz und Ruf im In- und Ausland das Beste darstellt, was die sudetendeutsche Glasveredelungsindustrie je an seriösen Firmen hervorgebracht hat“, schwärmte man in Euskirchen und hoffte, durch die Anwerbung dieses Hauses die Vormachtstellung Rheinbachs wettzumachen. Tatsächlich sprach Rudolf Rasche im Mai 1948, nach seiner Rückwanderung, in Euskirchen vor mit der Absicht, sich dort niederzulassen. Man konnte ihm ein Fabrikgebäude mitten in der Stadt an der Gerberstraße 31 anbieten, wo die Produktion Ende November begann. An diesem Standort blieb der Glasveredelungsbetrieb bis zu seinem Umzug in die Franz-Sester-Straße 35 im Jahre 1959. Adolf Rasche entwarf seine Glasformen selbst, bezog sie als Rohlinge und veredelte sie dann. Dabei beherrschten die bei Rasche angestellten böhmischen Kugler, Graveure und Glasmaler alle traditionellen böhmischen Schliffe und Muster. Eine besondere Spezialität waren Gläser mit Hirschen nach „Egermann-Muster“[15] sowie Rubinglas, das zu den streng gehüteten Herstellungsgeheimnissen der aus dem Sudetenland stammenden Firmen gehörte. Im Jahr 1960 stellten nur noch drei Firmen in der BundesrepubIik das echte Rubinglas her, eine davon war Adolf Rasche in Euskirchen[16]. Für den Export nach Europa und Übersee waren Gläser, Pokale und Vasen bestimmt mit gravierten Postkutschen, gemalten Jagdmotiven, italienischen Landkarten, rubinrot mit goldenen Sternen und Lilien oder einem „Prosit“ in 18 Sprachen[17]. 1974 beschäftigte Rasche 20 Arbeitskräfte. Die Firma existiert bis heute.
Die Nordböhmische Kristallglasraffinerie und Lüsterfabrik in Zülpich–Langendorf wurde 1948 von den drei nordböhmischen Kaufleuten Anton Hoidn, Rudolf Herbert Kaspar und Theodor Palme in einer ehemaligen Flakhalle gegründet. Anton Hoidn hatte bereits 1940 in Ulrichstal eine Glasraffinerie eröffnet, die bis 1945 bestand. Theodor Palme war in seinem Heimatort Parchen in einer Lüsterfabrik tätig gewesen, und Rudolf H. Kaspar arbeitete bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs als Betriebsleiter in der Glasfabrik Rückl (Steinschönau). In den 1950er Jahren wurde – nach Ausscheiden des Mitinhabers Palme – die Leuchtenproduktion eingestellt. Im Jahre 1972 verkaufte der Betriebsinhaber Rudolf H. Kaspar (Schwiegersohn von Anton Hoidn) aus Altersgründen die Firma an Eduard Klinger aus Haida, der Ende der 1940er Jahre bereits als Glasgraveur im Betrieb gearbeitet hatte. Nach seiner Fortbildung zum Hüttentechniker an der Ingenieurschule in Essen war Eduard Klinger in verschiedenen Glashütten (Peill & Putzler, Taube) tätig gewesen, bis er 1972 die Kristallglasraffinerie Hoidn/Kaspar übernahm. Auch er stammte aus einer traditionellen nordböhmischen Glasveredlerfamilie, die sich seit mehreren Generationen diesem Gewerbe widmete. Veredelt wurde in der betriebseigenen Schleiferwerkstatt hochwertiges Bleikristall und Überfangkristall nach eigenen Hüttenformen mit klassischen böhmischen Schliffdekoren und moderner Gestaltung. Die Kristallraffinerie Klinger setzte auch insofern ihre nordböhmische Firmentradition fort, als sie 90 Prozent ihrer Produktion exportierte, hauptsächlich in den asiatischen Raum[18].
In Mechernich-Obergartzem wurde die Firma Krautz mit fünf Glasfacharbeitern angesiedelt.
