Festungen im Rheinland

Thomas Tippach (Münster)

Johann Adolf Lasinsky, Koblenz-Ehrenbreitstein, 1828. (LVR-LandesMuseum Bonn)

1. Einleitung

Be­trach­tet man die ge­schichts­wis­sen­schaft­li­che For­schung zur Krieg­füh­rung im 19. Jahr­hun­dert be­zie­hungs­wei­se zum Kriegs­bild in der Zeit vor dem Aus­bruch des Ers­ten Welt­kriegs, so do­mi­niert hier das Pa­ra­dig­ma vom Be­we­gungs­krieg. Die­ses Ur­teil ba­siert zum ei­nen auf Un­ter­su­chun­gen zur Krieg­füh­rung Na­po­le­ons, zum an­de­ren auf Stu­di­en zu den ope­ra­ti­ven Ma­xi­men des äl­te­ren Molt­ke so­wie vor­nehm­lich den Pla­nun­gen des deut­schen Ge­ne­ral­stabs in der Zeit Schlief­fens. Die­se ein­sei­ti­ge Per­spek­ti­ve über­rascht, denn der Fes­tungs­bau er­leb­te nach 1815 ei­ne Re­nais­sance, die sich ge­ra­de auch im Rhein­land zeig­te. Mit dem vom preu­ßi­schen Staat ver­an­lass­ten Aus- und Neu­bau von We­sel, Köln, Jü­lich, Ko­blenz und Saar­louis ent­stand hier ein Fes­tungs­gür­tel ge­gen Frank­reich,[1]  der durch die Bun­des­fes­tun­gen Lu­xem­burg, Mainz, Land­au un­d Ras­tatt so­wie die baye­ri­sche Fes­tung Ger­mers­heim ver­voll­stän­digt wur­de. Die sich in die­sem Fes­tungs­bau spie­geln­de Hin­wen­dung zu ei­ner De­fen­siv­kriegs­stra­te­gie war ei­ne Fol­ge der Durch­set­zung der eu­ro­päi­schen Frie­dens­ord­nung von 1815 mit ih­ren Prin­zi­pi­en staat­li­cher Sou­ve­rä­ni­tät, mon­ar­chi­scher So­li­da­ri­tät und kon­sti­tu­ti­ver Le­gi­ti­mi­tät.[2]  Aber auch un­ge­ach­tet der po­li­ti­schen Rah­men­be­din­gun­gen nach dem En­de der na­po­leo­ni­schen Ära blie­ben Fes­tun­gen aus Sicht der Ge­ne­ral­stä­be der eu­ro­päi­schen Staa­ten wäh­rend des „lan­gen 19. Jahr­hun­derts“ ein we­sent­li­ches Ele­ment der Krieg­füh­rung und ins­be­son­de­re der Deutsch-Fran­zö­si­sche Krieg war nicht zu­letzt ein „Fes­tungs­krie­g“,[3]  der un­ter an­de­rem durch die Be­la­ge­run­gen von Metz und Pa­ris ent­schie­den wor­den war. Es wa­ren in ers­ter Li­nie die Er­fah­run­gen die­ses Krie­ges und die waf­fen­tech­ni­sche Ent­wick­lung im Zeit­al­ter der In­dus­tria­li­sie­rung, die nach 1871 in den meis­ten eu­ro­päi­schen Staa­ten aber­mals den An­stoß zum Um­bau oder zur Er­rich­tung von Fes­tun­gen ga­ben und die die Hal­tung des deut­schen Ge­ne­ral­stabs zum „Fes­tungs­pro­ble­m“[4]  bis zum Aus­bruch des Ers­ten Welt­kriegs be­ein­fluss­ten. Es ist aber zu fra­gen, wie die be­waff­ne­te Macht auf die Fol­gen der Ur­ba­ni­sie­rung re­agier­te, denn aus dem Städ­te­wachs­tum muss­ten be­son­de­re Her­aus­for­de­run­gen für die Si­cher­stel­lung der Ver­tei­di­gungs­fä­hig­keit der Fes­tun­gen er­wach­sen. Frag­los galt die weit­rei­chen­de Be­fehls­ge­walt und Re­gu­lie­rungs­kom­pe­tenz der Fes­tungs­kom­man­dan­ten be­zie­hungs­wei­se -gou­ver­neu­re in den be­trof­fe­nen Städ­ten be­reits in Frie­dens­zei­ten, die im Kriegs­fall auf das wei­te­re Um­land aus­ge­dehnt wur­de, als zen­tra­ler Bau­stein zur Si­cher­stel­lung der Ver­tei­di­gungs­fä­hig­keit. Für die Be­völ­ke­rung in den Fes­tungs­städ­ten war die­ser mi­li­tä­ri­sche Vor­be­halt bis weit über die Mit­te des 19. Jahr­hun­derts hin­aus vor al­lem in den Tor­kon­trol­len beim Be­tre­ten oder Ver­las­sen der Stadt sicht­bar. Für sie zeig­te sich der Fes­tungs­cha­rak­ter zu­dem in den zahl­lo­sen mi­li­tä­ri­schen In­fra­struk­tur­ein­rich­tun­gen, den Fes­tungs­wer­ken so­wie der star­ken Gar­ni­son; für die Grund­be­sit­zer wa­ren es in­des die Ein­schrän­kun­gen ih­rer Ei­gen­tums­rech­te im Schuss­feld vor der Ver­tei­di­gungs­wer­ken− dem Fes­tungs­rayon−, in de­nen sich die Aus­wir­kun­gen der Fes­tungs­ei­gen­schaft ma­ni­fes­tier­ten. Die­se Bau­be­schrän­kun­gen im Vor­feld der Um­wal­lung und die Um­wal­lung selbst wa­ren aus Sicht der  Stadt­ver­wal­tun­gen und kom­mu­na­len Ent­schei­dungs­trä­ger au­ßer­dem die ent­schei­den­den Hin­der­nis­se für ei­ne Er­wei­te­rung der Stadt und für ei­nen öko­no­mi­schen Auf­schwung. Mit­hin be­stan­den in ei­ner Fes­tungs­stadt zahl­rei­che Be­rüh­rungs- und ggf. Kon­flikt­punk­te zwi­schen der zi­vi­len und mi­li­tä­ri­schen Sphä­re, die im Fol­gen­den in den Blick ge­nom­men wer­den sol­len.

