Elbenhorte am Rhein. Tolkien und das Rheinland

Arnulf Krause (Bonn)

Titelblatt eines Manuskripts der sog. "Edda" auf dem Figuren der nordischen Mythologie abgebildet sind und die als Quelle für die Kreation des Drachens "Smaug" gilt. (National and University Library of Iceland)

1. Einleitung

Der Eng­län­der John Ro­nald Reu­el Tol­ki­en (1892-1973) ist mit sei­nen Fan­ta­sy-Ro­ma­nen ei­ner der welt­weit po­pu­lärs­ten Au­to­ren; die Ver­fil­mun­gen des „Herrn der Rin­ge“ (2001-2003) und des „Hob­bit“ (2012-2014) ha­ben sei­ne Be­kannt­heit er­heb­lich ge­stei­gert. Die mo­nu­men­ta­len Film­land­schaf­ten ent­stan­den an Dreh­or­ten in Neu­see­land, die dem Land seit 20 Jah­ren ei­nen re­gel­rech­ten Tou­ris­ten­boom be­sche­ren. Der Au­tor Tol­ki­en hat­te al­ler­dings mit dem fer­nen Land im Süd­pa­zi­fik nichts im Sinn, wahr­schein­lich wa­ren ihm die ent­spre­chen­den Ge­bir­ge und Wäl­der völ­lig fremd. So­weit die Hand­lungs­räu­me sei­ner Mit­tel­er­de-Welt über­haupt von rea­len Land­stri­chen in­spi­riert wa­ren, la­gen die­se Ge­bie­te in Eng­land und an­de­ren Tei­len der Bri­ti­schen In­seln. Auf dem Kon­ti­nent hin­ter­lie­ßen die Schwei­zer Al­pen nach­weis­li­che Spu­ren in sei­nem Werk. Ob dies auch für den Rhein und das Rhein­land gilt ist The­ma der fol­gen­den Aus­füh­run­gen.

2. Mittelerde: Abenteuer in der Welt des J.R.R. Tolkien

Tol­ki­ens Fan­ta­sy-Welt sieht man mitt­ler­wei­le als ei­ne li­te­ra­risch an­spruchs­vol­le Schöp­fung an, de­ren Hand­lung Zau­be­rer und Krie­ger be­stim­men, die in ei­nem vor­mo­der­nen ar­chai­schen Uni­ver­sum um die Herr­schaft rin­gen. Als ers­ter Text führ­te der 1937 er­schie­ne­ne und ei­gent­lich als Kin­der­buch ge­dach­te Ro­man The Hob­bit, or: The­re and Back Again („Der Hob­bit oder Hin und zu­rück“, in deut­scher Über­set­zung auch „Der klei­ne Hob­bit“) in Tol­ki­ens phan­tas­ti­sche Welt ein. Dar­in ge­rät der Hob­bit Bil­bo Beut­lin (die Hob­bits sind Tol­ki­ens Er­fin­dung: „die un­schein­ba­ren klei­nen Leu­te aus dem Au­en­lan­d“[1] aus sei­ner be­schau­li­chen Hei­mat in ein ra­san­tes Aben­teu­er mit ei­nem Zau­be­rer, mit Zwer­gen, El­ben, bös­ar­ti­gen Orks, Rie­sen­spin­nen, Ge­stalt­wand­lern und ei­nem gold­gie­ri­gen Dra­chen. An dem De­tail ei­nes un­sicht­bar ma­chen­den Rings, in des­sen Be­sitz der klei­ne Held kommt, spinnt Tol­ki­en den Fa­den wei­ter und ent­wi­ckelt dar­aus die um­fang­rei­che Tri­lo­gie des „Herrn der Rin­ge“ (The Lord of the Rings 1954/1955). Die­ser Ti­tel ist dem Bö­se­wicht Sau­ron ge­schul­det, ei­nem ur­sprüng­lich hö­he­ren We­sen aus my­thi­scher Vor­zeit, der sich Mit­tel­er­de un­ter­wer­fen will. Da­zu be­nö­tigt er ei­nen Zau­ber­ring, der al­le an­de­ren ma­gi­schen Rin­ge in sei­nen Bann schlägt und den der ah­nungs­lo­se Bil­bo Beut­lin mit sich trägt. Auf Drän­gen des Zau­be­rers Gan­dalf über­gibt er das ver­meint­li­che Schmuck­stück sei­nem Nach­fol­ger und Er­ben Fro­do. Die­ser muss schlie­ß­lich das hei­mi­sche Au­en­land ver­las­sen und ei­ne ge­fahr­vol­le Rei­se quer durch Mit­tel­er­de an­tre­ten: Mit dem Ziel Mordor, dem „Schwar­zen Lan­d“, wo Sau­ron herrscht. Denn nur in den Feu­ern des Vul­kan­bergs Oro­d­ru­in kann der Ei­ne Ring zer­stört wer­den. „Der Herr der Rin­ge“ er­zählt von der Ge­mein­schaft, die Fro­do be­glei­tet (Gan­dalf, drei Hob­bits, zwei Men­schen, ein Elb und ein Zwerg), von de­ren Zer­fall, vom gro­ßen Ring­krieg ge­gen Sau­ron und von der Zer­stö­rung des Rings. Der mo­nu­men­ta­le Ro­man bie­tet al­ler­dings mehr als blo­ße Ac­tion – im­mer wie­der ver­harrt der Er­zähl­fluss, wer­den ur­al­te Sa­gen, Le­gen­den und Ge­rüch­te er­zählt.

Sie ver­wei­sen auf die Tie­fe des my­then­poe­ti­schen Uni­ver­sums, mit dem Tol­ki­en sich über vie­le Jahr­zehn­te und letzt­lich zeit­le­bens ei­ne per­sön­li­che My­tho­lo­gie und ei­ne Welt mit ei­ge­nen Völ­kern und so­gar mit fik­ti­ven Spra­chen er­schaf­fen hat. Erst sei­nem Sohn Chris­to­pher ge­lang es, 1977 mit dem Sil­ma­ril­li­on ei­nen Ein­blick in die um­fas­sen­de My­then­welt sei­nes Va­ters zu ge­wäh­ren, die schlie­ß­lich als zwölf­bän­di­ge His­to­ry of Midd­le-Earth (1983-1996, „Ge­schich­te Mit­tel­er­des“) zu­sam­men­ge­fasst wur­de.

Ei­ne Be­son­der­heit sei­ner Schöp­fung of­fen­bar­te Tol­ki­en selbst, als er aus­drück­lich be­ton­te, dass Mit­tel­er­de kei­ne er­fun­de­ne Welt sei: „Schau­platz mei­ner Er­zäh­lung ist die­se Er­de, die­sel­be, auf der nun wir le­ben, aber die his­to­ri­sche Pe­ri­ode ist ima­gi­när. Die Grund­zü­ge die­ses Auf­ent­halts­or­tes sind al­le vor­han­den (je­den­falls für die Ein­woh­ner von Nord­west­eu­ro­pa), dar­um wirkt es na­tur­ge­mäß ver­traut, wenn auch ein we­nig ver­klärt durch den Zau­ber der zeit­li­chen Fer­ne.“[2] Un­ter dem Nord­wes­ten Eu­ro­pas ver­stand er die Bri­ti­schen In­seln mit Eng­land als Herz­stück, aber auch Skan­di­na­vi­en und die Nord­see­län­der. Dort sie­del­ten ger­ma­ni­sche Stäm­me und Völ­ker, ins­be­son­de­re im frü­hen Mit­tel­al­ter die An­gel­sach­sen und Wi­kin­ger, aber auch die kel­ti­schen Iren und Wa­li­ser. Tol­ki­en fühl­te sich vor al­lem den ger­ma­ni­schen My­then und Sa­gen ver­bun­den, mit­samt de­ren Spra­chen, Kul­tu­ren und Über­lie­fe­run­gen. Dar­aus schöpf­te der Schrift­stel­ler oh­ne Scheu und dem­entspre­chend stö­ßt man in sei­ner Mit­tel­er­de auf al­tis­län­di­sche Zwer­gen­na­men, an­gel­säch­si­sche Ru­nen, Mo­ti­ve der ger­ma­ni­schen Hel­den­sa­gen und alt­nor­di­sche Zwer­ge, Al­ben und Trol­le, Hel­den und Ma­gie so­wie ver­wun­sche­ne Rin­ge, Schät­ze und Dra­chen­kämp­fe.

