Familiengeschichte als Landesgeschichte: Die Jülicher Familie Simonius genannt Ritz vom 15.-19. Jahrhundert
Zu den Kapiteln
1. Einleitung: Forschungslage und Forschungsansatz
Die Perspektive biographischer landesgeschichtlicher Untersuchungen hat sich im Bereich der Territorialverwaltung in den vergangenen Jahrzehnten statt auf Fürsten und hochrangige Räte vermehrt auf nachgeordnete Personen gerichtet.[1] Gemeint sind neben Hofbediensteten vor allem Amtsleute oder Räte, die zwar an wesentlichen politischen Vorgängen beteiligt waren, bei ihren Tätigkeiten aber nicht im Vordergrund des politischen Geschehens standen.
In diesem Kontext steht dieser Beitrag, bei dem keine politische, sondern eine sozial- und alltagsgeschichtliche Perspektive erkenntnisleitend ist. Als vorteilhaft erweist sich dabei die Quellenüberlieferung, die für die zu betrachtende bürgerlich-adlige Personengruppe weitaus günstiger ist als im Allgemeinen für Angehörige anderer Berufe oder sozialer Schichten. Außerdem gibt es in der rheinisch-westfälischen Landesgeschichte für den Personenkreis der Räte und ihrer Familien kaum vergleichbare Studien, darunter nur wenige zu jülich-klevischen Räten und deren Familien.[2]
Der Quellenfundus besteht vor allem aus zwei umfänglichen Familienarchiven[3], ergänzt durch Quellen aus insgesamt 16 städtischen und staatlichen Archiven, die reichhaltig sozialgeschichtliches Material zu der hier zu untersuchenden Familie oder zu strukturhistorischen Fragestellungen bieten.
Die sozialbiographische Studie ist nicht auf einen ausschließlich biographischen oder familiengeschichtlichen Forschungsansatz begrenzt, sondern es werden auch strukturelle Aspekte aufgegriffen, so dass die Untersuchung „als ein landesgeschichtlicher Beitrag zu einer exemplarischen Gesellschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit gelesen werden [kann], welche die mehr oder minder frei handelnden Personen im Rahmen der sie bedingenden Gegebenheiten darzustellen versucht“.[4] Dabei ist im Blick zu halten, dass die bearbeiteten Quellen fast ausschließlich in der oder für die sozial führende Oberschicht entstanden sind.
Der methodische Ansatz unterscheidet sich von der traditionellen biographischen Studie beziehungsweise Gruppenbiographie. In erzählender Form werden die individuellen Lebensläufe in die jeweiligen familiären, sozialen und ökonomischen Verhältnisse integriert, kontextualisiert und sollen in ihren Handlungsoptionen beschrieben und verständlich werden.[5]
2. Petrus Simonius Ritz (1562-1622)
Im Mittelpunkt der Untersuchung steht Petrus Simonius Ritz (geboren 25. Mai 1562). Von seiner Ausbildung her Jurist, kann er in seiner Funktion als herzoglicher Rat und Diplomat auch als Politiker bezeichnet werden. Er stammte aus einer Jülicher Schöffenfamilie, also einer Familie, in der es Tradition war, ortsbezogene Gerichtsämter zu besetzen. Die Sippe war in der dem gleichnamigen Amt zugehörigen Stadt Kaster ansässig. Kaster lag unmittelbar an der Grenze zu Kurköln und der kurkölnischen Stadt Bedburg/Erft. Simonius Ritz erlebte einen beachtlichen gesellschaftlichen und vor allem auch wirtschaftlichen Aufstieg, was sich in seiner 1604 erfolgten Nobilitierung zeigt.
In den beiden Jahrzehnten vor 1609, die dem durch Aussterben der regierenden Fürsten bedingten Auseinanderfallen des Territorienverbandes Jülich-Kleve-Berg vorangingen, war Simonius Ritz als jülich-bergischer Rat an entscheidenden politisch-diplomatischen Vorgängen beteiligt. Neben seiner Ratstätigkeit vertrat er die Interessen seines Landesherrn beziehungsweise des landesherrlichen Ratsgremiums besonders an den Höfen in Düsseldorf und Jülich sowie auf mehreren Legationen zum Kaiserhof und Reichstag sowie generell im diplomatischen Verkehr. Diese Aufträge führten ihn häufig in die spanischen Niederlande (Brüssel) und zu den Generalstaaten (Den Haag). Diese Erfahrungen prägten ihn stark, besonders die Begegnungen mit hochrangigen Reichsfürsten wie Kaiser Rudolf II. (1552-1612) oder mit den Herrschern der spanischen Niederlande, weiterhin auch seine reichsweiten Kontakte zu den Kurfürsten von Trier und Mainz wie zu weiteren einflussreichen Persönlichkeiten an Fürstenhöfen. Beispielsweise sind für die Jahre um 1600 Beziehungen allein am kaiserlichen Hof zu dem Reichspfennigmeister Zacharias Geizkofler (1560-1617), dem Obersthofmeister Wolfgang von Rumpf (1536-1606), dem Präsidenten des Reichshofrats Graf Paul Sixt Trautson (1546/1547-1621) und zu Vizekanzler Dr. Rudolf Corraduccio (gestorben um 1618) sowie dem Reichshofrat Dr. Johannes Barvitius (um 1555-1620), welcher bey Irer Maiestät viel vermagh[6], zu nennen. Solche Prägungen seiner Persönlichkeit legen jedenfalls die Aufzeichnungen in der Autobiographie von Simonius Ritz nahe.
Zu Beginn des 17. Jahrhunderts, vor allem in den Jahren 1609-1615, war Simonius Ritz an den reichspolitischen Verhandlungen um das jülich-klevische Erbe beteiligt. Die Erbfrage tangierte die Stabilität des europäischen Mächtesystems und ließ zeitweise militärische Auseinandersetzungen unausweichlich erscheinen. Den Höhepunkt dieses Konflikts stellte 1609/1610 die Besetzung der Jülicher Festung durch kaiserliche Truppen unter Erzherzog Leopold (1586-1632) dar, den Cousin Kaiser Rudolfs. Die Vorgänge am Niederrhein provozierten das Eingreifen des französischen Königs Heinrich IV. (1553-1610), dem vermutlich nur durch dessen Ermordung Einhalt geboten wurde. Diese brisante politische Lage ist mit der vergleichbar, wie sie wenig später, ausgehend von den Prager Vorgängen des Jahres 1618, in den großen europäischen Krieg mündete.
Im Jahr 1610 jedenfalls sandten die beiden Erbanwärter Kurbrandenburg und Pfalz-Neuburg Simonius Ritz zusammen mit einem weiteren Rat zu Verhandlungen auf die Festung Jülich. Infolgedessen konnte die Lage mit dem Xantener Vertrag, den die genannten Erben der Herzogtümer Jülich-Kleve-Berg 1614 schlossen, entspannt werden. An diesen Verhandlungen nahm Petrus Simonius Ritz teil, zeitweise als maßgeblicher Unterhändler des Pfalzgrafen von Neuburg. Der Vertrag legte eine (vorläufige) Aufteilung der Länder Jülich-Berg und Kleve und Mark an Pfalzneuburg beziehungsweise Kurbrandenburg fest, die in den 1660er Jahren zu einer dauerhaften Länderteilung wurde.
Über solche diplomatischen Aufträge hinaus wird Petrus Simonius Ritz zuvor beim Konfessionswechsel des Pfalzgrafen Wolfgang Wilhelm zum katholischen Bekenntnis 1613 eine maßgebliche Rolle gespielt haben. Diese Entscheidung war angesichts der in der Erbfrage interessierten Mächte (vor allem der Kaiser sowie protestantische und katholische Reichsfürsten, die Generalstaaten, Frankreich und der Papst) von hoher Bedeutung. Und ebenso wie sich seine jülich-bergischen oder kleve-märkischen Ratskollegen in die Dienste des ein oder anderen Erbprätendenten begaben, nahm Simonius Ritz 1614 eine pfalz-neuburgische Bestallung an.[7]
Sein diplomatischer Auftrag führte ihn wegen des Konfessionswechsels des Pfalzgrafen 1615 zum englischen König Jakob I. (1566-1625). Simonius Ritz hatte Anzeige zu erstatten und sollte das Vorgehen möglichst legitimieren. Damit korrespondieren ähnlich ausgerichtete lokale Ereignisse wie die Vermittlung eines Bauplatzes für das 1620/1622 in Düsseldorf errichtete Jesuitenkloster und die zugehörige Andreaskirche. Um deren Ansiedlung hatte sich Simonius Ritz zusammen mit einem Neuburger Jesuitenpater bemüht.