6. Die Versorgung mit Rohglas und der Aufbau der Glashütten
Von Beginn an stellte die Versorgung der Glasraffineure mit Rohglas das größte Problem dar. 1947 befürchtete die Landesplanungsbehörde sogar ein Scheitern des gesamten Projektes aufgrund der fehlenden Rohglasbasis. Durch die Initiative der Landesregierung in Düsseldorf kam dann ein Liefervertrag mit der Glashütte Peill & Putzler in Düren für zwei Jahre zustande, der verknüpft war mit einer Zusage, 25 Arbeitskräfte und Baustoffe für deren Wiederaufbau zu stellen. Bislang hatte die Glashütte in Düren ihr Rohglas selbst veredelt und unterschied sich gravierend von der nordböhmischen Tradition. Peill & Putzler war auf eine serielle Wirtschaftsglasproduktion eingerichtet, so dass wenig Interesse an der Abgabe von Rohglas bestand. Formen und Sorten des zu liefernden Glases sollte die Aufbaustelle in Rheinbach bestimmen, doch die Dürener Hütte beschränkte ihre Lieferungen auf nur wenige Formen, die von allen genutzt werden mussten. Verständlich und zu erwarten waren nun die Probleme zwischen den nordböhmischen Glasraffineuren und der Dürener Hütte. Sie beklagten, dass die Rohglaspalette bei weitem nicht den Möglichkeiten entsprach, die in Böhmen zur Verfügung gestanden hatten. Hauptsächlich wurden Scherfuß- und Kugelvasen in verschiedenen Größen, Schalen und eine Sorte Kelchglas geliefert, und das alles in einem grünstichigen Glas. Peill & Putzler hingegen argumentierte, dass bei ihnen die böhmischen Fachkräfte fehlten, um die Produktion umzuorganisieren[19]. Darüber hinaus widmeten sich die nordböhmischen Glasraffineure nicht wie vereinbart dem Exportgeschäft, sondern machten der westdeutschen Glasindustrie mit ihren Massenprodukten Konkurrenz. Im April 1949 stellte die Glashütte Düren ihre Lieferungen an die im Raum Rheinbach-Euskirchen angesiedelten Glasveredler ganz ein[20]. Vorübergehend konnten Bestellungen bei der Hessenglashütte die Lücke schließen. Der Wunsch nach einer eigenen Glashütte wurde immer dringlicher.
Die wirtschaftliche Chance für die Stadt Euskirchen lag in der Errichtung einer Glashütte. Von Seiten der Landesregierung war Euskirchen ab 1948 als Standort einer Glashütte zur Belieferung der angesiedelten Firmen mit Rohglas vorgesehen. Am 10.7.1948 schrieb die Stadt an den Oberdirektor des Wirtschaftsrates der Bizone in Frankfurt, Hermann Pünder: Euskirchen sei von Seiten der Regierung als Standort der Glashütte festgelegt worden. Die Entscheidung läge jedoch beim Wirtschaftsrat in Frankfurt, da ein „numerus clausus“ für Hüttenbau bestand. Thomas Eßer (geboren 1870 in Schwerfen, gestorben 1948 in Euskirchen), Bürgermeister der Stadt Euskirchen in den Jahren 1946 und 1947, drängte auf eine Entscheidung und argumentierte, dass im Sinne der Glasveredler, diese, um wettbewerbsfähig und exportfähig zu werden, existenziell eine Glashütte benötigten, die 50 bis 100 verschiedene Formen in guter Qualität und Quantität liefern könne. Dazu sei die Dürener Hütte nicht im Stande. Sie liefere nur rund zwölf Formen, Variationen schließe dies aus, so dass praktisch jeder Glasveredler dasselbe herstelle. Die gewünschten Bleikristalle und bunten Gläser, die im Ausland gefragt seien, könnten nicht hergestellt werden. So bliebe der junge Produktionszweig in den Kinderschuhen und ein wirtschaftlicher Erfolg stelle sich nicht ein[21].
Seit April 1948 strebten der Kaufmann und Hüttenfachmann Rudolf John (geboren 1896 in Glasert) und der Hüttenchemiker Johann Laubner (geboren 1890 in Falkenau, gestorben 1958 in Euskirchen) den Aufbau einer Hütte in Euskirchen an. Gemeinsam waren sie vor der Vertreibung an der Hütte Hantich & Co. in Haida beteiligt gewesen. In Haida waren sie erfolgreich mit Johns Erfindung, dem bereits erwähnten Johnolythglas, gewesen, das vor allem für den Export hergestellt wurde. Dieses Konzept wollten sie auf Euskirchen übertragen, denn es lagen bereits feste Aufträge für einen Englandexport vor. John und Laubner versprachen, circa 100 Arbeitsplätze zu schaffen, benötigten eine Grundstücksfläche von 2.000 m² und wollten innerhalb von sechs Monaten mit dem Bau fertig sein. Sehr entgegen kam der Stadt Euskirchen der Plan, die Öfen der Glashütte mit Gas zu betreiben, denn Euskirchen versuchte den Wiederaufbau der städtischen Gasanstalt mit dem Bau einer Ferngasleitung von Bonn nach Euskirchen zu realisieren und vor allem zu finanzieren.