 

J.R.R. Tol­ki­en kann­te die­se Über­lie­fe­run­gen bes­tens, lehr­te er doch seit 1925 als Pro­fes­sor in Ox­ford, wo er sich ins­be­son­de­re der al­teng­li­schen Spra­che und Li­te­ra­tur an­nahm. Dar­über hin­aus zeig­te er an der is­län­di­schen Li­te­ra­tur des Mit­tel­al­ters gro­ßes In­ter­es­se und da­mit an der alt­nor­di­schen Spra­che und der Über­lie­fe­rung der Sa­gas und Ed­das. Als Spe­zia­list des al­teng­li­schen Beo­wulf-Epos ge­noss er in Fach­krei­sen gro­ßes An­se­hen. Die­se früh­mit­tel­al­ter­li­che Hel­den­dich­tung, die in ei­ner Nie­der­schrift aus der Zeit um das Jahr 1000 er­hal­ten ist, er­zählt von den Ta­ten des süd­schwe­di­schen He­ro­en Beo­wulf, der so­wohl das Moor­un­ge­tüm Gren­del be­sieg­te als auch ge­gen ei­nen Dra­chen kämpf­te. Das auf ei­nem Gold­schatz schla­fen­de Un­tier dien­te dem Wis­sen­schaft­ler als ei­ne Vor­la­ge für sei­nen Fan­ta­sy-Dra­chen Smaug aus dem „Hob­bit“. Wei­te­re Zü­ge, vor al­lem die Re­de­ge­wandt­heit des Dra­chen, ent­nahm er der Faf­nir­ge­stalt aus der skan­di­na­vi­schen Über­lie­fe­rung des Ni­be­lun­gen­stof­fes. De­ren wich­tigs­te Quel­len wa­ren die Hel­den­lie­der der Äl­te­ren Ed­da, die Ed­da des Snor­ri Stur­lu­son und als de­ren Nach­er­zäh­lung die Völsun­ga sa­ga, die Tol­ki­en aus­drück­lich schätz­te und aus der er für die Ge­stal­tung von Mit­tel­er­de schöpf­te. Dem Spe­zia­lis­ten für mit­tel­al­ter­li­che Li­te­ra­tur war folg­lich die Ni­be­lun­gen­sa­ge mit all ih­ren Tra­di­ti­ons­strän­gen be­kannt, auch das mit­tel­hoch­deut­sche Ni­be­lun­gen­lied. Die­se rei­che Über­lie­fe­rung mach­te ihn mit dem Rhein als sa­gen­haf­ten Strom ver­traut.

3. Tolkiens Reise

Per­sön­lich hat Tol­ki­en den Fluss wohl nie zu Ge­sicht be­kom­men. Was die For­schung bis­lang über die Le­bens­we­ge des Eng­län­ders mit Si­cher­heit er­mit­teln konn­te sieht ihn je­den­falls nicht in Deutsch­land. Dem stan­den die bei­den Welt­krie­ge und sei­ne Ab­nei­gung ge­gen das NS-Re­gime seit 1933 ent­ge­gen. Ob­wohl er sich deut­sche Vor­fah­ren zu­schrieb, ver­hin­der­ten die herr­schen­den Ver­hält­nis­se ei­ne Rei­se. 

Über­haupt sah sich der über­zeug­te Eng­län­der als An­gel­sach­se sei­ner Hei­mat zu­tiefst ver­bun­den. Ein Iti­nerar sei­ner Rei­sen sä­he ihn zu­meist an sei­nen Uni­ver­si­tä­ten in Leeds und Ox­ford, au­ßer­dem be­such­te er die eng­li­schen See­bä­der sehr gern. In den 1950er Jah­ren hielt er sich häu­fig so­wohl dienst­lich als auch als Ur­lau­ber im be­nach­bar­ten Ir­land auf. Be­reits als jun­ger Mann war er wäh­rend ei­ner Wan­der­tour in den Schwei­zer Al­pen im Som­mer 1911 zu­min­dest der Rhein­quel­le recht na­he ge­kom­men: Die Rei­se führ­te ihn von In­ter­la­ken über Grin­del­wald nach Zer­matt zum Mat­ter­horn. An den gro­ßen Ein­druck die­ser Land­schaft auf ihn er­in­ner­te sich Tol­ki­en noch im ho­hen Al­ter.[3] Die da­ma­li­gen Im­pres­sio­nen und Er­leb­nis­se ver­ar­bei­te­te er aus­drück­lich in den Schil­de­run­gen und Sze­nen sei­nes Mit­tel­er­de-Ge­bir­ges der Mis­ty Moun­ta­ins (deutsch Ne­bel­ge­bir­ge). Fast ein hal­bes Jahr­hun­dert spä­ter un­ter­nahm der mitt­ler­wei­le be­kann­te Kin­der­buch- und Fan­ta­sy-Au­tor ei­ne Rei­se nach Ho­ek van Hol­land und Rot­ter­dam zu sei­nem nie­der­län­di­schen Ver­le­ger (1958). Von den Mün­dungs­flüs­sen des Rhein­del­tas le­sen wir in sei­nen Zeug­nis­sen nichts und ih­re An­sich­ten dürf­ten Tol­ki­en auch kaum be­ein­druckt ha­ben. Ur­laubs­rei­sen führ­ten ihn im vor­ge­rück­ten Al­ter nicht et­wa nach Nor­we­gen oder Is­land, de­ren his­to­ri­sche und li­te­ra­ri­sche Über­lie­fe­rung dem Wis­sen­schaft­ler und Schrift­stel­ler be­son­ders na­he stan­den, son­dern ans Mit­tel­meer, des­sen Kul­tu­ren und an­ti­ke My­tho­lo­gi­en für ihn li­te­ra­risch nur ge­rin­ge Be­deu­tung hat­ten: 1955 un­ter­nahm er ei­ne län­ge­re Rei­se über Pa­ris nach Mai­land, Ve­ne­dig und As­si­si, elf Jah­re spä­ter ging er mit sei­ner Frau Edith so­gar auf ei­ne Mit­tel­meer­kreuz­fahrt, wäh­rend der er die Tou­ris­ten­hä­fen in Ita­li­en, Grie­chen­land, der Tür­kei und an der tu­ne­si­schen Küs­te be­such­te.

Blie­be noch Tol­ki­ens be­son­de­re Be­zie­hung zur bel­gi­schen Uni­ver­si­tät Liè­ge (Lüt­tich), wo er dem Rhein­land zu­min­dest na­he kam. In die wal­lo­ni­sche Stadt und ih­re Hoch­schu­le reis­te er ein paar Mal in den 1950er Jah­ren, dort ver­lieh man ihm so­gar 1954 die Eh­ren­dok­tor­wür­de. Be­reits 1951 hielt er sich für ei­ni­ge Ta­ge an der Maas auf, um an ei­nem wis­sen­schaft­li­chen Kon­gress teil­zu­neh­men. Ta­gesex­kur­sio­nen führ­ten ihn von Lüt­tich in die Ar­den­nen und ins Maas­tal. Für un­ser The­ma be­deu­ten­der ist je­doch die Teil­nah­me von Hein­rich Hem­pel (1885-1973), der von 1947 bis zu sei­ner Eme­ri­tie­rung 1953 an der Uni­ver­si­tät Köln als Ger­ma­nist und Skan­di­na­vist lehr­te. Zu­vor hat­te er be­reits im be­nach­bar­ten Bonn als Pri­vat­do­zent und Pro­fes­sor für Nor­di­sche und Ger­ma­ni­sche Al­ter­tums­kun­de ge­wirkt. Hem­pel galt als Spe­zia­list für et­li­che Ge­bie­te, die auch Tol­ki­en in­ter­es­sier­ten: der alt­nor­di­schen Spra­che, der ger­ma­ni­schen Hel­den­sa­ge wie ins­be­son­de­re der Ni­be­lun­gen­sa­ge und de­ren Über­lie­fe­rung in den Ed­da­lie­dern. Auch über Ru­nen und die go­ti­sche Spra­che hat­te er pu­bli­ziert, die be­reits früh Tol­ki­ens Ge­fal­len ge­fun­den hat­te. Bei­de Her­ren hät­ten al­so in Lüt­tich hin­läng­lich Ge­sprächs­stoff ge­fun­den. Lei­der lässt sich nichts über nä­he­re Kon­tak­te sa­gen und dar­um auch nicht dar­über, ob sie wis­sen­schaft­lich viel­leicht doch zu weit aus­ein­an­der­la­gen oder ob Tol­ki­en Vor­be­hal­te ge­gen den deut­schen Kol­le­gen aus Köln hat­te.