Verteilung des Belagerungsheeres vor Paris ab dem 3.1.1871.

Schwere Geschütze vor Paris, 1870/71.

Die Zerstörung im Pariser Vorort St. Cloud bei der Belagerung von Paris, 1870/71.

Grundriss der Stadt Köln 1815, als Köln preußisch wurde, weite Flächen im Stadtgebiet waren noch unbebaut.

 

2. Städtewachstum als militärische Herausforderung

Als Re­ak­ti­on auf die Nie­der­la­ge im Krieg ge­gen Na­po­le­on und die weit­ge­hend kampf­lo­se Ka­pi­tu­la­ti­on der preu­ßi­schen Fes­tun­gen war 1809 ei­ne als ge­heim ein­ge­stuf­te In­struk­ti­on an die Fes­tungs­kom­man­dan­ten er­las­sen wor­den, der of­fen­kun­dig ei­ne Denk­schrift Au­gust Neidthard von Gnei­sen­aus (1760−1831) aus dem Jahr 1808 zu­grun­de lag. Um künf­tig ei­ne kampf­lo­se Auf­ga­be von Fes­tun­gen aus­zu­schlie­ßen, wur­de der Kom­man­dant eben­so wie je­der ein­zel­ne Of­fi­zier der Fes­tungs­gar­ni­son zur hart­nä­ckigs­ten Vert­hei­di­gung ver­pflich­tet, die oh­ne Rück­sicht auf Ver­lus­te durch­zu­füh­ren sei. Der Ap­pell an die Pflicht­er­fül­lung und da­mit an die Eh­re des Of­fi­ziers­korps er­schien aber of­fen­bar nicht aus­rei­chend, denn gleich­zei­tig wur­de ein har­ter Straf­ka­ta­log er­las­sen: Ein Be­fehls­ha­ber, der nicht durch Auf­op­fe­rung ei­nes be­deu­ten­den Theils der Gar­ni­son be­wie­sen ha­be, dass er al­le An­stren­gun­gen zur Ver­tei­di­gung un­ter­nom­men ha­be, hat­te mit min­des­tens mehr­jäh­ri­ger Fes­tungs­haft zu rech­nen. Aber auch ein Bom­bar­de­ment und [ei­ne] Ein­äsche­rung der Stadt soll­ten bei wei­ter­hin vor­han­de­nen Streit- und Le­bens­mit­teln so­wie in­tak­ten Fes­tungs­wer­ken kein Grund für ei­ne Ka­pi­tu­la­ti­on [sein].[5]  Um die Auf­ga­be er­fül­len zu kön­nen, muss­te die dau­er­haf­te mi­li­tä­ri­sche Ein­satz­be­reit­schaft der Fes­tung ge­währ­leis­tet wer­den. Lie­ßen sich hier Ver­säum­nis­se des Fes­tungs­kom­man­dan­ten nach­wei­sen, die im Kriegs­fall zu ei­ner Über­ga­be der Fes­tung führ­ten, droh­te ihm die To­des­stra­fe. Für den Be­la­ge­rungs­fall war da­her be­reits im Frie­den ent­spre­chen­de Vor­sor­ge zu tref­fen. Es galt ei­ne aus­rei­chen­de Ver­pro­vi­an­tie­rung