Der zweite Interessent war der Hüttenfachmann Adolf Stubbe (geboren 1902 in Königshütte) mit seinem Bruder Walter, die in Schlesien vor dem Kriegsende zwei Hütten besessen hatten und einen erfolgreichen Wiederaufbau in Allendorf a. d. Lahn mit einem Betrieb, in dem 120 Arbeiter beschäftigt waren, geschafft hatten. Für ihre neue Hütte in Euskirchen benötigten sie Fachkräfte, einen Gleisanschluss und ein Gelände mit rund 10.000 m² Fläche. Am 6. Oktober 1948 kam ein Kaufvertrag für ein Grundstück zwischen der Stadtverwaltung und der Glashütte Stubbe zustande, um in der Glashütte Rohglas für die heimischen Glasveredler zu produzieren. Es sollten Gebrauchsgläser gefertigt werden. Mit dem Bau der Hütte sollte so schnell wie möglich begonnen werden, neben dem Gelände sollten drei bis vier Wohnungen für technische Kräfte entstehen. Mit dem Bau von 20 – 30 Wohnungen für die Facharbeiter sollte dann im Frühjahr begonnen werden. Das Ziel des Hüttenbaus war, in circa einem bis anderthalb Jahren etwa 300 Arbeiter zu beschäftigen, was einen zusätzlichen Wohnungsbau für circa 60 Wohnungen nach sich ziehen würde. Doch der Hüttenbau von Walter und Adolf Stubbe verzögerte sich, da er aus den Gewinnen des Allendorfer Betriebes finanziert werden wollte – ein schwieriges Unterfangen kurz nach der Währungsreform. Im Mai 1949 erklärte Walter Stubbe der Stadt Euskirchen, dass sein Bruder nach Euskirchen kommen wolle, um sich um den Hüttenaufbau zu kümmern, nachdem er die notwendige Umstellung des Allendorfer Betriebes durchgeführt habe. Erst im Mai 1952 war der Rohbau der Glashütte Stubbe fertiggestellt, am 1. September 1953 begann die Produktion am Eifelring in Euskirchen unter dem Firmennamen „Eifelglaswerk Berthahütte GmbH“ mit ihrem Geschäftsführer Adolf Stubbe. Sie existierte dort bis zum Jahr 1968.
In der Zwischenzeit war die kleinere Glashütte, die „Jola“ GmbH Glasfabrik Euskirchen, soweit fertiggestellt, dass am 18. November 1948 mit dem Einbau der Öfen begonnen werden konnte. In der ehemaligen Metallwarenfabrik Deutschbein, In den Benden 4, sollte nun Rohglas hergestellt werden. Benannt war die Hütte nach den beiden Inhabern John und Laubner. Der endgültige Hüttenausbau konnte erst beginnen, nachdem der im Herbst 1948 gewährte Kredit von 60.000 DM im Januar 1949 ausgezahlt wurde. Ein weiterer Kredit in Höhe von 29.000 DM folgte im November 1949[22]. Im Übrigen finanzierte sich die Jolahütte durch die Aufnahme von Gesellschaftern. Das zur Verfügung stehende Kapital erlaubte allerdings nicht den Bau einer Hütte von optimaler Betriebsgröße. Der anfänglich eingebaute Zweihafenofen genügte von vornherein den Ansprüchen der nordböhmischen Veredler nicht. Außerdem musste er auch noch auf Ölfeuerung umgestellt werden, da der Anschluss an die Ferngasleitung auf sich warten ließ. Im Juni 1949 war die Hütte betriebsfertig. Sie konnte jedoch noch nicht mit der Produktion beginnen, da es für die Belegschaft keine Wohnungen gab. Die Stadt Euskirchen baute zwar mit einem Kredit von 192.000 DM für die Hüttenfachleute zwei Zwölffamilienhäuser, in denen 18 Wohnungen für das Hüttenpersonal bestimmt waren. Doch das erste der beiden Gebäude wurde erst im Dezember 1949 bezugsfertig. Die Produktion in der Jolahütte konnte daher erst Ende November 1949 aufgenommen werden. Die ungewohnte Ölfeuerung und ein Konstruktionsfehler im Ofen brachten der Hütte im Monat Dezember 1949 noch erhebliche technische Schwierigkeiten. Ihre geringe