Abbildung des nordischen Historikers Snorre Sturluson von Christian Krohg aus dem Jahr 1899. (Gemeinfrei)

 

4. Rheingold - der Schatz der Nibelungen

Dem längs­ten Strom Mit­tel­eu­ro­pas war J.R.R. Tol­ki­en folg­lich nicht au­to­bio­gra­phisch ver­bun­den, er nahm ihn in sei­ner wis­sen­schaft­li­chen wie schrift­stel­le­ri­schen Tä­tig­keit vor al­lem als den ima­gi­nä­ren Rhein der Hel­den­sa­ge wahr, der als sol­cher in der His­to­rie wur­zel­te und zum sa­gen­haf­ten Lo­kal ge­stal­tet wur­de. Das galt ins­be­son­de­re für die Ni­be­lun­gen­sa­ge, mit der er sich auch künst­le­risch aus­ein­an­der­setz­te. 

Die Vor­stel­lung des sa­gen­haf­ten Rheins wur­zelt im Ni­be­lun­gen­lied, das zwei ur­sprüng­lich von­ein­an­der un­ab­hän­gi­ge Tei­le um 1200 in ei­nem Epos zu­sam­men­führt. Der ers­te Teil (Brün­hild­sa­ge ge­nannt) um­fasst den Sa­gen­stoff um den Hel­den Sieg­fried so­wie die Prot­ago­nis­tin­nen Brün­hild und Kriem­hild. Hier spielt der Rhein ei­ne sa­gen­geo­gra­phi­sche Haupt­rol­le; denn Sieg­fried zieht als Xan­te­ner Kö­nigs­sohn vom Nie­der­rhein an den mit­tel­rhei­ni­schen Bur­gun­den­hof nach Worms, wo er um die Hand der Kö­nigs­schwes­ter Kriem­hild an­hält. Er be­kommt sie erst, nach­dem er Kö­nig Gun­ther mit Be­trug ge­hol­fen hat, die Kö­ni­gin Brün­hild zu ge­win­nen. Der Rangstreit zwi­schen den Schwä­ge­rin­nen führt letzt­lich zur Ver­schwö­rung ge­gen Sieg­fried, den Gun­thers Ge­folgs­mann Ha­gen von Tron­je er­mor­det. Als die trau­ern­de Kriem­hild Sieg­frieds Ni­be­lun­gen­schatz nach Worms brin­gen lässt, wird er ihr von Ha­gen ge­nom­men und im Rhein ver­senkt. Die Fi­gur der trau­ern­den und auf Ra­che sin­nen­den Kriem­hild ver­bin­det den ers­ten mit dem zwei­ten Teil vom Un­ter­gang der Bur­gun­den (Bur­gun­den­sa­ge ge­nannt): Sie nimmt die Wer­bung des Hun­nen­herr­schers Et­zel aus Un­garn an. Dort er­langt sie gro­ße Macht, lädt nach vie­len Jah­ren ih­re Brü­der Gun­ther, Ger­not und Gi­sel­her so­wie Ha­gen und das Ge­fol­ge der Bur­gun­den ein und führt ihr Ra­che aus. Die we­nigs­ten Prot­ago­nis­ten über­le­ben das Ge­met­zel, dem letzt­lich auch die Kö­ni­gin zum Op­fer fällt. Der Rhein spielt in die­sem zwei­ten Teil des Ni­be­lun­gen­lie­des kei­ne her­aus­ra­gen­de Rol­le mehr, an sei­ne Stel­le rückt die Do­nau, ent­lang de­rer die Bur­gun­den an den Hun­nen­hof zie­hen. Aber sei­ne Be­deu­tung bleibt in­so­fern er­hal­ten, als er un­lös­bar ver­bun­den ist mit dem in sei­nen Was­sern ver­senk­ten Ni­be­lun­gen­hort, den Kriem­hild er­folg­los von Ha­gen zu­rück­for­dert.

Für die Re­kon­struk­ti­on der bei­den Sa­gen greift man auf die alt­nor­di­schen Tex­te zu­rück. Die­se Hel­den­lie­der wer­den zwar erst in ei­ner is­län­di­schen Hand­schrift um 1270 über­lie­fert – et­wa 50 Jah­re frü­her kennt den Stoff be­reits der Ge­lehr­te Snor­ri Stur­lu­son (1179-1241) –, sind je­doch zum Teil er­heb­lich äl­ter und wur­den über Jahr­hun­der­te münd­lich tra­diert. Das gilt aus­drück­lich für das äl­tes­te Zeug­nis, näm­lich das At­li­lied, das man dem 9. Jahr­hun­dert zu­schreibt. Die Grund­zü­ge der Bur­gun­den­sa­ge las­sen sich gut er­ken­nen, die Un­ter­schie­de zum Ni­be­lun­gen­lied sind al­ler­dings prä­gnant. Denn hier ver­mählt sich der gold­gie­ri­ge Kö­nig At­li (Et­zel) mit der Kö­nigs­toch­ter Gu­drun (Kriem­hild). Um an den Schatz sei­ner Schwä­ger Gun­nar (Gun­ther) und Hög­ni (Ha­gen, hier al­so ein Bru­der) zu ge­lan­gen, lädt er die­se zu sich ein. Trotz Gu­druns War­nung fol­gen sie der Ein­la­dung und wer­den ge­fan­gen ge­nom­men. Ob­wohl At­li Hög­ni das Herz her­aus­schnei­den lässt, ver­rät Gun­nar das Ver­steck des Schat­zes nicht, das auch im At­li­lied im Rhein zu su­chen ist. Kom­men doch die Gjukun­gen (so die Be­zeich­nung der Bur­gun­den in der nor­di­schen Über­lie­fe­rung, sie wer­den von An­fang an auch Nif­lun­gen ge­nannt) aus dem Rhein­land, wo­her sie  „über´s ro­te Ge­bir­ge des Rhein­s“[4] an­rei­sen. Und Gun­nar spricht die trot­zi­gen Wor­te: Der Rhein soll hü­ten das Kampf­erz der Krie­ger, das asen­ent­stamm­te Er­be der Nif­lun­gen, im rau­schen­den Was­ser glän­zen die wel­schen Rin­ge eher, als das Gold an der Hun­nen­söh­ne Hän­den schei­ne[5], wo­bei die ty­pi­schen alt­nor­di­schen Wen­dun­gen je­weils das Gold um­schrei­ben. At­li lässt ihn dar­auf­hin in ei­nen Hof vol­ler Schlan­gen wer­fen, de­ren Gift ihn tö­tet. Da­bei spielt Gun­nar auf ei­ner Har­fe, die ihm Gu­drun zu­kom­men ließ. Sie rächt ih­re Brü­der, in­dem sie die ei­ge­nen Söh­ne tö­tet, aus ih­ren Schä­deln Trink­be­cher fer­ti­gen lässt und die­se auf ei­nem Fest­mahl At­li vor­setzt. Er trinkt dar­aus den mit dem Blut sei­ner Söh­ne ver­misch­ten Met. Ah­nungs­los isst er de­ren Her­zen, die ihm Gu­drun als Spei­se rei­chen lässt. Dann of­fen­bart sie ihm ih­re Ra­che. Als in der Nacht al­le be­trun­ken sind, er­schlägt sie den Schla­fen­den und legt Feu­er an die Hal­le, in dem al­le Ge­folgs­leu­te At­lis um­kom­men. Im Nor­den gal­ten das Ver­hal­ten der Gjukun­gen/Nif­lun­gen und die mar­tia­li­sche Sip­pen­ra­che Gu­druns als zu­tiefst he­ro­isch.