Im Kreis seiner Ratskollegen ist Simonius Ritz - bei aller zeitweisen Zerstrittenheit des Gremiums - in diesen für die Territorialentwicklung im Westen des Reiches entscheidenden Jahren, als jemand anzusehen, der den Gang der politischen Ereignisse mitbestimmt hat.[8]
Eine wesentliche Quelle stellt seine ausführliche Autobiographie dar, die er im Jahr seiner Nobilitierung 1604 in lateinischer Sprache verfasst hat. Sie ist quellenkritisch gesehen ein Entwurf und taugt nicht allein dazu, das dargestellte Geschehen zu erfahren, sondern vor allem die Sicht des Verfassers auf das Erlebte zu verstehen – und insbesondere auch das zu bemerken, was er wohl ganz bewusst ausgelassen hat. Er berichtet über die Lebensverhältnisse seiner Vorfahren, seine Kindheit und Jugend ebenso wie er thematische Schwerpunkte zum eigenen Bildungsweg und dem Krankheitsverlauf seiner ersten Frau Johanna Sengel (1562-1598) setzt.
Simonius Ritz begann 1579 in Köln sein juristisches Studium, das er drei Jahre später – entgegen dem väterlichen Wunsch, der seinen ältesten Sohn als Nachfolger des Kaufmannsgeschäfts nach Kaster zurückholen wollte – im französischen Bourges und Orléans fortsetzte. Dort erwarb er 1583 das Lizentiat der Rechte. Es schloss sich nach einer mehrwöchigen „Kavalierstour“ durch die Landstriche um Paris (Louvre, St. Denis, Chartres, Fontainebleau) eine einjährige praktische Ausbildung bei einem Straßburger Juristen an. Nach seiner Rückkehr an den Niederrhein im Frühjahr 1584 nahm der junge Jurist eine nicht zuletzt auch ökonomisch erfolgreiche Tätigkeit am Jülicher Hauptgericht auf, wohin er durch seinen Verwandten, den Jülicher Generalanwalt Dr. Heinrich Codonaeus (gestorben 1588/90), vermittelt wurde. In diesen Jahren lebte er in dessen Haushalt.
Parallel zur Tätigkeit am Hauptgericht, an dem er 1590 Beisitzer wurde, übernahm Simonius Ritz einträgliche Advokaturen für Adlige, die ihn über die engere Jülicher Region hinaus bis in die Eifel und in den Trierer Raum führten. 1593 wurde er sogenannter kurtrierischer Rat »von Haus aus«, er war also vorwiegend durch schriftliche Stellungnahmen in die dortige Arbeit des Rates eingebunden. Zudem wurde er Syndikus der Jülicher Ritterschaft. In dieser Funktion war er maßgeblich an der politisch brisanten Anklage gegen die Landesherrin Herzogin Jakobe beteiligt, was auf kaiserlichen Entscheid hin zu ihrer Entlassung aus der Regierung führte. 1595 wurde er (nach Aufgabe des Syndikats) zum jülich-bergischen Rat und 1600/1602 zum sogenannten Rechenkammerrat berufen. 1604 erhielt er zusammen mit der Erhebung in den Adelsstand das finanziell einträgliche Amt eines Hofpfalzgrafen. Seit Beginn der offiziellen pfalz-neuburgischen Herrschaft in Jülich-Berg 1614 war Simonius Ritz schließlich bei Abwesenheit des Fürsten als zweiter Vertreter des Statthalters Johann Barthold von Wonsheim (gestorben 1646) mit den Regierungsgeschäften betraut.
Simonius Ritz heiratete 1586 Johanna Sengel, die aus einer der führenden Familien Jülichs stammte. Ihr Vater war als Schultheiß ebenfalls am Jülicher Gericht tätig; zu den dortigen Schöffen zählte auch ihr Bruder Johann. Das junge Ehepaar pachtete in Jülich ein Haus am Markt. Bis 1598 bekamen sie sieben Kinder, von denen vier überlebten. Simonius Ritz beschreibt in seiner Autobiographie seine Liebe zu Johanna offen, wohingegen die zweite, nur wenige Monate nach dem Tod Johannas geschlossene Verbindung mit der sechs Jahre älteren, aus dem Aldenhovener Bürgertum stammenden Christina von Lövenich (1556–um 1628) offenbar für ihn stärker den Charakter einer Zweckehe trug.
Anfang des 17. Jahrhunderts wurde der Hof Etgendorf zum Hauptwohnsitz der inzwischen in den Adelsstand erhobenen Familie Simonius von Ritz. Aufgrund seines Wohlstands war es Simonius von Ritz bis dahin gelungenen, die zersplitterten Besitzverhältnisse des Hofes zu seinen Gunsten aufzulösen. Seinen Eltern gehörte nur circa der 48ste Teil des Anwesens. Er selbst begann mit dem Kauf von Hofanteilen sogleich mit den ersten Einkünften. Bereits 1587 übernahm er die Anteile seines Verwandten mütterlicherseits, des erwähnten Jülicher Generalanwalts sowie zwei weiterer Verwandter. Bis 1597 hatten sich die Eigentümer durch seine Zukäufe auf nur noch vier Parteien reduziert. Als alleiniger Besitzer ließ Simonius Ritz das Landgut in den Jahren um seine Nobilitierung in adligem Stil ausbauen und die Räumlichkeiten gleich eines Fursten Hauß mit Mobilien versehen, wie sich ein Familienmitglied äußerte.[9] Parallel dazu hatte er im benachbarten Niederembt (heute Stadt Elsdorf) den landtagsfähigen Adelssitz Richardshoven erworben, also ein Anwesen, das den Besitzer berechtigte, am politischen Forum des Herzogtums teilzunehmen. In seinen letzten beiden Lebensjahren begann er mit dem Bau eines großen, repräsentativen Hauses in Düsseldorf, nachdem die Familie bereits 1601 dort ein Haus gepachtet und den Wohnsitz in Jülich gekündigt hatte.
3. Die Kinder: Kaspar Simonius Ritz, Katharina, Anna, Peter und ihre Nachkommen
Für die vier Kinder aus der ersten Ehe von Simonius Ritz sind typische bürgerliche wie adlige Lebensläufe überliefert. Der älteste Sohn Kaspar (um 1588–vor Juni 1651) studierte 1605 an der Universität Köln, allerdings ohne einen Abschluss zu erwerben. Auch er unternahm eine „Kavalierstour“, allerdings nicht wie sein Vater in Frankreich, sondern durch Italien und Spanien. Kaspar war mit den Sprachen beider Länder vertraut, hinzu kamen Latein und Französisch. Im Jahr 1615 heiratete er Anna von Berg genannt Durffenthal (gestorben nach 1655). Aus der Ehe gingen sieben Kinder hervor. Auf Kaspar soll noch eingegangen werden.
Die älteste Tochter Katharina (um 1590–1624) heiratete 1609 den Lizentiaten der Rechte Franz Mohr (Morraeus) (gestorben 1633) aus dem Fürstbistum Lüttich. Mohr war an dortigen Gerichten sowie in kurkölnischen und baierischen diplomatischen Diensten tätig. Das Ehepaar zog nach Brüssel, wo Katharina 1624 verstorben ist. Die Spuren ihrer vier Kinder verlieren sich in der belgischen Hauptstadt beziehungsweise in der dortigen Region. Eine Tochter sollte in das Kloster Herkenrath (Diözese Lüttich) eintreten.
Die Tochter Anna (1595–nach 1675) war in erster Ehe mit Heinrich Sudermann (gestorben 1623) verheiratet, der möglicherweise der bekannten Kölner Handelsfamilie angehörte. Ihre zweite Ehe schloss sie mit dem Freiherrn Ludolph von Renesse (gestorben 1647). Aus ihr gingen zwei Söhne hervor, von denen einer Prior des Reichsstifts Corvey wurde.
Das im Jahr 1598 letztgeborene Kind Peter begann 1613 an der Kölner Universität ein Artes-Studium; diese Ausbildung umfasste nur die grundlegenden und für die höheren Fakultäten vorbereitenden Studieninhalte. Drei Jahre später trat er mit 16 Jahren, allerdings ohne väterliche Zustimmung, in der Reichsstadt in den Orden der Franziskanerobservanten ein. Er lebte in verschiedenen Klöstern und führte unterschiedliche Ämter aus; so war er unter anderem Vikar in Koblenz, Düren und Köln. 1623 wurde er Guardian des Klosters in Hamm. Das Amt bekleidete er später auch in den Dürener und Heidelberger Konventen. 1637 zum Definitor (Vermögensverwalter) der Kölner Provinz ernannt, übte er als Generaldefinitor diese hochrangige Funktion 1645-1651 und nochmals 1673-1676 für die gesamte deutsche Provinz aus. Er besuchte mehrfach Ordenskonzilien im Ausland, etwa in Spanien. Er starb 1678 im Kloster in Brühl.