der Gar­ni­son und der für die Ver­tei­di­gung zu­min­dest teil­wei­se un­ver­zicht­ba­ren Zi­vil­be­völ­ke­rung, die in die­ser In­struk­ti­on al­ler­dings kei­ne Be­ach­tung fand, si­cher­zu­stel­len. Aus der For­de­rung zur per­ma­nen­ten Ein­satz­be­reit­schaft lei­te­te sich zu­sätz­lich ei­ne um­fas­sen­de Re­gu­lie­rungs­kom­pe­tenz der be­waff­ne­ten Macht zur Auf­recht­er­hal­tung der in­ne­ren Ru­he und Ord­nung in der Fes­tung ab, die in ei­ner be­son­de­ren Ver­ord­nung über das Ver­hält­nis der Zi­vil- und Mi­li­tär­be­hör­den in den Fes­tun­gen fest­ge­schrie­ben wur­de. Die­se be­grün­de­te die grund­sätz­li­che In­fe­rio­ri­tät der je­wei­li­gen Kom­mu­nal­ver­wal­tung un­ter die be­waff­ne­te Macht und er­mäch­tig­te den Fes­tungs­kom­man­dan­ten im Be­la­ge­rungs­fall bei­spiels­wei­se bei For­de­run­gen von Zi­vi­lis­ten nach ei­ner Über­ga­be der Fes­tung − ein Vor­gang, der als Meu­te­rei be­wer­tet wur­de −, zu schärfs­ten Be­stra­fun­gen.[6]  Über­dies um­fass­te sie un­ter an­de­rem im Ar­mie­rungs­fall das Recht zur Zwangs­aus­wei­sung von Per­so­nen, die sich ent­we­der nicht selbst ver­sor­gen konn­ten oder de­ren po­li­ti­sche Hal­tung die Mo­bi­li­sie­rungs- und Ver­tei­di­gungs­fä­hig­keit der Fes­tung zu be­dro­hen schien.[7]  Die­ser mi­li­tä­ri­sche Vor­be­halt muss­te spä­tes­tens in der zwei­ten Hälf­te des 19. Jahr­hun­derts vor dem Hin­ter­grund des ra­schen Städ­te­wachs­tums und an­ge­sichts der Fol­gen der zu­neh­men­den so­zia­len Dif­fe­ren­zie­rung in den Städ­ten, des öko­no­mi­schen Auf­schwungs, der wach­sen­den bür­ger­li­chen Par­ti­zi­pa­ti­ons­be­stre­bun­gen so­wie ei­nes ge­stie­ge­nen kom­mu­na­len Selbst­be­wusst­seins un­wei­ger­lich mit kom­mu­na­len, bür­ger­li­chen und öko­no­mi­schen In­ter­es­sen kol­li­die­ren. Die Aus­wir­kun­gen der Ur­ba­ni­sie­rung kon­fron­tier­ten das Mi­li­tär al­ler­dings nicht nur mit po­li­ti­schen Her­aus­for­de­run­gen, son­dern das Städ­te­wachs­tum stell­te die Streit­macht auch vor lo­gis­ti­sche Pro­ble­me, auf die es re­agie­ren muss­te, wenn es nicht die Ein­satz­be­reit­schaft der Fes­tun­gen ge­fähr­den woll­te.