Die his­to­ri­schen Wur­zeln der Sa­gen­hand­lung und ih­rer Fi­gu­ren fin­den sich im 5. Jahr­hun­dert in der Völ­ker­wan­de­rungs­zeit. Sie füh­ren zu den ost­germa­ni­schen Bur­gun­den, die um Worms ein Reich ge­grün­det hat­ten. Im Jahr 436 er­lit­ten sie un­ter ih­ren Kö­ni­gen Gun­da­har, Gis­la­har, Go­domar und Gi­bi­ca ei­ne ver­hee­ren­de Nie­der­la­ge ge­gen mit Rom ver­bün­de­te hun­ni­sche Trup­pen. Die­ses Ge­sche­hen ver­knüpf­te man  mit dem Hun­nen­herr­scher At­ti­la (ge­stor­ben 453), der al­ler­dings per­sön­lich nicht am Kampf ge­gen die Bur­gun­den be­tei­ligt war. 100 Jah­re spä­ter in­ter­pre­tier­te der His­to­ri­ker Jor­da­nes At­ti­las Tod als Ver­wand­ten­ra­che ei­ner ger­ma­ni­schen Ne­ben­frau. Da­mit wa­ren die Grund­zü­ge der Hel­den­sa­ge ge­ge­ben.

Peter von Cornelius (23.9.1783 - 6.3.1867), Hagen versenkt den Nibelungenhort, 1859, Öl auf Leinwand. (© Foto: Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, Fotograf/in: Andres Kilger)

 

5. Siegfried, ein Drache und der Rhein

Die­se Ra­che­sa­ge wur­de mit der Hel­den­ge­stalt Sieg­fried ver­bun­den, den sei­ne Ju­gend­aben­teu­er, sei­ne über­mensch­li­che Stär­ke so­wie die Er­mor­dung durch nächs­te Ver­wand­te kenn­zeich­nen. Ein his­to­ri­sches Vor­bild ließ sich nicht mit Ge­wiss­heit aus­ma­chen, am ehes­ten dürf­te es un­ter meh­re­ren Per­so­nen der frän­ki­schen Me­ro­win­ger­zeit des 6. Jahr­hun­derts zu fin­den sein. Je­den­falls ge­lang­ten die frän­ki­schen Sa­gen nach Süd­deutsch­land, wo viel spä­ter das Ni­be­lun­gen­lied ent­stand, so­wie  nach Skan­di­na­vi­en und bis nach Is­land, wo Si­gurds Ge­schi­cke – so sein nord­ger­ma­ni­scher Na­me – am aus­führ­lichs­ten er­zählt wur­den.

Wie­der­um ist es die um 1270 auf Is­land nie­der­ge­schrie­be­ne Hand­schrift des Co­dex Re­gius, die Jung-Si­gurd-Lie­der um die Hel­den­ta­ten des jun­gen Krie­gers über­lie­fert, die im Ni­be­lun­gen­lied kaum oder gar nicht er­wähnt wer­den. Vom Haupt­ge­sche­hen um den Ver­wand­ten­streit und Si­gurds Er­mor­dung er­zäh­len meh­re­re Si­gurdlie­der, die al­ler­dings ei­ne Text­lü­cke auf­wei­sen. Wenn das ge­sam­te Ge­sche­hen auch mit Hil­fe  der Völsun­ga sa­ga re­kon­stru­iert wer­den kann, so ha­ben doch die „Lie­der der Lü­cke“ die For­schung im­mer um­ge­trie­ben. Das galt auch für Tol­ki­en, der sich dem Fül­len die­ser Über­lie­fe­rungs­lü­cke auf sei­ne ganz ei­ge­ne Art wid­me­te. Je­den­falls lässt sich die Si­gurdsa­ge auf frän­ki­sche Quel­len zu­rück­füh­ren und hat wo­mög­lich rhei­ni­sche Wur­zeln. In Skan­di­na­vi­en ver­band man den süd­li­chen Sa­gen­stoff mit ei­ge­nen Mo­ti­ven und ließ so­gar die vor­christ­li­chen Göt­ter auf­tre­ten.

Dort stamm­te Si­gurd nicht aus Xan­ten, son­dern war der nach­ge­bo­re­ne Sohn des Hel­den Sig­mund aus dem Ge­schlecht der Wölsun­gen aus dem Huna­land. Die­se Be­zeich­nung ge­mahnt zwar an die Hun­nen, im Nor­den ver­stand man dar­un­ter je­doch ein süd­li­ches Ge­biet, das wohl in West­fa­len lie­gen soll­te. Sei­ne Ju­gend ver­bringt Si­gurd bei dem Schmied Re­ginn, der viel­leicht zwer­gen­haf­ter Na­tur war. Dort lernt er die Schmie­de­kunst und das Waf­fen­hand­werk. Sein Zieh­va­ter Re­ginn sta­chelt ihn zur Tö­tung sei­nes zum Dra­chen mu­tier­ten Bru­ders Faf­nir an, um sich des­sen Schatz an­zu­eig­nen. Vor­her schmie­det er die zer­bro­che­nen Klin­gen­tei­le von Sig­munds Schwert zum Schwert Gram zu­sam­men: „Es war so scharf, dass er es in den Rhein hielt und ei­ne Woll­f­lo­cke im Strom trei­ben ließ, so dass die Flo­cke wie Was­ser durch­schnit­ten wur­de. Mit die­sem Schwert schlug Si­gurd Re­ginns Am­boss ent­zwei.“[6] Da­mit schim­mert auch in der nor­di­schen Si­gurdsa­ge rhei­ni­sches Am­bi­en­te durch. Ob Si­gurd an­schlie­ßend den Dra­chen in Rhein­nä­he be­zwun­gen hat, lässt sich nicht mit Ge­wiss­heit sa­gen. Die­se Lo­ka­li­sie­rung neh­men erst die Nach­er­zäh­ler des 19. Jahr­hun­derts vor, die die Hel­den­tat gar im Sie­ben­ge­bir­ge ver­or­ten.[7] In den is­län­di­schen Hel­den­lie­dern fin­det der Dra­chen­kampf auf der Gni­ta­hei­de statt, die der is­län­di­sche Abt Ni­ku­lás von Þverá in der Mit­te des 12. Jahr­hun­derts im west­li­chen Deutsch­land zwi­schen Pa­der­born und Mainz lo­ka­li­sier­te. Ob sich der Sa­gen­ort mit der Ge­gend um Det­mold ver­bin­den lässt, bleibt neu­zeit­li­che Spe­ku­la­ti­on. Wie Si­gurd aus ei­nem Hin­ter­halt dem her­ankrie­chen­den schlan­ge­n­ähn­li­chen Faf­nir sein Schwert ins Herz stö­ßt, wie der ster­ben­de Dra­che mit ihm spricht und ihn vor sei­nem ver­fluch­ten Gold warnt, das hat Tol­ki­en be­kannt­lich für sei­nen „Hob­bit“-Dra­chen Smaug als Vor­la­ge ge­dient. Mehr soll hier nicht von Si­gurds Ju­gend­ta­ten er­wähnt wer­den, als dass er das Blut Faf­nirs trank, sich den Schatz an­eig­ne­te, die von Odin ver­zau­ber­te Wal­kü­re Bryn­hild be­frei­te und sich mit ihr ver­lob­te. Die im Ni­be­lun­gen­lied le­dig­lich an­klin­gen­de Vor­ge­schich­te der Be­zie­hung zwi­schen Sieg­fried und Brün­hild wird hier deut­lich.

Da­nach nimmt das Un­heil sei­nen Lauf: Si­gurd ge­langt an den Hof der Gjukun­gen und da­mit an den Rhein, trinkt un­wis­sent­lich ei­nen Zau­ber­trank, der ihn Bryn­hild ver­ges­sen und Kö­nig Gun­n­ars Schwes­ter Gu­drun hei­ra­ten lässt. Wie im Ni­be­lun­gen­lied be­geht er ei­nen Be­trug, um Bryn­hild für Gun­nar zu ge­win­nen. Bei­de Frau­en strei­ten sich beim Haarblei­chen am Rhein, wel­che den ed­le­ren Ehe­mann ha­be. Da­bei er­fährt Bryn­hild von der Täu­schung. Sie hetzt des­halb Gun­nar und Hög­ni auf, den Schwa­ger zu tö­ten. Da sich aber bei­de mit ihm Ei­de ge­schwo­ren ha­ben, über­nimmt ihr Bru­der Gott­horm die­se Auf­ga­be: „Ge­tö­tet wur­de Si­gurd süd­lich am Rhein, ein Ra­be schrie laut vom Baum: „An euch wird At­li die Schnei­den rö­ten, die Ei­de wer­den die Kämp­fer ver­nich­ten.“[8] Mit letz­ter Kraft wirft Si­gurd Gram nach sei­nem Mör­der und tö­tet ihn. Bryn­hild ent­leibt sich aus Kum­mer selbst und wird mit Si­gurd ver­brannt. Gu­drun ver­hei­ra­tet man zur Ver­söh­nung mit Bryn­hilds Bru­der At­li, wo­bei wie­der­um das Mo­tiv ei­nes Ver­ges­sen­s­tranks zum Ein­satz kommt. Hier schlie­ßt sich die oben ge­schil­der­te Hel­den­sa­ge an, in der Gu­drun ih­re Brü­der an At­li rächt.