4. Karl Friedrich und Friedrich Wilhelm von Ritz (18. und frühes 19. Jahrhundert)
In seiner letzten Lebensphase bemühte sich Simonius Ritz nachdrücklich, seinen Sohn Kaspar mit einer Amtmannstelle zu versorgen. Das schien in den Jahren eines gewissen politischen Umbruchs unter dem neuen Landesfürsten durchaus greifbar. Darüber hinaus suchte er über die Einheirat Kaspars in die Adelsfamilie Berg genannt Durffenthal den Zugang zum eingesessenen alten und landtagsfähigen Jülicher Adel. Das gelang allerdings erst gut anderthalb Jahrhunderte später - gegen starke Widerstände des alten Adels - seinem Urururenkel Karl Friedrich (1715-1794), dessen Sohn Friedrich Johann Wilhelm von Ritz (1745–1820) gewissermaßen den Höhepunkt des sozialen und beruflichen Ansehens der Familie erreichte. Er folgte seinem Vater in der Amtmannschaft zu Grevenbroich und (Mönchen-)Gladbach und wurde wie dieser zur Jülicher Ritterschaft aufgeschworen. Seit 1769 jülich-bergischer Hofrat erlangte er 1779 die herausragende Position des jülich-bergischen Hofratspräsidenten. Zudem wurde er kurpfalz-baierischer Rat und mit dem kurfürstlich-pfälzischen Löwen-Ritter-Orden ausgezeichnet. Seine Frau wurde unter die Trägerinnen des kaiserlich-königlichen Sternkreuzordens aufgenommen. Sein Präsidentenamt wurde 1794 im Zuge der Annexion der linken Rheinseite durch Frankreich auf das frühere Herzogtum Berg beschränkt. Mit Einrichtung des Großherzogtums Berg saß er ab 1806 dessen Hofrat bis zur Auflösung im Jahr 1811 vor.
Friedrich Johann Wilhelm von Ritz hatte sich, wie viele seiner Standesgenossen, den neuen politischen Verhältnissen angepasst. Vermutlich aus beruflichen Gründen nahm der Witwer – seine Frau Dorothea Charlotte von dem Bottlenberg (1753-1786) war bereits 1786 nur 33-jährig verstorben – seinen Hauptwohnsitz in Düsseldorf, wobei das linksrheinische Etgendorf auch weiterhin der traditionelle Bezugspunkt der Familie blieb, soweit ihre Mitglieder am Niederrhein ansässig waren. Wie sein Vorfahr Kaspar Simonius von Ritz war Friedrich Johann Wilhelm neben seinen dienstlichen Obliegenheiten mit Handelsgeschäften befasst.
5. Von der Gruppenbiographie zur Lebenswelt: Die einzelnen strukturgeschichtlichen Themen
Die vom Autor vorgelegte Studie geht deutlich über die Lebensläufe der Angehörigen des engeren Familienkreises von der Mitte des 16. bis zum frühen 19. Jahrhundert hinaus. Es werden circa 100 Personen in ihrem konkreten beruflichen und familiären Stand, teils auch religiösen und sozialen Verhalten ab dem 13. Jahrhundert untersucht, die sich ab Mitte des 16. Jahrhunderts schwerpunktmäßig um die Familien der Sengel, Lövenich, Harper beziehungsweise Codonaeus, Inden, Nickel und Simonius Ritz gruppieren. Sie lebten alle im Raum um die Städte Jülich, Düren und Aachen.
Aufgrund der günstigen Quellenlage ist es möglich, die Voraussetzungen des sozialen Aufstiegs von Petrus Simonius Ritz sowie die sich anschließenden langjährigen Bemühungen seiner direkten Nachkommen aufzuzeigen, die sich um eine Fortsetzung dieses Aufstiegs bemühten. Für diese Phase der Familiengeschichte steht die bereits von Simonius Ritz im zweiten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts versuchte und zu diesem frühen Zeitpunkt äußerst gewagte Integration in den alten Jülicher Adel im Vordergrund. Die Schwerpunkte der zentralen Studie des Autors werden im Folgenden genauer dargelegt.
5.1 Ökonomie: Agrargeschichte, bürgerlicher Besitz und Geschäftstätigkeiten
Der im Jahr 1212 erstmals in den Quellen erwähnte, im Jülicher Land bei Bedburg/Erft gelegene Hof Etgendorf, der im Übrigen ab 1423 für wenige Jahre an die Herzogin Maria von Jülich (1491-1543) verpachtet war, ist seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts der räumliche Bezugspunkt für den Familienverband. 1475 pachteten Petrus Simonius Ritz‘ Ururgroßeltern Konrad von Laach (geboren spätestens 1444, gestorben Anfang 16. Jahrhundert) und Ida von Beinheim (gestorben Anfang 16. Jahrhundert), die bis dahin auf Haus Laach ansässig waren, das Landgut für die auffällig lange Zeit von 90 Jahren. Das geschah demnach mit Perspektive über ihre eigene Bewirtschaftung hinaus, weshalb im Pachtvertrag explizit auf ihre Nachfahren Bezug genommen wurde.
Seit Beginn des 17. Jahrhunderts wird die Hofgeschichte auf die Familie von Ritz eingeengt, deren Familiensitz Etgendorf bis zu ihrem Aussterben im 19. Jahrhundert blieb. Der Hof war bis 1673 ein Lehen des in der Eifel bei Monschau gelegenen Prämonstratenserinnenklosters Reichenstein, das der Aufsicht des Abtes von Steinfeld unterstand, der als kirchlicher Verpächter ein wichtiges Strukturelement im agrarökonomischen Gesamtsystem des Niederrheins dargestellt.
Für die Phase des 13. bis 15. Jahrhunderts werden anhand der Etgendorfer Pachtkontrakte grundsätzliche Entwicklungen der alteuropäischen Agrargeschichte aufgezeigt. Die Untersuchung widmet sich den agrarwirtschaftlichen Konjunkturen, den Bewirtschaftungsformen (Eigenwirtschaft, Verpachtung, Drei-, teils auch Zweifelderwirtschaft, Erträge, Viehhaltung). Deutlich wird die Ausübung der Grundherrschaft durch das Kloster Reichenstein ebenso wie die expansive Entwicklung um den Etgendorfer Hof im 13. Jahrhundert. Weiterhin werden wesentliche Strukturelemente wie das Vererbungsrecht, Abgaben und Dienste – hier besonders die Stellung eines sogenannten ‚Dienstwagens‘ für den Jülicher Herzog –, schließlich Betriebsgrößen und das Verhältnis von Land- zur Geldwirtschaft untersucht.
Neben den von Adel und Kirche dominierten agrarwirtschaftlichen Verhältnissen steht die Ökonomie der bürgerlichen Familienangehörigen. So werden Einkünfte aus Berufstätigkeiten (Simonius Ritz), Rentenbezüge, Kreditvergaben oder die Verfügung über Rechte wie Zehnte aus der Zeit Konrads von Laach über Petrus Simonius Ritz und seine Generation bis hin zu seinen (neuadligen) Nachfahren im 18. Jahrhundert betrachtet, die vielfach in Städten ansässig waren oder doch zumindest einen städtischen Wohnsitz besaßen. Auch bei den bürgerlichen Familienzweigen spielte die Verfügung über Landbesitz durchweg eine bedeutende Rolle.
Quellenmäßig sind für diesen Forschungsbereich vor allem die überlieferten Testamente aussagekräftig, etwa die beiden umfassenden Regelungen, die Simonius Ritz und seine zweite Frau in den Jahren 1608 und 1622 aufgesetzt haben und die detailliert über den Besitz von Mobilien (Schmuck, Möbel, Bücher, Kleidung usw.) Auskunft geben.
Zur Frage der adligen unternehmerischen Tätigkeit geben einzelne Quellen des frühen 17. Jahrhunderts und des ausgehenden 18. Jahrhunderts Hinweise. So betrieb Kaspar, der älteste Sohn von Simonius Ritz, Ende der 1620er Jahre einen offenbar florierenden Viehhandel. Zusammen mit Kölner Händlern kaufte er Ochsen im norddeutschen Raum um Bremen und im dänischen Kopenhagen. Sie wurden gemästet und nach Köln getrieben. Hinzu kam sein Handel mit Fohlen, die in der Grafschaft Oldenburg bestellt wurden. Daneben verkaufte er Naturalien seiner Jülicher Güter auf dem Kölner Markt und pachtete zeitweise den Düsseldorfer Zoll.