Betriebsgröße - Ende Dezember hatte sie außer den beiden Geschäftsführern nur 14 Arbeitskräfte - bei einem täglichen Ausstoß von 500 kg Glas, stellte zudem ihre Rentabilität in Frage. Die neu angesiedelten Glasraffineure der Umgebung suchten Alternativen in Leichlingen und in Schleiden. Die Glashütte Leichlingen kam wegen der zu großen Entfernung nur bedingt in Frage. Bei der Schleidener Hütte handelte es sich um eine Filiale des in Kleintettau (Oberfranken) gelegenen Stammbetriebs. Im Juli 1949 hatte diese Hütte ihre Produktion aufgenommen und erzeugte seither braunes Verpackungsglas, das sich als Rohglas für die Glasveredelungsbetriebe nicht eignete. Eine weitere finanzielle Hilfe für die Jolahütte in Euskirchen war also unabdingbar[23]. Wegen eines erneuten Ofenschadens ruhte die Hüttenproduktion der Jola von Mai bis August 1950 abermals.
Als Ernst Hantich 1950 das Internierungslager in Böhmisch-Leipa verlassen hatte, stieg er in die Jola GmbH mit ein. Der erfahrene und erfolgreiche Unternehmer konnte jedoch die Probleme der Hütte, die von Beginn an bestanden, letztlich nicht lösen. Der im September 1950 neuerbaute Dreihafenofen steigerte die Produktion auf 900 kg. Im Januar 1951 wurden an den drei Werkstellen des Ofens rund 1.400 Stücke in 27 Formen und in drei verschiedenen Farben hergestellt. Beschäftigt waren in der Jolahütte zu Beginn des Jahres 1951 insgesamt 38 Arbeitskräfte, davon 16 Glasmacher[24] .
Eine im Januar 1950 vom Ministerium für Wirtschaft und Verkehr durchgeführte Betriebsprüfung der Jola ergab eine Überschuldung der Hütte von 100.000 DM[25]. Die Rheinbacher Glasveredler waren nur noch mit 20 Prozent am Auftragsbestand beteiligt. Hier zeigten sich allmählich die Finanzschwäche und der drohende Niedergang der in Rheinbach und Umgebung angesiedelten Gruppe. Größte Auftraggeber der Jolahütte waren die Firmen Metzler und Tschernich aus Hadamar. Als Sanierungsmaßnahme schlug der Betriebsprüfer die Errichtung eines zweiten Vierhafenofens vor, um die Produktionsbasis zu erweitern. Weitere hohe Kreditierungen aus Landesmitteln für Flüchtlinge folgten.
Im Jahr 1954 waren in der Jola-Hütte 110 Fachleute, die fast ausschließlich aus dem Sudetenland stammten, beschäftigt. Hergestellt wurde nur mundgeblasenes Hohlglas für Vasen, Trinkgläser, Lampenfüße und Kristallleuchter. Das hüttentechnisch hergestellte Glas wurde auch selbst veredelt. 75 Prozent der Jola Produktion war Farbenglas. Jola war die einzige Glashütte in Westdeutschland, die Alabasterglas und Hauchsilberglas herstellte und die einzige Hütte im Bundesgebiet, die Glas so vielseitig bearbeitete. Die Vielfalt der Verarbeitungsmöglichkeiten war immens. In der Formmacherei standen 10.000 verschiedene Formen zur Verfügung, von denen täglich 20 bis 60 benötigt wurden. Blumenvasen aus Alabaster in Form eines Korbes waren der Exportschlager für Australien, Lampenfüße aus Glas in New York begehrt[26] .
Ende 1956 gaben die Gesellschafter der Jola-Hütte auf, das Konkursverfahren war eingeleitet. Der 29-jährige Sudetendeutsche Kurt Wokan, ein Schulfreund des Sohnes von Ernst Hantich, verheiratet mit Ingrid Henlein, führte die Hütte dann unter dem Namen „Ingridhütte“ mit rasantem, jedoch zweifelhaftem Erfolg bis 1982 weiter[27] . Die Ingridhütte spielte jedoch für die im Raum Rheinbach-Euskirchen-Düren angesiedelten anderen Glasraffineure kaum eine Rolle, da sie ihr Rohglas selbst veredelte und auf große Serienproduktion ausgerichtet war.