Von die­sen Zeug­nis­sen ab­ge­se­hen klingt auch im al­teng­li­schen Beo­wulf der frän­ki­sche Sa­gen­stoff an, was Tol­ki­en selbst­re­dend be­kannt war: Als der Held Beo­wulf näm­lich das Mons­ter Gren­del be­siegt hat, fei­ert ihn ein Dich­ter und ver­gleicht sei­nen Sieg mit an­de­ren Hel­den­ta­ten. Er be­singt die „Wäl­sin­g­as“ (die al­teng­li­sche Na­mens­form der Wölsun­gen) Wäl­sing, des­sen Sohn Si­ge­mund und den Nef­fen Fi­te­la, von de­nen Si­ge­mund der be­rühm­tes­te war. Er durch­bohr­te mit sei­nem Schwert ei­nen Dra­chen, eig­ne­te sich des­sen Schatz an und brach­te ihn auf ein Boot. Dies stellt zwei­fels­oh­ne im Kern das Ju­gend­aben­teu­er Si­gurds/Sieg­frieds dar, nur dass ur­sprüng­lich des­sen Va­ter Si­ge­mund der Dra­chen­tö­ter war. Im Beo­wulf hat die­se Er­zäh­lung noch nichts mit Skan­di­na­vi­en zu tun und dürf­te hin­ge­gen auf ih­re frän­ki­sche Hei­mat ver­wei­sen. Für Tol­ki­en wei­te­te sie den Blick auf die viel­fäl­ti­ge Über­lie­fe­rung der Ni­be­lun­gen­sa­ge.

6. Tolkien und der sagenhafte Rhein

Wie in­ten­siv er sich mit den Hel­den­lie­dern der Äl­te­ren Ed­da aus­ein­an­der­setz­te be­legt die jahr­zehn­te­lan­ge Ar­beit sei­nes Soh­nes Chris­to­pher Tol­ki­en (1924-2020). Seit sei­ner Kind­heit war er mit den Wer­ken und Pro­jek­ten des Va­ters ver­traut, be­ruf­lich be­schritt er so­gar des­sen Nach­fol­ge und lehr­te in Ox­ford Al­teng­lisch so­wie alt­nor­di­sche Spra­che und Li­te­ra­tur. In­so­fern war er der idea­le Nach­lass­ver­wal­ter, der  das vä­ter­li­che Er­be ord­ne­te und pu­bli­zier­te. Da­für muss­te er Un­men­gen an Ma­te­ri­al bis hin zu ei­lig ver­fass­ten No­ti­zen sich­ten. Als Wis­sen­schaft­ler hat­te J.R.R. Tol­ki­en we­nig pu­bli­ziert, sich je­doch auf sei­nen hand­schrift­li­chen Aus­ar­bei­tun­gen mit vie­ler­lei be­schäf­tigt. Da­zu ge­hör­te die Aus­ein­an­der­set­zung mit his­to­ri­schen My­tho­lo­gi­en und Hel­den­sa­gen, die er li­te­ra­risch be­ar­bei­te­te. Dies galt für den fin­ni­schen Ka­le­va­last­off („Die Ge­schich­te von Kul­ler­vo“, The Sto­ry of Kul­ler­vo, 2010), die Ar­tus­ge­schich­te („Kö­nig Ar­thurs Un­ter­gan­g“, The Fall of Ar­thur, 2013) und schlie­ß­lich für die Ni­be­lun­gen­sa­ge („Die Le­gen­de von Si­gurd und Gu­drun“, The Le­gend of Si­gurd & Gu­drún, 2009). Die­ses Werk hat Chris­to­pher Tol­ki­en aus den „Pa­pier­ber­gen“ des Nach­las­ses her­aus­ge­ar­bei­tet und zu­sam­men­ge­fasst. Das Er­geb­nis stel­len zwei neue Lie­der dar, die sein Va­ter alt­nor­disch als Völsung­ak­viđa en nýja „Das neue Wölsun­gen­lie­d“ und Guđrú­nark­viđa en nýja „Das neue Gu­drun­lie­d“ be­zeich­net hat­te. Der Her­aus­ge­ber be­tont, „dass er [J.R.R. Tol­ki­en] in zwei zu­sam­men­ge­hö­ri­gen Ge­dich­ten von ins­ge­samt mehr als 500 Stro­phen die Wölsun­gen- und Nif­lun­gen-/Ni­be­lun­gen­sa­ge nach­er­zählt hat, und zwar in heu­ti­gem Eng­lisch, an­ge­passt dem alt­nor­di­schen Me­trum.“[9] Al­ler­dings lä­gen da­mit kei­ne blo­ßen Über­set­zun­gen vor, denn die Ed­da­lie­der „ent­hal­ten al­ler­lei Un­klar­hei­ten, Wi­der­sprü­che und Rät­sel, und die­se Pro­ble­me an­zu­ge­hen war die er­klär­te Ab­sicht, die mein Va­ter mit der Ab­fas­sung der „neu­en Lie­der“ ver­band.“[10] Tol­ki­en woll­te den teils dif­fu­sen Sa­gen­stoff „ver­ei­ni­gen“ und „sys­te­ma­ti­sie­ren“, so man­ches ord­nen und zu ei­ner Klä­rung brin­gen.[11] Was die oben vor­ge­stell­te alt­nor­di­sche Va­ri­an­te der Sa­ge be­trifft, ver­än­dert Tol­ki­en den ed­di­schen Stil der Ver­knap­pung und Ver­dich­tung, der man­ches un­er­zählt lässt. Sei­ne neu­en Lie­der nei­gen zu ei­ner ge­wis­sen epi­schen Brei­te, was ein­zel­nen Strän­gen und Mo­ti­ven mehr Raum gibt. Und da­zu ge­hört auch das Mo­tiv des Rheins.

So im „Neu­en Wölsun­gen­lie­d“, das J.R.R. Tol­ki­en mit dem Un­ter­ti­tel Si­gurđark­viđa en mes­ta „Das längs­te Si­gurdlie­d“ ver­sah. Da­mit griff er auf Be­zeich­nun­gen der alt­nor­di­schen Hel­den­lie­der zu­rück. Denn als „Län­ge­res Si­gurdlie­d“ (alt­nor­disch Si­gurðark­viða in mei­ri) be­zeich­net man ein ver­lo­ren ge­gan­ge­nes Hel­den­lied der Äl­te­ren Ed­da, des­sen In­halt mit Hil­fe der Völsun­ga sa­ga er­schlos­sen wer­den kann. Das er­hal­ten ge­blie­be­ne „Kur­ze Si­gurdlie­d“ (alt­nor­disch Si­gurðark­viða in skam­ma) ist trotz sei­nes Na­mens mit 71 Stro­phen das längs­te Si­gurdlied des Co­dex Re­gius. Sein In­halt bie­tet die skan­di­na­vi­sche Ver­si­on der Brün­hild­sa­ge, wo­bei statt Si­gurd Bryn­hild im Mit­tel­punkt steht. Tol­ki­en be­zieht sich al­so auf die frag­men­ta­ri­sche Über­lie­fe­rung und re­kon­stru­iert ein Si­gurdlied. Al­ler­dings ar­bei­te­te er da­für mehr li­te­ra­risch al­s  wis­sen­schaft­lich. Denn er imi­tier­te den al­ten Stab­reim, dich­te­te aber in eng­li­scher Spra­che. The­ma sei­ner Dich­tung ist das Le­ben Si­gurds bis zu des­sen Tod und Ver­bren­nung mit Bryn­hild, die Vor­ge­schich­te der Wölsun­gen und letzt­end­lich des Dra­chen­schat­zes. 