Friedrich Johann Wilhelm von Ritz gründete 1774 zusammen mit zwei adligen und zwei bürgerlichen Teilhabern eine (allerdings wenig erfolgreiche) Kohlenhandelsgesellschaft. Dazu wurde eigens ein im bergischen Amt Angermund bei Kettwig an der Ruhr gelegenes Gut angekauft. Das ihm durch den Erbteil seiner Frau zugefallene Haus Berge in der märkischen Herrschaft Witten hat er zunächst (ähnlich wie seine Papiermühle in der Stadt Witten) samt zugehöriger Kornmühle und Ländereien pachtweise an einen Unternehmer gegeben, dem er das Anwesen schließlich 1809 verkaufte. In der Folgezeit wurde dort eine Stahlfabrik eingerichtet, mit der die industrielle Entwicklung Wittens ihren Anfang nahm.
Weitaus umtriebiger in ökonomischen Dingen war Friedrich Johann Wilhelms Schwiegersohn, Friedrich Alexander von Hövel (1766 – 1826), der 1796 Maria Wilhelmine von Ritz (1776-1862) nach ihrem Austritt aus dem Stift Stoppenberg geheiratet hatte. Von Hövel zählte wohl zu den „schillerndsten Figuren jener von Umbrüchen gekennzeichneten Zeit im Rheinland und Westfalen“[10]. Der Landrat von Wetter und ab 1805 Präsident der Mindener Kriegs- und Domänenkammer besaß Anteile an der ältesten Eisenhütte des Ruhrgebietes, der 1741 eingerichteten St. Antony-Hütte bei Osterfeld, dem Stammwerk der Gutehoffnungshütte. Von Hövel war dem aufkommenden Maschinenwesen gegenüber aufgeschlossen und verfügte über ebenso tiefreichende Kenntnisse in der Agrar- und Forstökonomie wie im Fabrik- und Gewerbewesen. Er pflegte Kontakte zu Forschungsreisenden und zählte 1797 zu den Mitbegründern des „Westfälischen Anzeigers“ in Dortmund.
5.2 Territorialverfassung
Im Kontext der Verfassung erfolgt der thematische Zugang vornehmlich über Ämter, welche die in der Untersuchung betrachteten Personen innehatten. Für die zentrale Ebene des Fürstentums werden die Aufgabenbereiche des Landrentmeisters und des Generalanwalts dargestellt. So fungierte Konrad von Laach im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts als Landrentmeister des Herzogtums Jülich. Dieses Amt, dem die Koordination der finanziellen Verpflichtungen des gesamten Herzogtums zugrunde lag, bildete sich zeitlich erst nach den Anfängen der lokalen Amtsverwaltung heraus. Bei der Beschreibung der Tätigkeiten auf der Grundlage von Verordnungen sowie einzelnen Quellen stehen Fragen der Entwicklung des spätmittelalterlichen wie frühmodernen Territorialstaates im Vordergrund, für den diese Funktion ebenso wie die des Generalanwalts charakteristisch ist. Diese Tätigkeit übte Simonius Ritz‘ Verwandter Heinrich Condonaeus aus, bei dessen Familie er in den 1580er Jahren in Jülich lebte. Die Rolle des Generalanwalts stand im Zusammenhang mit dem vermehrt eindringenden römischen Recht, der Straffung des Instanzenzuges innerhalb des Territoriums und nicht zuletzt mit einem verstärkten Eingreifen der Obrigkeit in den gemeinhin mit ‚Policey‘ beschriebenen Zuständigkeitsbereich, war also im Wesentlichen mit dem weiten Feld der öffentlichen Ordnung verknüpft.
Für die lokale Verwaltung werden mehrere Aufgabenkreise untersucht. Zunächst die Zuständigkeiten eines Amtmanns, welche ebenfalls an der Person Konrads von Laachs aufgezeigt werden können. Konrad übte diese Funktion für das seit Beginn des 14. Jahrhunderts bestehende Amt Kaster 1459-1471 aus. Der Alltag des Amtmanns kann auch mit Blick auf die Hauptperson Petrus Simonius skizziert werden, der um 1600 dem kleinflächigen, als Exklave nahe Jülich liegenden kurtrierischen Amt Güsten vorstand.
Der Kern der Ämterbildung liegt in der herrschaftlichen Durchdringung des Landes in den Bereichen Besteuerung, Militär sowie – in Kooperation mit dem erwähnten Generalanwalt sowie den Gerichten im Land – der Justiz. Für diesen Prozess ist die räumliche Definition der Amtszuständigkeiten grundlegend, was gerade im Falle Kasters mit der Abgrenzung zum Kurkölner Territorium einhergeht. So fällt Konrad von Laachs Amtmannschaft in eine Phase der Jülicher Landesverwaltung, in welcher die räumliche Definition der einzelnen Ämter noch nicht abschließend durchgeführt worden ist. Die Amtsführung wurde durch die zugeordneten Funktionsträger Kellner, der im lokalen Bereich für die Wirtschafts- und Finanzverwaltung zuständig war, und Vogt unterstützt; letzterem oblagen zivilgerichtliche Aufgaben und die Verfolgung leichterer Strafsachen. Konrad von Laach ist des Weiteren 1475-1489 als Kellner für das Amt Kaster tätig gewesen, wie zum Beispiel sein Bruder Vogt des Amtes Grevenbroich war.
Bei dieser Betrachtung der Amtsführung wird versucht, normative Quellen mit empirischen Nachrichten zu verbinden, die das konkrete Geschehen vor Ort beschreiben, was ebenso mit einem vergleichsweise spezielleren Amt, nämlich dem des Zöllners in Jülich am Beispiel der Person Kaspar Sengels (gestorben 1582) geschieht, des Schwiegervaters von Simonius Ritz. Gleichermaßen im Rahmen der Lokalverwaltung und zwar für den gemeindlichen und kommunalen Bereich werden die Ämter von Bürgermeister, Rat und Schultheiß bzw. Schöffen behandelt: Aufgaben, sozialer Status und ausgeübte Berufe stehen dabei im Fokus. Das Bild, wonach im Grunde nur Kaufleute, Gastwirte und Beschäftigte der öffentlichen Verwaltung wie Gerichtsschreiber ‚abkömmlich‘ und damit in der Lage waren, derartige Ämter zu übernehmen, kann bestätigt und mit einer dichten Quellenlage dokumentiert werden. So war Petrus Simonius Ritz‘ Vater, der Tuchhändler Johannes Simons (gestorben 1585), Bürgermeister, Rat und Schöffe in Kaster und sein Schwiegervater Kaspar Sengel amtierte als Schultheiß in Jülich. Am Beispiel Kaster kann auch das Entstehen dieser Gremien aufgezeigt werden, etwa die Entwicklung des Ratskollegiums aus dem Kreis der Schöffen, was für die kleine Jülicher Stadt erst gegen Mitte des 16. Jahrhunderts hervortritt.
Ein besonderes strukturelles Merkmal der städtischen Verwaltung stellt die Weitergabe von Ämtern zwischen verwandtschaftlich miteinander verbundener Personen dar. ‚Vetternwirtschaft‘ und Protektion sind durchweg zu beobachten. Dazu konnten anhand des untersuchten Familienverbandes verschiedene Beispiele ermittelt werden, besonders für die Verhältnisse im Rats- und Schöffenkolleg bzw. dem Hauptgericht der Stadt Jülich. So dürfte der angeführte Jülicher Generalanwalt Dr. Heinrich Codonaeus sein Amt über seinen Onkel Gerhard von Jülich, den Sekretär Herzog Wilhelms des Reichen,[11] erhalten haben. Weiterhin wird die Einführung von Simonius Ritz als Anwalt in das dortige Gericht und im Folgenden seine Versorgung mit einer Schöffenstelle – neben der Fürsprache seiner Jülicher Verwandtschaft – auf Codonaeus‘ Vorbereitung zurückgehen (wenngleich Codonaeus im Jahr 1590 zur Zeit der Bestellung von Simonius Ritz bereits verstorben war).
5.3 Bildung
Unter diesem Punkt wird die Bedeutung der Bildungseinrichtungen für die sozialen Chancen behandelt. Nach einer ausschnitthaften Beschreibung der Verhältnisse der städtischen Elementarschule in Kaster und der Schule des Augustinerinnenklosters im nahen Frauweiler, die Petrus Simonius Ritz ab Mitte der 1560er Jahre besuchte, folgt eine eingehende Darstellung seiner Schulzeit zwischen 1575 und 1579 auf dem Düsseldorfer Gymnasium, das zeitgenössisch einen hervorragenden Ruf genoss. Die Lehranstalt war 1545 auf Veranlassung Herzog Wilhelms des Reichen von dem Theologen und Pädagogen Johannes Monheim gegründet worden. Simonius Ritz gibt in seiner Lebensbeschreibung eingehend Auskunft über Lehrinhalte und Schulverhältnisse, die seinerzeit zunehmend von den aufkommenden konfessionellen Auseinandersetzungen überschattet wurden.