August Neidhardt von Gneisenau, Preußischer Generalfeldmarschall (1760-1832), Stahlstich, undatiert.

Karte von Koblenz mit Befestigungswerken, 1888. (Stadtarchiv Koblenz)

Abbruch des Abbruch des "Löhrtors" der preußischen Stadtbefestigung von Koblenz, 1899. (Stadtarchiv Koblenz)

 

Tat­säch­lich zeich­net sich seit Be­ginn der 1860er-Jah­re ein zu­nächst vor al­lem volks­wirt­schaft­lich be­grün­de­tes, zö­ger­li­ches Ent­ge­gen­kom­men des preu­ßi­schen Staa­tes ge­gen­über den For­de­run­gen der Fes­tungs­städ­te ab, wie par­ti­el­le, die je­wei­li­gen lo­ka­len Ver­tei­di­gungs­ver­hält­nis­se be­rück­sich­ti­gen­de Lo­cke­run­gen der Rayon­be­schrän­kun­gen be­le­gen, so dass zu­min­dest ein­zel­ne bau­li­che Er­wei­te­run­gen der Städ­te er­mög­licht wur­den.[8]  Mit der Zu­bil­li­gung ei­ner Ent­schä­di­gung der Ei­gen­tums­be­schrän­kun­gen im Rayon­ge­setz von 1871 wur­de ei­ne von den be­trof­fe­nen Ei­gen­tü­mern und den Städ­ten seit lan­gem er­ho­be­ne For­de­rung er­füllt. Das aus Mit­teln der fran­zö­si­schen Kriegs­kos­ten­ent­schä­di­gung fi­nan­zier­te, 1873 ver­ab­schie­de­te Ge­setz zum Aus­bau und zur Um­ge­stal­tung der deut­schen Fes­tun­gen er­mög­lich­te schlie­ß­lich auch To­r­er­wei­te­run­gen im In­ter­es­se der Städ­te, um den ge­stie­ge­nen Ver­kehrs­an­sprü­chen zu ge­nü­gen, de­nen das Mi­li­tär frei­lich eben­falls nur zu­stimm­te, so­fern die Ver­tei­di­gungs­fä­hig­keit der Fes­tung hier­durch nicht be­ein­träch­tigt wur­de. Mit die­sen Zu­ge­ständ­nis­sen ließ sich der wach­sen­den Kri­tik der be­trof­fe­nen Kom­mu­nen, die sich zur bes­se­ren Wah­rung ih­rer In­ter­es­sen 1868 im „Ver­ein nord­deut­scher Fes­tungs­städ­te“ zu­sam­men­ge­schlos­sen hat­ten, we­nigs­tens teil­wei­se die Spit­ze neh­men, wenn­gleich das grund­sätz­li­che Pro­blem, die zu­neh­men­de Zu­sam­men­bal­lung der Be­völ­ke­rung in den von den Fes­tungs­wäl­len in ih­rem räum­li­chen Wachs­tum be­hin­der­ten Städ­ten, zu­nächst un­ge­löst blieb. So war bei­spiels­wei­se in Köln die Be­völ­ke­rungs­zahl zwi­schen 1816 und 1871 von 49.276 auf 129.233 an­ge­stie­gen und auch die Ein­woh­ner­zahl von Ko­blenz hat­te sich in die­sem Zeit­raum um fast das Zwei­ein­halb­fa­che ver­mehrt. Mit Kö­nigs­berg hat­te zu­dem ei­ne wei­te­re Fes­tungs­stadt die Ein­woh­ner­zahl von 100.000 über­schrit­ten und von den vier preu­ßi­schen Städ­ten mit 80.000 bis 100.000 Ein­woh­ner wa­ren mit Dan­zig und Mag­de­burg eben­falls zwei Städ­te Fes­tun­gen, die im Zu­ge der 1872 er­folg­ten Neu­or­ga­ni­sa­ti­on des Fes­tungs­we­sens un­be­dingt er­hal­ten wer­den soll­ten.