Da­bei geht er auch auf die Lo­ka­li­tät des Rheins ein: „Ei­ne Woll­f­lo­cke warf er in die Wel­len des Rheins […]“[12]/„The Rhi­ne ri­ver ran by swift­ly […]“[13]. Das Reich der Gjukun­gen Gun­nar und Hög­ni liegt am Rhein („the­re ru­le a re­alm by Rhi­ne-wa­ter.“[14]). Als Si­gurd zu de­ren Burg rei­tet, fragt sich Gu­drun: „Grün füh­ren die We­ge zum Was­ser des Rheins. Wer rei­tet hier ein­sam, ge­rüs­tet zum Kampf?“[15]/„The roads run green to the Rhi­ne-wa­ter!“[16], was der Sze­ne­rie ei­ne ge­wis­se An­schau­lich­keit gibt. Auf der Wer­bungs­fahrt zu Bryn­hild prahlt Si­gurd in Ge­stalt Gun­n­ars mit des­sen Reich­tü­mern: „Rot­gol­de­ne Rin­ge, rhei­ni­sche Schät­ze, gro­ßes Braut­geld ge­be ich dir!“[17] Die­ser Rhi­ne­land tre­a­su­re meint al­ler­dings noch nicht Si­gurds Dra­chen­gold im Rhein, son­dern die oh­ne­hin vor­han­de­nen Reich­tü­mer der Gjukun­gen/Nif­lun­gen. Der Strom steht wei­ter­hin im Zen­trum der Hand­lung, als Gu­drun und Bryn­hild ih­ren fa­ta­len Streit in sei­nem Was­ser aus­tra­gen: „Die Kö­ni­gin­nen gin­gen mit Käm­men aus Gold zur Wä­sche im Fluss, im Was­ser des Rheins.“[18] 

Im „Neu­en Gu­drun­lie­d“, das wie die Vor­la­gen den Un­ter­gang der Gjukun­gen schil­dert, wird der Rhein noch stär­ker be­schrie­ben. Der gold­gie­ri­ge At­li be­gehrt hier das Gold, das Si­gurd an den Rhein brach­te: „Den Schlan­gen­schatz (ser­pent`s tre­a­su­re) schick­ten sie nicht, den Nif­lun­gen hü­te­ten im Nif­lun­gen­lan­d“.[19] Um At­lis Ein­la­dung zu über­brin­gen, rei­tet des­sen He­rold west­wärts durch fins­te­ren Wald – „Zum gro­ßen Gjúkung Gun­nar kam er, zum ho­hen und gol­de­nen Hof am Rhein.“ („to halls of Rhi­ne­land high and gol­den“).[20] Und schlie­ß­lich Gun­n­ars Wor­te am Hun­nen­hof kurz vor sei­nem Tod: „Der Rhein soll es hü­ten („Rhi­ne shall ru­le it“), Rin­ge und Kel­che, schum­me­rig schim­mernd im strö­men­den Fluss. Wir war­fen´s ins Was­ser, da wiegt es sich dun­kel, so un­nütz den Men­schen, wie´s ehe­mals war.“[21] 

7. Der Elbenhort und der Eine Ring

Chris­to­pher Tol­ki­en geht in den Er­läu­te­run­gen der bei­den Ge­dich­te sei­nes Va­ter­s  auf des­sen Vor­le­sungs­no­ti­zen ein. Da J.R.R. Tol­ki­en nichts zur Ni­be­lun­gen­sa­ge pu­bli­zier­te, sind die Nach­lass­fun­de, dar­auf ba­sie­ren­de Text­re­kon­struk­tio­nen und die  hand­schrift­li­chen Skiz­zen der ein­zi­ge Zu­gang zu sei­nem Um­gang mit dem Ni­be­lun­gen­stoff. Sie ver­deut­li­chen, dass sich der Hoch­schul­leh­rer sehr in­ten­siv mit dem The­ma und der zeit­ge­nös­si­schen For­schung um 1930 aus­ein­an­der­ge­setzt hat. De­ren Pro­ble­me sind bis heu­te viel­fäl­tig und kom­plex – al­lein was die Über­lie­fe­rung der ein­zel­nen Quel­len be­trifft, ih­re Ur­sprün­ge so­wie ih­re Be­zie­hun­gen und Ein­flüs­se un­ter­ein­an­der. Da­bei schenk­te Tol­ki­en un­ter an­de­rem dem Ni­be­lun­gen­schatz und sei­ner Her­kunft gro­ße Auf­merk­sam­keit. Er kann­te na­tür­lich die Epi­so­de aus dem Beo­wulf-Epos, wo­nach der Wäl­sing Si­ge­mund der be­rühm­te Dra­chen­tö­ter und Schatz­er­wer­ber ist. Ur­sprüng­lich völ­lig ge­trennt da­von sah Tol­ki­en den Reich­tum der Bur­gun­den (vgl. da­zu oben Rhi­ne­land tre­a­su­re in Tol­ki­ens „Neu­em Wölsun­gen­lie­d“). Dem­nach kann der Hort so­gar his­to­ri­sche Wur­zeln ha­ben, ver­bun­den mit dem Worm­ser Reich am Rhein. Der Ox­for­der Pro­fes­sor ver­tritt fol­gend ei­ne my­tho­lo­gi­sche The­se, die üb­ri­gens bis auf Ja­cob Grimm zu­rück­reicht, mitt­ler­wei­le aber als ob­so­let gilt. Chris­to­pher Tol­ki­en stellt sie mit ei­nem Zi­tat sei­nes Va­ters vor: „In dem Ma­ße, wie Gun­da­ha­ri in der Ver­gan­gen­heit ver­sank […], hef­te­ten sich dem be­rühm­ten Kö­nig aus Worms ver­ständ­li­cher­wei­se al­te Sa­gen von El­ben­hor­ten am Rhein an: „Die­ser Schatz hat­te wahr­schein­lich be­reits Dä­mo­nen oder Zwer­ge als Hü­ter, muss aber ur­sprüng­lich nicht mit Si­ge­munds Gold iden­tisch ge­we­sen sein, ob­wohl das durch­aus denk­bar ist.“[22] Tol­ki­en my­tho­lo­gi­siert eben­so die Ni­be­lun­gen, die er als „Ge­schöp­fe der Dun­kel­heit“[23] an­sieht, auch sie ur­sprüng­lich elbi­scher Na­tur. Er ver­weist auf die zwer­gi­schen Schatz­hü­ter Al­be­rich (im Ni­be­lun­gen­lied, der Per­so­nen­na­me setzt sich aus „Al­be“ und „mäch­ti­g“ zu­sam­men) und An­dwari (in der alt­nor­di­schen Über­lie­fe­rung, vgl. un­ten), wo­bei er die Gren­zen zwi­schen Zwer­gen und Al­ben/El­ben ver­wischt sieht (ganz im Ge­gen­satz zu de­ren ge­gen­sei­ti­ger Ab­nei­gung in sei­ner Mit­tel­er­de).

Darstellung von Siegfrieds Ermordung aus der Handschrift "k" des Nibelungenlieds, ca. 1480-1490. (Gemeinfrei)

 

Ei­ne Son­der­rol­le spielt für Tol­ki­en Ha­gen, des­sen dunk­le Zü­ge im Ni­be­lun­gen­lied deut­lich wer­den: Er ge­hört nicht zur bur­gun­di­schen Kö­nigs­sip­pe, weiß als ein­zi­ger mehr von Sieg­fried und Brün­hild, die bei­de ei­ne un­hö­fi­sche, ge­ra­de­zu my­thi­sche Au­ra um­gibt, und wird letzt­lich zum Herrn des Hor­tes, den er im Rhein ver­senkt. Die alt­nor­di­sche Über­lie­fe­rung Is­lands macht ihn als Hög­ni zum Bru­der der Gjukun­gen, ob­wohl sein Na­me nicht mit de­nen der Brü­der stabt, die mit „g-“ be­gin­nen. Ganz an­ders hin­ge­gen die „Sa­ga Thi­d­reks von Bern“, die um 1250 im nor­we­gi­schen Ber­gen ent­stand und wahr­schein­lich auf nie­der­deut­sche Sa­gen zu­rück­greift, von de­nen sonst nichts er­hal­ten blieb. Ihr Hög­ni ist ein Halb­bru­der der Nif­lun­gen­kö­ni­ge Gun­nar, Ger­nos und Gi­sel­her von Wer­ni­za (Worms). Sei­ne Mut­ter, die Ge­mah­lin Kö­nig Al­dri­ans, wur­de von ei­nem na­men­lo­sen Al­ben ge­schwän­gert und ge­bar Hög­ni. Sei­ne al­bi­sche Na­tur drückt die Sa­ga aus, in­dem sie ihn als troll­ar­ti­ges We­sen be­schreibt, bleich, groß und grau­en­er­re­gend. Die Hand­lung der nor­we­gi­schen Sa­ga zeigt Ähn­lich­kei­ten mit dem Ni­be­lun­gen­lied und ver­weist so­mit auf die deut­sche Her­kunft der Ge­stalt. Tol­ki­en fand des­halb durch­aus Ar­gu­men­te, von El­ben­hor­ten am oder im  Rhein aus­zu­ge­hen. Das Ni­be­lun­gen­lied ver­la­gert die­se my­thi­sche Her­kunft ins fer­ne Nor­we­gen, wo die Brü­der Schil­bung und Ni­be­lung den Zwerg Al­be­rich zum Hü­ter des Schat­zes in ei­ner Höh­le ma­chen. Die alt­nor­di­schen Hel­den­lie­der und die Völsun­ga sa­ga my­tho­lo­gi­sie­ren stär­ker: Ih­nen zu­fol­ge ist der Zwerg An­dwari der ur­sprüng­li­che Be­sit­zer des Hor­tes, der die­sen den Asen­göt­tern Odin, Hö­nir und Lo­ki aus­hän­di­gen muss. Die­se wer­den ge­zwun­gen, ihn als Bu­ße wei­ter­zu­ge­ben, wo­durch er schlie­ß­lich in den Be­sitz Faf­nirs kommt, ei­nes an­thro­po­mor­phen We­sens, das sich in ei­nen Dra­chen ver­wan­delt. Man darf da­von aus­ge­hen, dass Tol­ki­en die Hin­zu­zie­hung der nor­di­schen Göt­ter als skan­di­na­vi­sche Aus­ge­stal­tung ge­se­hen hat, was der vor­herr­schen­den Mei­nung ent­spricht. 