Es folgte von 1579 bis 1583 der Besuch der oben erwähnten Universitäten, die eine erhebliche Bedeutung für die bürgerliche Elitenbildung der Frühen Neuzeit besaßen. In diesem Zusammenhang werden die damaligen Umstände des Reisens thematisiert, die Simonius Ritz via Frankfurt am Main und Genf über Lyon nach Bourges führten. Solche Erfahrungen kehrten für ihn später bei den Legationen etwa nach Belgien oder Böhmen wieder (muhesaligen vieljarigen Reissen, auch Gefhar[12] ). Gemeint sind dabei neben dem oftmals beschwerlichen und verzögerten Vorwärtskommen die Risiken, die von Mensch und Natur ausgingen. Simonius Ritz zählte somit von Jugend an zu den wenigen Zeitgenossen des 16. und 17. Jahrhunderts, die eine große räumliche Mobilität auszeichnete.
Der Autobiograph berichtet über Bursen (Studentengemeinschaften), über die Lehre an der Kölner Hochschule ebenso wie von den Lebensumständen der in Nationen organisierten Scholaren im französischen Bourges. Dort wurden offenbar moderne Lehrinhalte und Lehrformen (Mos Gallicus: eine Auslegungsmethode, die stärker als das traditionelle Mos Italicus Praxisbezüge aufweist) geboten. Er lernte mit Jaques Cujas (1522–1590), wenn wohl auch nur kurzzeitig, einen der damals europaweit herausragenden Rechtslehrer kennen. Simonius Ritz schildert seine Bildungserfahrungen wohl deshalb recht ausführlich, weil sie ihm als wesentliche Voraussetzung für seinen sozialen Aufstieg aus dem kleinstädtischen Schöffen- und Ratsmilieu seiner Eltern in die bürgerlich-adlige Gesellschaft bewusst waren.
5.4 Religion und Konfession
Für die Generationen der dargestellten Familien, die im ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jahrhundert lebten, sind verschiedene Aspekte spätmittelalterlicher Frömmigkeit wie Memorienstiftungen oder religiöse Wertvorstellungen fassbar. Ein Beispiel ist die Hochschätzung des Priesterstandes, den Konrad von Laach für seinen Neffen Johannes anstrebte (Konrad sprach, Ich haff meyner schwester son Johannes zo der schoilen gehalthen vnd verhofft, er solle eyn phreisther werden, mich bedunckt er wolle eyn netzbove [Netzschlepper etwa bei Jagd oder Fischfang] werden, mich reuwet der costen, denn ich an meyner swester son gelagt hab).[13] Johannes arbeitete schließlich als Bote in der Region um Kaster. An verschiedenen Stellen wird die Verarbeitung von Krankheit und Tod offenkundig, was durchweg als ein Zeichen der individuellen Auserwähltheit durch Gott gedeutet wird: Vermutlich um das Jahr 1500 ereignete es sich, dass Simonius Ritz‘ Urgroßvater Johannes Keutenbrewer Pensen (gestorben um 1545), der Simonius‘ Worten nach das abgelebte Greisenalter von fast 100 Jahren erreicht hatte, frühmorgens von der Kirche nach Hause lief, nachdem die heilige Handlung der Messe beendet war. Auf der Straße flog ihm eine Gans in den Rücken. Er sank auf den Boden zusammen und wurde von einem Knecht nach Hause gebracht und starb einen sehr friedlichen Tod.[14] In ähnlicher Nähe zu göttlichem Eingreifen oder zumindest göttlicher Gegenwart wurde der Tod von Simonius Ritz‘ erster Frau Johanna interpretiert. Zu ihrer Sterbestunde um zwölf Uhr mittags soll eine Himmelserscheinung beobachtet worden sein. Simonius Ritz setzte die Begebenheit in ein lateinisches Distichon und ließ es in ihren Grabstein einschlagen.
An den Phänomenen Krankheit und Tod wird die grundsätzliche christliche Sicht der Zeitgenossen auf diese Welt deutlich: Sie ist nicht mehr als ein ‚Jammertal‘, ein Tal so vielen Unglücks[15] , in dem von den Menschen Bewährung gefordert wird. Das geschieht in der Hoffnung, auf eine andere, bessere Welt verwiesen zu sein, in der sich alle Familienangehörigen wiedersehen, wie dies auf dem Altarbild von 1602 vorweggenommen wird, auf dem neben der zweiten Frau von Simonius Ritz, Christina von Lövenich, auch die erste Ehefrau, die 1598 verstorbene Johanna Sengel abgebildet ist.
Abgesehen von dieser Altarstiftung, die in der Jülicher Stiftskirche fundiert und zugleich als eine öffentliche Bekundung sozialen Prestiges verstanden werden kann, oder dem Einbau einer kleinen Hauskapelle in eine Nische im Erdgeschoss des Hauses Etgendorf durch Simonius Ritz (alle meine capellen sachen vnd was Ich darzu gebraucht, mit der contrafeittungh Ecce homo, Maria Magdalena[16]) enthalten die in beiden Familienarchiven vorhandenen Testamente Hinweise auf verschiedene Frömmigkeitspraktiken. Vor allem die beiden Verfügungen von Simonius Ritz und seiner zweiten Frau Christina von Lövenich (1608/1622) sowie von Friedrich Johann Wilhelm von Ritz (1819) erweisen sich als ergiebige Quellen, wie auch die Nachrichten über die Beerdigung von Petrus Simonius im Herbst 1622. Sie bedeutete im Übrigen auch einen beträchtlichen finanziellen und organisatorischen Aufwand: In den Kirchen der Region um Kaster und Jülich läuteten die Glocken über Tage hin. Allerorts wurden Messen gelesen. In der Jülicher Stiftskirche wurde der Raum um den Familienaltar, an dem der Sarg aufgestellt worden war, mit schwarzem Stoff ausgeschlagen, Nachtwachen wurden engagiert, Kerzen gekauft, Gaben an Arme verteilt und die Ruhestätte innerhalb der Kirche war zu graben und zu vermauern.
Einen breiten Raum nimmt jener Teil der Untersuchung ein, der sich der Herausbildung konfessioneller Differenzierung widmet. Im Zentrum steht neben der Position von Simonius Ritz die Entwicklung in Kaster, wobei die Thematik durch Nachrichten über weitere Orte ergänzt werden konnte, für die entsprechende Quellen über Familienangehörige vorliegen. Die konfessionelle Entwicklung im Alltag der Stadt während der 1560er bis 1590er Jahre kann mit den Visitationsprotokollen, aber vor allem anhand weiterer unveröffentlichter archivischer Quellen (Priesterkonkubinat, Laienkelch, deutscher Gesang im Gottesdienst beziehungsweise die Durchführung der priesterlichen Aufgaben/Messen) nachgezeichnet werden. Dabei treten Auseinandersetzungen um das Bekenntnis zwischen Personen hervor, die zumeist auch dem Familienkreis angehören. Es wurden beispielsweise Vorwürfe der Ketzerei sowie heimlicher religiöser Zusammenkünfte erhoben, was man anscheinend auch instrumentalisiert hat, um soziale Konflikte auszutragen.
Das religiöse Verständnis der Hauptperson Simonius Ritz ist recht gut fassbar. In seiner Lebensbeschreibung geht er rückblickend vor allem auf seine Erfahrungen während der Schulzeit auf dem Düsseldorfer Gymnasium ein, wo er mit der calvinistischen Lehre ebenso in Berührung gekommen ist wie zuhause während der Ferienzeit. Für die Ferienwochen hatten ihm seine Eltern einen dieser Konfession zugehörigen Privatlehrer besorgt. Aufgrund dessen kritisierte der überzeugte Katholik seine Eltern in der Rückschau. Bedingt durch die in Düsseldorf eingefallene Pest wich Petrus Simonius im Kreise seiner Mitschüler im Jahr 1577 in die nahe Kaster liegende Stadt Bedburg/Erft aus. Der Schulbetrieb wurde dort bei Graf Hermann von Neuenahr fortgesetzt, der ein prominenter und einflussreicher Förderer des am Niederrhein dominierenden calvinistischen Bekenntnisses war.
Trotz seiner Distanzierung und Ablehnung des Protestantismus‘ scheint Simonius Ritz evangelische Glaubensangehörige späterhin selbst in seinem engeren familiären Umfeld akzeptiert zu haben, etwa bei seiner Einheirat in die Aldenhovener Schöffensippe von Lövenich. In dieser Familie waren mehrere Personen Mennoniten. Das verschweigt der Autobiograph. Ebenso hat er später den Umstand toleriert, dass die altadlige Familie von Berg genannt Durffenthal, in die der älteste Sohn Kaspar 1615 einheiratete, zumindest in einigen ihrer Zweige ebenfalls protestantisch war.[17]
5.5 Familie und Verwandtschaft: Berufe, Lebensverhältnisse und Wertnormen
Der Stellenwert der Vorfahren für Petrus Simonius Ritz wird allein daran deutlich, dass er ihre Erinnerung an den Anfang seiner Autobiographie stellt und sie so zum Ausgangspunkt seiner Lebensbeschreibung macht.