Festung Ehrenbreitstein in Koblenz mit Schiffbrücke,1860-1890. (Library of Congress)

Plan des Entfestigungsamts Koblenz zur Entfestigung der Schanze Großfürst Alexander in Koblenz, ca. 1920. (Landeshauptarchiv Koblenz)

 

Es wa­ren in­des we­ni­ger die stadt­hy­gie­ni­schen und so­zia­len Im­pli­ka­tio­nen, son­dern in ers­ter Li­nie die lo­gis­ti­schen Her­aus­for­de­run­gen, die die Zu­sam­men­bal­lung der Be­völ­ke­rung in das Blick­feld der be­waff­ne­ten Macht tre­ten lie­ßen. Der Krieg von 1866 hat­te zwi­schen den Zi­vil- und Mi­li­tär­be­hör­den ei­ne Dis­kus­si­on über die Hand­ha­bung und die Kon­se­quen­zen der Eva­ku­ie­rung be­zie­hungs­wei­se Zwangs­aus­wei­sung von Zi­vil­per­so­nen aus ei­ner zu ar­mie­ren­den Fes­tung aus­ge­löst, die un­mit­tel­bar nach dem Kriegs­aus­bruch 1870 auch das preu­ßi­sche Staats­mi­nis­te­ri­um er­reich­te. Das Kriegs­mi­nis­te­ri­um zeig­te sich über­ra­schend kom­pro­miss­be­reit, als es in Über­ein­stim­mung mit dem Mi­nis­ter­prä­si­den­ten er­klär­te, dass die ent­spre­chen­de Re­ge­lung auf Köln, Mag­de­burg und Ko­blenz nicht an­wend­bar sei, da so gro­ße Fes­tungs­städ­te von ei­nem Feind oh­ne­hin nicht her­me­tisch ein­ge­schlos­sen wer­den könn­ten. Der Kriegs­mi­nis­ter ging so­gar noch ei­nen Schritt wei­ter, denn er stell­te die­sen Rechts­ti­tel des Mi­li­tärs grund­sätz­lich in Fra­ge als er er­klär­te, dass die­se Be­stim­mung aus der Zeit der Om­ni­po­tenz des Staa­tes stam­me, der sich nicht um die Fol­gen ha­be küm­mern müs­sen.[9]  Die of­fen­kun­di­gen Be­den­ken an der Ver­fas­sungs­mä­ßig­keit der Be­stim­mun­gen und die Ver­stän­di­gung auf der po­li­ti­schen Ebe­ne blie­ben auf bin­nen­mi­li­tä­ri­scher Sei­te je­doch au­gen­schein­lich fol­gen­los, denn nach dem er­folg­rei­chen Krieg kam es nicht zu ei­ner grund­le­gen­den Re­form der Kom­man­do­ge­walt und der Re­gu­lie­rungs­kom­pe­ten­zen der Fes­tungs­kom­man­dan­ten. Dies über­rascht um­so mehr als der Krieg mit der Be­la­ge­rung von Pa­ris ge­zeigt hat­te, dass auch noch weit grö­ße­re Städ­te dau­er­haft ein­ge­schlos­sen wer­den konn­ten. Zu­dem wa­ren die Aus­wir­kun­gen der Be­la­ge­rung von man­chem po­li­ti­schen Ent­schei­dungs­trä­ger zu­min­dest als ein Fak­tor in­ter­pre­tiert wor­den, der den Auf­stand der Com­mu­ne be­güns­tigt hat­te.