Das spricht für ihn nicht da­ge­gen, das Rhein­gold ur­sprüng­lich dem frän­ki­schen Rhein­land zu­zu­schrei­ben und über­ir­di­sche We­sen wie Zwer­ge, El­ben (Al­ben – auf die ver­schie­de­nen Be­zeich­nun­gen sei hier nicht ein­ge­gan­gen) und die omi­nö­sen Ni­be­lun­gen zu sei­nen äl­tes­ten Hü­tern zu ma­chen. Lei­der gibt es da­für nicht die ge­rings­ten Be­le­ge und so bleibt es ei­ne reiz­vol­le Theo­rie, die Tol­ki­en zu Mo­ti­ven sei­ner Fan­ta­sy-Ro­ma­ne in­spi­riert ha­ben könn­te. Da­für spricht die zeit­li­che Ein­ord­nung in die 1930er Jah­re, von der Chris­to­pher Tol­ki­en aus­geht. Fast zeit­gleich hät­te dem­nach J.R.R. Tol­ki­en an ei­ner Beo­wulf-Über­set­zung, an sei­nen bei­den Ni­be­lun­gen­lie­dern und am Kin­der­buch des „Hob­bits“ ge­ar­bei­tet, das oh­ne­hin als Aus­fluss der Mit­tel­er­de-Welt zu ver­ste­hen ist, de­ren di­ver­se Er­zähl- und Mo­tivsträn­ge zum „Herrn der Rin­ge“ füh­ren.

In­so­fern lohnt ein Blick auf das so­wohl in der Ni­be­lun­gen­sa­ge als auch im Mit­tel­er­de-Ro­man be­deu­ten­de Ring­mo­tiv. Wäh­rend im Ni­be­lun­gen­lied ein Ring als Teil des Schat­zes le­dig­lich si­tua­tiv von Be­deu­tung ist, wird er in der alt­nor­di­schen Über­lie­fe­rung zum ent­schei­den­den Re­qui­sit, das so­gar ei­nen Na­men er­hält: „An­dwaris Ga­be“ (alt­nor­disch An­dva­ra­n­autr) nach sei­nem ur­sprüng­li­chen Be­sit­zer, dem Zwerg An­dwari. Als die­ser sei­nen im Ge­stein ver­bor­ge­nen Schatz Lo­ki über­ge­ben muss, bit­tet und fleht er dar­um, ei­nen ein­zi­gen Ring be­hal­ten zu dür­fen. Als Lo­ki auf der Über­ga­be des Schmuck­stücks be­steht, spricht der Zwerg ei­nen Fluch über den Ring aus. Ob die­ser ei­ne tie­fe­re Be­deu­tung hat oder ob sich An­dwari nur an sei­ner Schön­heit er­freu­en will, er­fährt man in den Ed­da­lie­dern nicht. Je­den­falls be­grün­det er als ver­fluch­ter Ring das Ver­häng­nis sei­ner zu­künf­ti­gen Be­sit­zer: Ob­wohl Odin gro­ßen Ge­fal­len dar­an fin­det, muss der Ring mit­samt dem Schatz ei­nem Mann na­mens Hreidmarr aus­ge­hän­digt wer­den. Ihn trifft der Fluch, in­dem sein gold­gie­ri­ger Sohn Faf­nir ihn tö­tet und Schatz nebst Ring in sei­nen Be­sitz bringt. In Dra­chen­ge­stalt ist er das nächs­te Op­fer, das be­kannt­lich von Si­gurd er­schla­gen wird. In der Ge­stalt Gun­n­ars schenkt die­ser „An­dwaris Ga­be“ Bryn­hild als Mor­gen­ga­be (nach ei­ner an­de­ren Ver­si­on ist er sein Ver­lo­bungs­ge­schenk für Bryn­hild, das er ihr wie­der ab­nimmt und Gu­drun gibt). Je­den­falls wird der Ring zum Be­weis­stück des Be­trugs und führt schlie­ß­lich zur Er­mor­dung Si­gurds. Da­nach eig­nen sich Gun­nar und Hög­ni Schatz und Ring an, die sie schlie­ß­lich im Rhein ver­sen­ken. Aber der Fluch wirkt nach und bringt ih­nen den Tod an At­lis Hof. Der Ring bleibt mit dem Rhein­gold im Strom ver­bor­gen. 

Wie der Er­zähl­fa­den um das un­ent­deck­te Rhein­gold wei­ter­ge­spon­nen wer­den kann, zeigt am ein­drück­lichs­ten Ri­chard Wag­ner (1813-1883) in sei­nem te­tra­lo­gi­schen „Büh­nen­fest­spiel“ des „Ring des Ni­be­lun­gen“, des­sen ers­ter Teil „Rhein­gol­d“ ist. Der Ni­be­lung ist Al­be­rich, der den Rhein­töch­tern das Rhein­gold ent­wen­det und dar­aus den Ring der Macht schmie­det. Tol­ki­en hat sich ge­gen den ver­mu­te­ten Ein­fluss Wag­ners auf sein Werk aus­ge­spro­chen, mein­te so­gar, bei­de Rin­ge hät­ten nicht mehr ge­mein als ih­re run­de Form. Trotz­dem re­zi­pie­ren bei­de Au­to­ren aus der alt­nor­di­schen Über­lie­fe­rung und ge­stal­ten sie wei­ter. Den ver­fluch­ten Ring ma­chen sie zum Sym­bol der Macht, das Tol­ki­en sehr kon­kret zum „Herr­scher­rin­g“[24] ge­stal­te­te.