Auskunft über diesen Themenbereich geben, abgesehen von den reichhaltigen Unterlagen der beiden Familienarchive, insbesondere die Akten der lokalen Gerichte der Jülicher Region, des Jülicher Hauptgerichts (als zuständige zweite Instanz) und schließlich des Reichskammergerichts. Der Grund lag in einem langjährigen Erbstreit, der nach dem Tod Konrads von Laach Anfang des 16. Jahrhunderts zwischen den beiden Linien seiner Nachfahren entstand. Die Gerichtsakten bieten detaillierte Informationen über Lebensläufe, Besitz und Vermögen und vor allem auch über den Alltag der Beteiligten. Ähnliche Erbstreitigkeiten sind im Übrigen auch für die Generationen festzustellen, die auf Simonius Ritz folgten.
Anhand der individuellen Lebensläufe wird insbesondere der soziale Status deutlich. Das wird für den Familienverband – abgesehen von den oben erwähnten ländlichen Lebensverhältnissen – vor dem Hintergrund partieller stadthistorischer Abrisse erarbeitet, fokussiert auf die Städte Kaster und Jülich, aber auch Geilenkirchen und Grevenbroich. Dies betrifft die Themenkomplexe der Siedlungsvoraussetzungen, Einwohnerschaft und deren (land-)wirtschaftliche Tätigkeiten sowie die schulischen und kirchlichen Verhältnisse.
Im Zuge dieser sozialhistorischen Verortung können rund 100 Personen konkret in ihren Berufen, ihrer Konfession, ihren Heiraten und Patenschaften wie überhaupt in ihren Schicksalen dargestellt werden. Darunter finden sich auch Simonius Ritz‘ Eltern in der kleinen Stadt Kaster, mit nur 200-300 Einwohnern, wo der Vater neben seinen öffentlichen Ämtern als Schöffe und Bürgermeister den Lebensunterhalt der Familie vorwiegend mit seinem Tuchhandel bestritt. In Grevenbroich treten die Vorfahren der mütterlichen Linie in der Hopfenverarbeitung hervor (Keutenbrewer), eine Frau aus diesem Familienzweig war als Witwe eigenständig im Handel tätig. In Geilenkirchen begegnet uns Simonius Ritz‘ Urgroßvater mütterlicherseits, der Ratsherr, Schöffe und Kirchmeister Richard Ritz von der Heyden, um 1500 beim Glockenguss sowie bei seinen Tätigkeiten für die dortige St. Sebastianus-Bruderschaft. In ihren Einzelheiten wird die Familie des Jülicher Bürgermeisters, des am dortigen Hauptgericht tätigen Schultheißen, Zöllners, Kellners des Amtes und herzoglichen Schreibers Kaspar Sengel geschildert, in die Simonius Ritz 1586 einheiratete.
Neben der Frage der sozialen Schichtung und Zugehörigkeit sind in mentalitätsgeschichtlicher Hinsicht die sozialen Wertungen und ideellen Normen von Bedeutung. In einzelnen Fällen kann die Wahrnehmung sozialer Unterschiede ebenso wie das Verhalten gegenüber sozial Tiefer- beziehungsweise Höherstehenden beschrieben werden. Moral- wie Wertvorstellungen etwa zur unehelichen Geburt oder zum Lebensalter sind vernehmbar, auch beim alltäglichen Handeln wie zum Beispiel während Simonius Ritz‘ Studienzeit in Frankreich, als er seinen eigenen, selbstanklagenden Worten nach, in der Blüte des Alters, durch die zügellose Leichtfertigkeit inmitten der anderen Deutschen, mit denen mir zusammen der Tisch zugehörte und ich in Orléans und in Paris gelebt hatte, verdorben worden war.[18] Oder als er auf der Reise zu den französischen Universitäten eine Hinrichtung in Genf miterlebte: Es waren fünf der ersten Männer der Stadt wegen […] Königsverrats im April des Jahres 1582 in vier Teile zerschnitten worden.[19] Offenbar stand für ihn außer Zweifel, dass derartige Strafen gerechtfertigt waren.
Weiterhin ist die Genauigkeit, Rationalität und exakte Planung alltäglicher Verhältnisse erkennbar. Simonius Ritz erwähnt in seiner Autobiographie mit Hochschätzung die penible Rechnungsführung seines im Handel tätigen Vaters wie er später einmal aus offenbar gleicher Motivation seinen ältesten Sohn Kaspar stark kritisiert, weil dieser, ähnlich wie Simonius Ritz ehedem selbst, als 22-Jähriger in auswendigen landen vnnützlich Gelder vertan habe. Kaspar war ohne des Vaters vorwißen auß Italien in Hyspanien verreißett, wo er zimmelich geltt verzehrtt vnd auffgenhommen.[20] Selbst Aussagen zur weiblichen Attraktivität fallen im Zusammenhang mit der von der Verwandtschaft angebahnten zweiten Ehe. Simonius Ritz skizzierte eine junge Kölnerin wie folgt: Liebreiz des Antlitzes, blühender Zustand des Alters, Schlankheit der Gliedmaßen, Überfluss an Reichtum und schließlich Feinheit des Talentes.[21] Dennoch verzichtete er auf diese Verbindung, angeblich unter Rücksichtnahme auf seine damals noch minderjährigen Kinder. Er heiratete stattdessen mit Christina von Lövenich eine ältere Frau, die seinen Worten nach über eine reiche Erfahrung in Dingen der Haushaltsführung verfügte.
Weiterhin sind Aussagen über das tägliche Miteinander in den Haushalten zu treffen, zeitlich beginnend mit Simonius Ritz‘ Ururgroßeltern Konrad von Laach und Ida von Beinheim auf den Häusern Laach und Etgendorf. Dort wurde auch ein uneheliches Kind Konrads aufgezogen, das er während der Ehe mit Ida gezeugt hatte. Es zeigt sich, dass Hausangestellte wie eine Kochmagd, ein Diener oder der Kutscher recht eng in das Familienleben eingebunden waren. Auch in der Familie der Eltern und späterhin im Haushalt von Petrus Simonius und dem seiner Nachfahren zählten Hausangestellte und Diener stets zur Hausgenossenschaft. Aufschlussreich ist die um 1790 verfasste, acht Folioseiten lange Anweisung von Friedrich Johann Wilhelm von Ritz für seinen Hausdiener auf Etgendorf (Ein Dienstleistung meines Bedienten, Richtschnur seines Betragens, und was er an Lohn Kostgeld und Kleider erhällt[22]). Darin wurde nicht zuletzt auch das erwünschte Verhalten bei Kutschfahrten und gegenüber Fremden niedergeschrieben wie Vorgaben über die freie Zeit des Dieners enthalten waren.
Nicht zum Familienleben der hier betrachteten Personen, aber zur Hofgeschichte Etgendorfs und den Lebensumständen der Pächter zählt die eingehende Schilderung der Bedrängnisse, denen man sich dort in den 1580er und beginnenden 1590er Jahren während des Kölner beziehungsweise des spanisch-niederländischen Krieges ausgesetzt sah: Mehrfach kam es zu Überfällen und Beraubungen durch Soldaten und zu Kämpfen, die zu Verwundung und Tod führten. Als eine weitere, stetig das Leben der Menschen bedrohende Gefahr ist die wiederkehrend erwähnte Pest zu nennen. Die Angehörigen des betrachteten Familienkreises vermochten im Unterschied zur Mehrzahl ihrer Zeitgenossen wie etwa die an ihren Hof gebundenen Bauern vor der Gefahr zu fliehen. Man wechselte den Aufenthalt zwischen Stadthäusern und Landsitzen.
Zu Wohnverhältnissen, Bekleidung und Ernährung liegen neben Nachrichten über die Räumlichkeiten in Simonius Ritz‘ elterlichem Haus in Kaster auch Informationen für das während seiner ersten Ehe gepachtete Haus in Jülich (1586–1601) vor. Über Feste und Feiern wird berichtet, bei denen laut der Selbstdarstellung ganz in bürgerlichem Sinne auf eine ‚maßvolle Haushaltsführung‘ achtgegeben wurde. Fernerhin sind den Quellen detaillierte Angaben über das Leben in Haus und auf dem Hof Etgendorf sowie über das 1620 in Düsseldorf neu erbaute Stadthaus und seine Bewohner zu entnehmen. Beispielsweise wurden in die Fenster farbige Gläser mit Wappen verschiedener Stifte und Kommunen eingesetzt, mit denen Simonius Ritz als Rat und Jurist in Verbindung stand. Für den täglichen Bedarf wurde auf den jeweiligen Märkten und in Gastwirtschaften eingekauft, worüber für das frühe 17. Jahrhundert Haushaltsrechnungen in serieller Folge vorliegen. Sie zeigen etwa die hohen Kosten, die regelmäßig für Schuhwerk und Bekleidung aufgewandt wurden; fast ausschließlich erwarb man hochwertige schwarze Stoffe.