7. Die Jolahütte und der Wiederaufbau der Gasversorgung
Das städtische Gaswerk in Euskirchen war bei einem Bombenangriff am 24. Dezember 1944 schwer beschädigt worden. Am Ende des Krieges waren die Gasversorgungsnetze der Stadt fast vollständig zerstört. 1946 wurde an die Planung für einen Wiederaufbau des Gaswerkes herangegangen. Es war zunächst vorgesehen, nach der Wiederherstellung der Versorgungsnetze das Gaswerk mit neuen Kammerofen-Anlagen wieder zu errichten, als durch die Währungsreform vom 20. Juni 1948 die Stadt vor eine völlig neue Situation gestellt wurde. Durch den Untergang sämtlicher Rücklagen war nunmehr an einen Wiederaufbau in absehbarer Zeit nicht mehr zu denken. Es musste daher zwangsläufig zu auch früher schon angestellten Überlegungen kommen, ob nicht von der Eigenerzeugung zum Ferngasbezug übergegangen werden sollte.
Wie bedeutend und für den wirtschaftlichen Wiederaufbau der Stadt Euskirchen notwendig der neue Industriezweig war, bestätigt der Antrag der Stadt auf Kredit vom Mai 1949 aus ERP-Mitteln[28] in der Höhe von 1 Million DM für eine Ferngasleitung, der ausschließlich damit begründet wird, dass die beiden neuen, im Aufbau befindlichen Glashütten circa 20 Millionen Kubikmeter Gas mehr benötigen werden. Am 28. Oktober 1949 werden 500.000 DM von der Kreditanstalt für Wiederaufbau in Frankfurt zugesagt. Das weitere Darlehen von 500.000 DM folgte ein Jahr später mit der Auflage, die Ruhrgas AG mit dem Bau zu beauftragen[29] . Die Kredite hatten einen Zinssatz von 2,5 Prozent und eine Laufzeit von bis zu 17 Jahren. Es handelte sich also um besonders günstige Kreditbedingungen.
Doch genau die Belieferung mit Gas und der Anschluss an die Ferngasleitung bescherten der Jola-Hütte weitere schwerwiegende Probleme. Der Druck der Ferngasleitung reichte für die Belieferung der Hütte nicht aus. Im Dezember 1950 floss endlich wieder Gas in Euskirchen. Die Belieferung der an der Peripherie der Stadt gelegenen Jola-Hütte erfolgte über eine gesonderte Niederdruckleitung des Gaswerks Euskirchen. An dieser Situation konnte das Gaswerk erst im Frühjahr 1952 eine Verbesserung durch eine neue Kompressoranlage in Köln herbeiführen. Das zweite Problem, nämlich die ausreichende Menge des Erdgases, konnte und wollte die Ruhrgas AG nicht ändern. Für sie zählte die Glasindustrie zu den schlechtest bezahlenden Gruppen. Im Jahr 1951 stand die Jola-Hütte bei den Stadtwerken schon mit 20.000 DM im Rückstand. Eine Abwanderung nach Leichlingen, da dort die Gaspreise niedriger und die Versorgung besser war, konnte die Stadt Euskirchen durch Gespräche mit der IHK und der Ruhrgas AG verhindern. Die Abwanderung der Glashütte hätte den Raffineuren von Rheinbach und Euskirchen die Basis entzogen und eine Zersplitterung der Umsiedlung der sudetendeutschen Glasindustrie nach sich gezogen. Noch im April 1952 bat Ernst Hantich die Gasversorgung, die Probleme zu lösen und den Gaspreis zu senken. Durch den falschen Druck entstehe Glasbruch, der die Existenz der Jola-Hütte ernstlich bedrohe. Am 7. Mai 1952 erhielt die Jola-Hütte einen Hochdruckanschluss an die Leitung der Ruhrgas AG auf deren Kosten[30]. Sie benötigte am Tag mehr Ferngas, als die ganze Stadt Euskirchen mit ihren Haushaltungen, erklärte der Geschäftsführer der Hütte der Presse im Jahr 1954[31].