Die­ser Ring exis­tiert nicht al­lein, son­dern be­herrsch­te je­ne neun Rin­ge, die El­ben­schmie­de er­schu­fen und von de­nen je­weils drei für El­ben, Zwer­ge und Men­schen be­stimmt wa­ren. Um sie und da­mit Mit­tel­er­de in sei­ne Ge­walt zu brin­gen, schmie­det Sau­ron den Ei­nen Ring im Schick­sals­berg. Die­ser ist Aus­druck sei­nes bö­sen Wil­lens und es zieht ihn stets zu ihm zu­rück. Die Ent­ste­hung sämt­li­cher Rin­ge ist ana­log zur alt­nor­di­schen Über­lie­fe­rung auf elbisch/zwer­gi­sche und dä­mo­ni­sche, je­den­falls nicht­men­sch­li­che We­sen zu­rück­zu­füh­ren. Auf Tol­ki­ens Ring las­tet kein Fluch, son­dern ein ab­so­lut bö­ser Wil­le, der je­dem Trä­ger zum Ver­häng­nis wird, wenn er sich sei­ner nicht ent­le­digt. Ein üb­les Ge­schick er­lei­det der Men­schen­kö­nig Isil­dur von Gon­dor, der nach sei­nem Sieg in der Schlacht dem be­zwun­ge­nen Sau­ron den Ring vom Fin­ger schnei­det. Als Isil­dur über­fal­len wird, ver­sucht er sich durch Über­strei­fen des un­sicht­bar ma­chen­den Rings in Si­cher­heit zu brin­gen. Aber der Ring hat sei­nen ei­ge­nen Wil­len, ent­win­det sich sei­nem Fin­ger und der Kö­nig fin­det den Tod. Das ver­rä­te­ri­sche Klein­od ver­sinkt im An­du­in und da­mit in je­nem gro­ßen Strom, der in Mit­tel­er­de am ehes­ten dem Rhein gleicht. Dort wird er nach lan­ger Zeit von zwei hob­bitähn­li­chen We­sen ge­fun­den. Um ihn ent­brennt ein er­bit­ter­ter Streit zwi­schen den Ver­wand­ten, den Sméa­gol für sich ent­schei­det, in­dem er ei­nen Mord be­geht. Doch die­ser Ver­wand­ten­mord bringt ihm kein Glück: Er wird im­mer ab­hän­gi­ger vom Rin­g  und mu­tiert zu Gol­lum, der das Son­nen­licht scheut und sich in die Stol­len­gän­ge des Ne­bel­ge­bir­ges zu­rück­zieht. Dort fin­det zu­fäl­lig Bil­bo Beut­lin den Ring („Hob­bit“), der zu ei­ner un­ge­wöhn­li­chen Le­bens­ver­län­ge­rung führt. Fro­do nimmt ihm schlie­ß­lich die Last des Rin­ges ab und kann ihn nach vie­len Aben­teu­ern zum Schick­sals­berg brin­gen, in des­sen Feu­ern der Ei­ne Ring ver­nich­tet wird. 

Der An­du­in spielt zwei­fels­oh­ne nicht die über­ra­gen­de Rol­le, die der Rhein in der Ni­be­lun­gen­sa­ge ein­nimmt. Dem wi­der­spricht schon der Er­zähl­stil: knap­pe Orts­nen­nun­gen dort, wäh­rend Tol­ki­en ei­ne de­tail­lier­te fik­ti­ve Geo­gra­phie ent­wirft. Trotz­dem ge­mahnt der lan­ge Fluss an den Rhein und birgt zu­min­dest zeit­wei­se den Ring als Hort des Bö­sen. Die Struk­tu­ren des An­du­in­tals er­in­nern an den Rhein: Das Men­schen­reich von Gon­dor an ei­nem Ufer, der ver­öde­te Macht­be­reich Sau­rons und sei­ner bös­ar­ti­gen Heer­scha­ren der Orks auf der an­de­ren. Das ent­stammt in sei­ner sti­li­sier­ten Po­la­ri­tät na­tür­lich der li­te­ra­ri­schen Ge­stal­tung. Die his­to­ri­sche Rea­li­tät zwi­schen dem Im­pe­ri­um Ro­ma­num und den Ger­ma­nen­stäm­men sah an­ders aus. Ver­las­se­ne Städ­te und men­schen­lee­re Land­schaf­ten as­so­zi­ie­ren in An­klän­gen die rhei­ni­schen Ver­hält­nis­se in der Über­gangs­zeit zwi­schen pro­vin­zi­al­rö­mi­scher Kul­tur und frän­ki­scher Land­nah­me. Aber wenn Tol­ki­en die his­to­ri­schen Ver­hält­nis­se der Spät­an­ti­ke und des frü­hen Mit­tel­al­ters be­rück­sich­ti­gen woll­te, fand er ge­nü­gend Bei­spie­le da­für in den „dunk­len Jahr­hun­der­ten“ sei­ner Hei­mat Eng­land. Der Rhein blieb ihm je­ner Schau­platz der Ni­be­lun­gen­sa­ge, des­sen Rol­le ihm In­spi­ra­ti­on für sei­ne Fan­ta­sy-Ro­ma­ne ge­bo­ten ha­ben mag.

Tolkien-Ausgaben

Tol­ki­en, J.R.R., The Hob­bit: Or The­re and Back Again. Lon­don 1937, dt. Der klei­ne Hob­bit. Über­setzt von Wal­ter Scherf. Reck­ling­hau­sen 1957. Der Hob­bit oder Hin und Zu­rück. Über­setzt von Wolf­gang Kre­ge, Stutt­gart 1998.

Tol­ki­en, J.R.R., The Le­gend of Si­gurd & Gu­drún. Hg. von Chris­to­pher Tol­ki­en, Lon­don 2009, dt. Die Le­gen­de von Si­gurd und Gu­drún. Über­setzt von Hans-Ul­rich Möh­ring, Stutt­gart 2010.

Tol­ki­en, J.R.R., The Let­ters of J.R.R. Tol­ki­en. Hg. von Hum­phrey Car­pen­ter und Chris­to­pher Tol­ki­en, Lon­don 1999, dt. J.R.R. Tol­ki­en. Brie­fe. Über­setzt von Wolf­gang Kre­ge, 3. Auf­la­ge, Stutt­gart 2002.

Tol­ki­en, J.R.R., The Lord of the Rings. Lon­don 1954-1955, dt. Der Herr der Rin­ge. Über­setzt von Mar­ga­ret Car­roux. Stutt­gart 1969-1970. Neu­über­set­zung von Wolf­gang Kre­ge, Stutt­gart 2000. 

Literatur

Beo­wulf. Ein al­teng­li­sches Hel­den­epos. Über­setzt und hg. von Mar­tin Leh­nert, Stutt­gart 2004.

Die Ed­da des Snor­ri Stur­lu­son. Aus­ge­wählt, über­setzt und kom­men­tiert von Ar­nulf Krau­se, Stutt­gart 1997.

Die Göt­ter- und Hel­den­lie­der der Äl­te­ren Ed­da. Über­setzt, kom­men­tiert und hg. von Ar­nulf Krau­se, Stutt­gart 2011.

Die Sa­ga von den Völsun­gen, in: Simek, Ru­dolf/Zeit-Alt­pe­ter, Jo­nas/Brous­tin, Va­le­rie (Hg.), Sa­gas aus der Vor­zeit. I. Hel­den­sa­gas, Stutt­gart 2020, S. 89-170.

Car­pen­ter, Hum­phrey, J.R.R. Tol­ki­en. Ei­ne Bio­gra­phie, Ber­lin/Wien 1983.

Fos­ter, Ro­bert, Das gro­ße Mit­tel­er­de-Le­xi­kon, 2. Auf­la­ge, Ber­gisch Glad­bach 2003.

Krau­se, Ar­nulf, Ein Lind­wurm im Sie­ben­ge­bir­ge? Von Dra­chen, Ger­ma­nen und Hel­den­sa­gen, in: Glas­ner, Pe­ter [u.a.] (Hg.), Ni­be­lun­gen – My­thos, Kitsch, Kult, Sieg­burg 2008, S. 31-43.

Krau­se, Ar­nulf, Re­clams Le­xi­kon der ger­ma­ni­schen My­tho­lo­gie und Hel­den­sa­ge, Stutt­gart 2010.

Krau­se, Ar­nulf, Die wirk­li­che Mit­tel­er­de. Tol­ki­ens My­tho­lo­gie und ih­re Wur­zeln im Mit­tel­al­ter, Stutt­gart 2012.

Kre­ge, Wolf­gang, Hand­buch der Wei­sen von Mit­tel­er­de, Stutt­gart 1999.

Scull, Chris­ti­na/Ham­mond, Way­ne, G., The J.R.R. Tol­ki­en Com­pa­ni­on and Gui­de. Chro­no­lo­gy, Bos­ton/New York 2006.

Ship­pey, Tom, Der Weg nach Mit­tel­er­de. Wie J.R.R. Tol­ki­en „Der Herr der Rin­ge“ schuf, Stutt­gart 2008.

Simek, Ru­dolf, Mit­tel­er­de. Tol­ki­en und die ger­ma­ni­sche My­tho­lo­gie, Mün­chen 2005. 

Das Wormser Hagen-Denkmal an seinem ursprünglichen Standort im Stadtpark auf einer Ansichtskarte um 1900. (Gemeinfrei)

 
Zitationshinweis

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Krause, Arnulf, Elbenhorte am Rhein. Tolkien und das Rheinland, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/elbenhorte-am-rhein.-tolkien-und-das-rheinland/DE-2086/lido/6087f12bd93e20.71474888 (abgerufen am 19.04.2024)