Eine hervorgehobene Bedeutung im Themenfeld ‚Familie‘ kommt dem Heiratsverhalten zu. Betrachtet werden vor allem die beiden Ehen von Simonius Ritz, aber es werden auch weitere Eheschließungen erörtert, die in der Regel die beschriebenen Schöffen- bzw. Ratskreise der Jülicher Städte nicht verlassen. Außer dem Ehevertrag zwischen Simonius Ritz und von Lövenich (1598) wurden Verträge der Nachfahren ausgewertet, wie zum Beispiel der 1770 zwischen Friedrich Johann Wilhelm von Ritz und Dorothea Charlotte von dem Bottlenberg geschlossene Kontrakt. In allen Fällen wird deutlich, dass mit jedweden Eventualitäten rational umgegangen, also ungeachtet der möglichen Liebesheirat stets auch die wirtschaftliche Verantwortung bedacht wurde. Nichtsdestoweniger sind späterhin Konflikte entstanden. Dies trat bereits bei der Heirat des ältesten Sohnes Kaspar von Ritz im Jahr 1615 in ein altes, landtagsfähiges Jülicher Adelsgeschlecht zu Tage. Es kam mit den beiden Töchtern Anna und Katharina ein heftiger wie langjähriger Streit um die finanzielle Ausstattung des Erstgeborenen auf, der bis vor das Reichskammergericht getragen wurde (das vierte Kind, Peter, war derzeit schon Ordensbruder und hatte damit dem Weltlichen entsagt).
5.6 Frühneuzeitliche Medizin und Gesundheit
Bei der Erörterung medizinischer Fragen steht die im Laufe des Jahres 1588 einsetzende schwere Erkrankung (Lähmung) der ersten Frau von Simonius Ritz im Mittelpunkt. Sie war bald auf tägliche Hilfe von Mägden angewiesen. Die Behandlungen geben Aufschlüsse über den medizinhistorischen Kontext. Sie erfolgten insbesondere durch die jülich-klevischen Hofärzte, unter ihnen der bekannte Mediziner Galenus Weyer (1547-1619), die seinerzeit den erkranken Jülicher Fürsten zu kurieren versuchten, aber auch durch eine unbekannte, nicht näher bezeichnete ‚Heilerin‘ in Aachen, wobei man davon ausgehen kann, dass eine Abgrenzung zwischen gelehrter Schul- und Volksmedizin vor dem 19. Jahrhundert nicht bestand.
Die Ärzte verordneten verschiedene Heilmittel des Paracelsus und Trinkkuren.[23] Die Therapie erfolgte auch auswärts an den warmen Aachener und Burtscheider Quellen sowie an den eisen- und schwefelhaltigen Wassern in Spa. Simonius Ritz, in dessen Lebensbeschreibung die Krankheitsgeschichte seiner Frau einen vergleichsweise umfangreichen Raum einnimmt, beschreibt ein eigens angefertigtes Gerät zur Bedampfung der erkrankten Körperstellen mit Kräutern.
Den Grund ihres Ablebens deutete Simonius Ritz vermutlich unter Bezug auf die Auffassung der Ärzte mit dem Modell der Säftelehre des griechischen Arztes Galenos von Pergamon (um 129-um 216), auf den demnach der Beiname des Arztes Weyer zurückgehen wird.
Darüber hinaus sind den Etgendorfer Haushaltsrechnungen einzelne Hinweise auf die Behandlung von Petrus Simonius in den letzten Wochen seines Lebens zu entnehmen, etwa der Kauf verschiedener Medikamente in der Apotheke zu Jülich.
5.7 Soziale Mobilität
Im Fokus der sozialen Mobilität steht zunächst die Herausbildung und soziale Verortung der spätmittelalterlichen Ministerialenschicht sowie ihr Hineinwachsen in die soziale Gruppe der Ritter beziehungsweise des niederen Landadels. Bei den Ministerialen handelt es sich um Personen, wie sie uns im 13. Jahrhundert im Zusammenhang mit dem Hof Etgendorf begegnen und später, während des 15. Jahrhunderts, auch im Kreis der Familie von Laach. Diese sozialen Entwicklungen stehen in Verbindung mit der sich während des 12./13. Jahrhunderts auflösenden Villikationsverfassung, einer spezifischen Form der Grundherrschaft.
Bei der Betrachtung der Familiengeschichte des 16. bis 18. Jahrhunderts rückt das Verhältnis und die Überschneidung der Lebensbereiche bürgerlicher und adliger Schichten in den Vordergrund, insbesondere die Abgrenzung seitens der altadligen Eliten. So erwarb Simonius Ritz bereits sechs Jahre vor seiner Nobilitierung im Jahr 1604 den adligen Rittersitz Richardshoven zu Niederembt unweit Etgendorf. Die Zugehörigkeit zum Adel und dessen Lebensweise galten ihm als soziales Vorbild. Im Zentrum dieser Beobachtungen steht die erwähnte Einheirat des erstgeborenen Sohnes Kaspar in eine alte Jülicher Adelsfamilie. Anders als sein Vater, nahm Kaspar nicht mehr eine juristische Ausbildung auf sich, die als klassischer bürgerlicher, an einen Bildungserwerb gebundenen Aufstieg zu verstehen ist. Vielmehr suchte er neben seiner höfischen Anwesenheit während des Dreißigjährigen Krieges eine adelig-standesadäquate Tätigkeit im Militärwesen. Er wurde in den 1630er Jahren Kriegskommissar im gleichzeitigen Auftrag der Jülicher Landstände und des Kaisers. Seine Aufgabe bestand in der finanziellen Versorgung des Heeres. Die vorhandenen Unterlagen zeigen ein mitunter dichtes Bild des Kriegsalltags auf: Kontributionen und Einquartierungen, Kosten der Militäreinheiten und Aufzeichnungen über Gefallene und Gefangene.
In diesen Jahrzehnten ging Kaspar auch persönliche Risiken ein, etwa indem er von den 1620er bis in die 1640er Jahre zwecks Erpressung von Lösegeld viermal in Gefangenschaft der Generalstaaten geriet (gefangen vnd ihm das pferdt vnder dem leib geschoßen […] Knecht ermordt, beraubt, geknebelt vnd rantzonirt [24] ). Sie dauerte zum Beispiel im Jahr 1624 ganze 44 Wochen an, bis er sich mit einer Zahlung von 4.000 Reichstalern freikaufen konnte.
Trotz einer angeblich sogar schriftlichen Zusage des Landesfürsten anlässlich der Heirat Kaspars im Jahr 1615, wonach er unter die Jülicher Ritterschaft aufgenommen werden und mit einer adäquaten (Amtmann-)Stelle im Raum um Jülich, Aldenhoven und Grevenbroich beziehungsweise im Westen des Herzogtums oder auch in der Eifel versorgt werden sollte, sind die vielfältigen Bemühungen von Simonius Ritz für seinen Sohn letzten Endes erfolglos geblieben. Es wäre tatsächlich ein sowohl in Anbetracht der Besetzung der Amtmannstelle, vor allem aber bei der Aufnahme unter die Ritterschaft ungewöhnlicher Vorgang gewesen, wenn ein ‚homo novus‘ (Neuling, Aufsteiger) derart platziert worden wäre.
Ein ähnliches Muster ist bei der Versorgung der weiblichen Nachfahren in Klöstern erkennbar, was ebenfalls nach adligem Vorbild geschah, zu dem der hier betrachtete Hauptzweig Ritz seit 1604 gehörte. Solches ist zwar auch in den bürgerlichen Linien zu beobachten, wie zum Beispiel im Falle der genannten Tochter Mohr, die in das Kloster Herkenrath eintreten sollte. Diese Versorgungsmöglichkeit wurde jedoch häufiger im adligen Familienkreis genutzt. Beispielsweise traten alle vier Töchter aus der Ehe Kaspars und Annas von Berg genannt Durffenthal in Klöster der Region ein. Das setzt sich über das Ende des alten Reiches fort, bis hin zu Eleonore Caroline von Ritz, die 1827 als Stiftdame zu Herdecke verstarb.