8. Eine gescheiterte Umsiedlung?
Im Jahre 1958 befanden sich im Ansiedlungsgebiet Rheinbach-Euskirchen mehrere größere und kleinere Glashütten, ferner 17 Glasveredelungsbetriebe und etwa 15 Heimwerkerstätten für Glasschliff, Ätzerei, Malerei und Gravur. Die Gesamtbeschäftigtenzahl der angesiedelten Glasindustrie im Raum Rheinbach – Euskirchen lag bei circa 1.500. Davon entfiel auf die Ingridhütte in Euskirchen allein ein Drittel, wie die Stadt Euskirchen stolz anmerkte[32] .
Doch schon 1950 sprach die Handelskammer Bonn von einer „planlosen Ansiedlung“. Sie lägen nicht an günstigen Standorten, seien konkurrenzunfähig und es würde „ein falsches Spiel mit den heimatvertriebenen Sudentendeutschen getrieben“[33]. Die mangelnde Zusammenarbeit beeinträchtigte letztlich den Gesamterfolg der Ansiedlung. Es erfolgte eine ständige Verminderung der Betriebsgrößen und Beschäftigtenzahlen. Hinzu kam, dass die Raffineure schon überaltert waren, als sie in den Westen kamen, der Neuaufbau daher umso schwieriger war. Von der böhmischen Familientradition war kaum etwas geblieben. Das Erscheinungsbild des Gewerbes hatte sich verändert vom klassischen Typ der nordböhmischen Im- und Exportfirma hin zum handwerklich orientierten Kleinbetrieb mit regionalem Absatz[34]. Das Verlagssystem mit der rein außerbetrieblichen Fertigung war bei der Neuansiedlung ganz aufgegeben worden. Eine hausindustrielle Produktion erforderte die Einrichtung einer neuen Werkstatt, für die in der ersten Nachkriegszeit das Kapital fehlte. Zusätzlich bot der Westen andere Beschäftigungsmöglichkeiten, war nicht ausschließlich auf die Glasindustrie ausgerichtet wie in Nordböhmen. Bei der Neuansiedlung vollzogen sich also – hinter einer Fassade von scheinbarer Konstanz – entscheidende Veränderungen. Die traditionelle Berufskonstanz, die in Nordböhmen selbstverständlich war, verlor in den Ansiedlungszentren an Bedeutung. Durch die Loslösung aus ihren historischen Bindungen war die nordböhmische Glasindustrie der Auflösung preisgegeben, eine in Böhmen homogene Wirtschaftsgruppe zerfiel. Übrig blieben lokale Kleinbetriebe und die Ingridhütte in Euskirchen, die sich immer mehr von der Tradition der nordböhmischen Glasindustrie weg entwickelte. In Rheinbach kann man durch die Einrichtung der Glasfachschule, der Errichtung des Glasmuseums im Jahr 1969, der Patenschaft über das Kulturgut von Steinschönau seit 1987 und der Städtepartnerschaft mit dem tschechischen Kamenický Senov von Tradition und Konstanz des großen Ansiedlungsprojektes sprechen. Das Gesamtprojekt der Ansiedlung der nordböhmischen Glasindustrie auf der linken Rheinseite zum Wiederaufbau der nordrhein-westfälischen Industrie muss man als gescheitert betrachten, auch wenn vereinzelt Glashütten und Glasveredelungsbetriebe in böhmischer Tradition jahrzehntelang existierten.
Literatur
Schebek, Edmund, Böhmens Glasindustrie und Glashandel: Quellen zu ihrer Geschichte, Prag 1878 (abrufbar unter: www.digitalis.uni-koeln.de/Schebek/schebek_index.html. Stand: 15.02.2019).
Sommer, Carmen, Die Geschichte der Haidaer-Steinschönauer Glasveredelungsindustrie und ihr Strukturwandel nach der Neuansiedlung im Raum Rheinbach, Diss. Bonn 1994.
Franzen, K. Erik, Die Vertriebenen. Hitlers letzte Opfer. Mit einer Einführung von Hans Lemberg, 2. Auflage, Berlin [u.a.] 2001.
- 1: Schebek, Einleitung S. I.
- 2: Sommer, S. 15.
- 3: Sommer, S. 86.
- 4: Vgl. Lemberg/Franzen, S. 154-185.
- 5: Aus dem Lebenslauf der Ruth Hantich bei der Zulassung zum Abitur an der Euskirchener Marienschule 1954, Depositium im Stadtarchiv Euskirchen Nr. SSD 208-41, mit freundlicher Zustimmung von Frau Hantich.
- 6: Sommer, S. 171.
- 7: ür die Aufnahme der Sudetendeutschen hatten die Alliierten in der amerikanischen Besatzungszone die Länder Bayern, Württemberg und Hessen sowie die sowjetische Besatzungszone bestimmt. Schon bald nach der Ausweisung begannen die Raffineure aus der Region Haida-Steinschönau mit der Wiedererrichtung ihrer Betriebe, sobald Räumlichkeiten, Kapital oder die Zustimmung eines Gemeinde- oder Stadtrates es zuließen. Dies war mit größten Schwierigkeiten verbunden, denn Bankguthaben, Produktionsmittel, Kundenkarteien, Musterbücher usw. waren in der ČSR geblieben. Bereits vor der Währungsreform erfolgten zahlreiche Neugründungen der ehemals nordböhmischen Glasveredlungsbetriebe - zu einer Zeit, als weder Soforthilfegesetz noch Lastenausgleichsgesetz existierten. Das Kapital der neugegründeten Betriebe war gering, dem gegenüber standen der eiserne Aufbauwille ihrer Inhaber, unternehmerische Initiative und Erfahrung. Öffentliche Förderungsmaßnahmen folgten, dennoch erwies es sich als schwierig, die nun verstreut lebenden Fachkräfte wieder einzusammeln und Zuzugsgenehmigungen zu erhalten
- 8: Vgl. dazu Sommer, S. 201-205.
- 9: Sommer, S. 203.
- 10: Die Vereinigung ehemaliger Nordböhmischer Glasraffinerien in NRW mit Sitz in Rheinbach existierte seit Januar 1947. In ihr hatten sich 27 Glasraffinerien zusammengeschlossen. Zu ihren Hauptaufgaben zählten in den Anfangsjahren die Vertretung der Gesamtinteressen bei den zuständigen Behörden und der fachliche Informationsaustausch.
- 11: Stadtarchiv Euskirchen, Bestand EU IV 2006.
- 12: Stadtarchiv Euskirchen, Bestand EU IV 2003.
- 13: Stadtarchiv Euskirchen, Bestand EU IV 2004.
- 14: Stadtarchiv Euskirchen, Bestand EU IV 2005.
- 15: Friedrich Egermann (geboren 1777 in Schluckenau, Nordböhmen, gestorben 1864 in Hauda) erfand die nach ihm benannte Gravur.
- 16: Kölnische Rundschau vom 6.7.1960.
- 17: Kölnische Rundschau vom 6.7.1960.
- 18: Sommer, S. 268.
- 19: Sommer, S. 210-211.
- 20: Sommer, S. 213.
- 21: Stadtarchiv Euskirchen, Bestand EU IV 2006.
- 22: Sommer, S. 217.
- 23: Sommer, S. 219.
- 24: Sommer, S. 220.
- 25: LAV NRW Regierungsbezirk Köln 72/421 Bd. IV.
- 26: Kölnische Rundschau vom 3.6.1954.
- 27: Rünger, Gabriele, Euskirchen im Spiegel der Zeit, Mering 2013, S. 106-107.
- 28: ERP-Mittel sind Sondervermögen aus dem European Recovery Programm, die 1948 auf Grundlage des Marshallplans bereitgestellt wurden, um den Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft zu fördern.
- 29: Stadtarchiv Euskirchen, Bestand ON 1138, ON 1068 und Euskirchen IV 257.
- 30: Stadtarchiv Euskirchen Bestand Euskirchen IV 2006.
- 31: Kölnische Rundschau vom 3.6.1954.
- 32: Stadtarchiv Euskirchen, Bestand Euskirchen IV 2001.
- 33: Stadtarchiv Euskirchen, Bestand Euskirchen IV 2006.
- 34: Sommer, S. 300.
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Rünger, Gabriele, Aufbau West - Die Ansiedlung der nordböhmischen Glasindustrie in Euskirchen und Umgebung, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/aufbau-west---die-ansiedlung-der-nordboehmischen-glasindustrie-in-euskirchen-und-umgebung/DE-2086/lido/5f880dcebdac86.77927321 (abgerufen am 10.12.2024)