Der soziale Aufstieg mit dem Ziel einer Aufnahme in den alten Jülicher Adel gelang trotz steter Bemühungen der Nachfahren von Simonius Ritz und ihrer ununterbrochenen Tätigkeit als jülich-bergische Hofräte erst 1764 oder nur wenige Jahre davor. Damals wurde Petrus Simonius Ritz‘ Ururur-Enkel Karl Friedrich von Ritz (1715–1794), seit 1736 als Hofrat im Dienst des Herzogs von Jülich-Berg und seit 1745 mit Franziska Charlotte v. Rolshausen (gestorben 1767) verheiratet, zur Jülicher Ritterschaft aufgeschworen. Der soziale Annäherungsprozess hatte also gut anderthalb Jahrhunderte gedauert und verlief über fünf Generationen (von Ritz verheiratet mit: von Berg genannt Durffenthal, von Lyskirchen zu Transdorf, von Bongard zu Paffendorf, von Bawyr zu Frankenberg und von Rolshausen). Auch der Erhalt (Kauf) einer Amtmannschaft – in seinem Fall der von Grevenbroich/Gladbach – war erst wenige Jahre vorangegangen (1740/1745) und musste gegen den Widerstand des alten Adels durchgesetzt werden, der sich sowohl dem Landesherrn wie dem Begünstigten entschieden entgegenstellte.[25]
Dass die Familie endlich den lange erstrebten sozialen Status erreicht hatte, zeigen die Karrieren der nächsten Generation, die über das angestammte Jülicher Territorium hinausreichten. Außer dem oben ausführlich erwähnten Friedrich Johann Wilhelm von Ritz, dem erstgeborenen Sohn Karl Friedrichs, gelang dem zweitgeborenen Sohn Adolph Ambrosius (1751– 1840) die Aufnahme unter die kurkölnische Ritterschaft. Er machte im kurpfälzischem Militärdienst Karriere und führte späterhin ein adliges Landleben auf seinem Gut Wachendorf bei Euskirchen. Der Drittgeborene Ferdinand Maria (1755– 1831) trat ebenfalls in militärische Dienste, in seinem Fall beim Fürstbischof zu Speyer. Dort wurde er 1775 Geheimer Rat und Hofmarschall. Sein Vater hatte ihn 17-jährig an die Residenz in Speyer geschickt, wo sich ein recht privates und enges Vertrauensverhältnis zum Fürstbischof entwickelte, der ihn auch testamentarisch bedachte. Nach der Auflösung des geistlichen Staates kam er im Großherzogtum Baden zu Amt und Würden, wo er als Hofmarschall und Geheimer Rat fungierte.
6. Schlussbetrachtung
Die im letzten Kapitel dargestellten strukturellen Themen, die anhand der Überlieferung zum Familienkreis von Laach – Simonius Ritz bearbeitet wurden, zeigen einen breiten Querschnitt durch die spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Sozialgeschichte am Niederrhein, wie sie wohl auch für vergleichbare Familienverbände Geltung beanspruchen dürfte. Abgesehen von der über die narrative Darstellungs- und Präsentationsform intendierte leichte Zugänglichkeit auch für Interessierte außerhalb der fachhistorischen Zunft besteht ein wesentliches Ziel der Untersuchung darin, die gut ein Säkulum dauernde landesgeschichtliche Forschung in vielen ihrer unterschiedlichen Bereiche von der Verfassungs- bis zur Sozialgeschichte zusammenzufassen.
Quellen
Stadtarchiv Mönchengladbach, Bestand 24: Ritz zu Etgendorf und das Familienarchiv von zur Mühlen, Haus Merlsheim (Kr. Höxter), Bestand Ritz.
Literatur
Burghardt, Franz Josef, Die Geheimen Räte der Herzogtümer Jülich und Berg 1692–1742. Ein Beitrag zur niederrheinischen Gesellschaftsstruktur im Zeitalter des Absolutismus, Meschede 1992.
Dösseler, Emil, Die jülich-bergische Kanzlerfamilie Lüninck, in: Düsseldorfer Jahrbuch 45 (1951) S. 150–184.
Niederau, Kurt, Die jülich-bergische Kanzlerfamilie Lüninck, Nachträge und Anmerkungen, in: Düsseldorfer Jahrbuch 51 (1963), S. 259–280.
Richter, Olaf, Die jülich-bergischen Räte und der Erbfolgestreit, in: Groten, Manfred/Looz-Corswarem, Clemens von/Reininghaus, Wilfried (Hg.), Der Jülich-Klevische Erbstreit 1609. Seine Voraussetzungen und Folgen, Vortragsband, Düsseldorf 2011, S. 111–136.
Richter, Olaf, Niederrheinische Lebenswelten, Niederrheinische Lebenswelten in der Frühen Neuzeit - Petrus Simonius Ritz (1562-1622) und seine Familie zwischen Bürgertum und Adel, Köln [u.a.] 2015.
Richter, Olaf, Zum Leben im adligen Haus um 1800. Das Dienstpersonal und sein Verhältnis zur Herrschaft am Beispiel des niederrheinischen Adligen Friedrich Johann Wilhelm von Ritz zu Etgendorf, in: Die Heimat. Krefelder Jahrbuch 82 (2011), S. 156–161.
Stommel, Karl, Johann Adolf Freiherr Wolff genannt Metternich zur Gracht, Vom Landritter zum Landhofmeister. Eine Karriere im 17. Jahrhundert, Köln 1986.
- 1: Der Beitrag [wg. „Studie“ im Folgenden] basiert in wesentlichen Teilen auf der Studie Richter, Niederrheinische Lebenswelten. Sie wird hier in zentralen Aspekten und Ergebnissen zusammengefasst.
- 2: Vgl. Dösseler; Niederau; Stommel; Burghardt.
- 3: Stadtarchiv Mönchengladbach, Bestand 24: Ritz zu Etgendorf und das Familienarchiv von zur Mühlen, Haus Merlsheim (Kr. Höxter), Bestand Ritz.
- 4: Richter, Niederrheinische Lebenswelten, S. 23.
- 5: Das zeigt sich beispielsweise darin, dass die Betrachtung der Hauptperson Petrus Simonius Ritz erst nach einer ausführlichen Darstellung der Lebensverhältnisse der Vorfahren auf S. 260 der insgesamt 657 Seiten umfassenden Untersuchung einsetzt.
- 6: Stadtarchiv Mönchengladbach, Bestand 24: Ritz zu Etgendorf Akte 13 fol. 6v.
- 7: Vgl. Richter, Die jülich-bergischen Räte.
- 8: Vgl. Richter, Die jülich-bergischen Räte.
- 9: Richter, Niederrheinische Lebenswelten, S. 570.
- 10: Richter, Niederrheinische Lebenswelten, S. 627.
- 11: Zu ihm: Günter Bers, Der herzoglich jülich’sche Sekretär Gerhard von Jülich († 1575), in: Jülicher Heimatblätter 20 (1968), S. 9–11; Helmut Wollnick, Beobachtungen zur Überlieferung der Chronik des jülischen Sekretärs Gerhard von Jülich (ca. 1520–1575), in: Annalen des historischen Vereins für den Niederrhein 201 (1998), S. 101–160, hier S. 101-102; Richter, Niederrheinische Lebenswelten, S. 394.
- 12: Richter, Niederrheinische Lebenswelten, S. 372.
- 13: Richter, Niederrheinische Lebenswelten, S. 193.
- 14: Richter, Niederrheinische Lebenswelten, S. 232.
- 15: Richter, Niederrheinische Lebenswelten, S. 538.
- 16: Richter, Niederrheinische Lebenswelten, S. 588.
- 17: Richter, Niederrheinische Lebenswelten, S. 570.
- 18: Richter, Niederrheinische Lebenswelten, S. 386-387.
- 19: Richter, Niederrheinische Lebenswelten, S. 373-374.
- 20: Richter, Niederrheinische Lebenswelten, S. 565.
- 21: Richter, Niederrheinische Lebenswelten, S. 526.
- 22: Familienarchiv von zur Mühlen, Haus Merlsheim (Kr. Höxter), Bestand Ritz, Akten 18 c. Vgl. Richter, Zum Leben im adligen Haus um 1800.
- 23: Richter, Niederrheinische Lebenswelten, S. 517.
- 24: Richter, Niederrheinische Lebenswelten, S. 599.
- 25: Richter, Niederrheinische Lebenswelten, S. 609-612.
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Richter, Olaf, Familiengeschichte als Landesgeschichte: Die Jülicher Familie Simonius genannt Ritz vom 15.-19. Jahrhundert, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/familiengeschichte-als-landesgeschichte-die-juelicher-familie-simonius-genannt-ritz-vom-15.-19.-jahrhundert/DE-2086/lido/677bf603eba000.10978941 (abgerufen am 19.01.2025)