[10]  Gleich­wohl führ­te der Auf­stand, der die Ge­fähr­dung der be­ste­hen­den Ord­nung sym­bo­li­sier­te, nicht zu ei­ner greif­ba­ren Dis­kus­si­on über die Trag­wei­te ei­ner mög­li­chen in­ne­ren Be­dro­hung von Fes­tun­gen im Be­la­ge­rungs­fall. Al­ler­dings ent­sprach die Be­la­ge­rung von Pa­ris nicht der üb­li­chen Re­gel­haf­tig­keit, die die Füh­rung von Fes­tungs­krie­gen be­stimm­te, denn die Be­schie­ßung der Stadt er­folg­te auf­grund ei­ner be­wuss­ten po­li­ti­schen Ent­schei­dung, mit der nicht al­lein der Druck auf die Ver­tei­di­ger er­höht wer­den soll­te, son­dern mit der vor al­lem auch die Le­bens­wei­se der Be­völ­ke­rung, ih­re Ide­en über das künf­ti­ge Frank­reich und die hier­aus ab­ge­lei­te­te Hal­tung zum Krieg ge­trof­fen wer­den soll­ten.[11]  Ob die Be­la­ge­rung von Pa­ris so­mit mög­li­cher­wei­se als ein Son­der­fall ver­stan­den wur­de, der oh­ne Kon­se­quen­zen für ei­nen künf­ti­gen Fes­tungs­krieg blei­ben konn­te, kann hier nicht ge­klärt wer­den. 1878 wur­den schlie­ß­lich die bis­he­ri­gen In­struk­tio­nen für die Fes­tungs­kom­man­dan­ten auf­ge­ho­ben, doch die neu­en Be­stim­mun­gen wie­sen le­dig­lich gra­du­el­le Un­ter­schie­de zu den bis­he­ri­gen Re­ge­lun­gen auf. Die Ver­tre­ter der be­waff­ne­ten Macht ziel­ten hier­mit je­doch nicht al­lein auf die Si­che­rung und Be­wah­rung alt­her­ge­brach­ter, vor­kon­sti­tu­tio­nel­ler Rechts­po­si­tio­nen. Of­fen­sicht­lich war es nach wie vor das Trau­ma der Ka­pi­tu­la­ti­on der Fes­tun­gen von 1806/1807, das die Hal­tung der mi­li­tä­ri­schen Ent­schei­dungs­trä­ger ent­schei­dend be­ein­fluss­te, denn im Mit­tel­punkt der Be­stim­mun­gen stand wei­ter­hin der Ap­pell an die Eh­re des Korps, in­dem sie den Kom­man­dan­ten be­zie­hungs­wei­se je­den ein­zel­nen Of­fi­zier der Gar­ni­son auf ei­ne Ver­tei­di­gung der Fes­tung um je­den Preis ver­pflich­te­te.[12]  Mit­hin blieb der Fes­tungs­kom­man­dant auf­ge­for­dert, die per­ma­nen­te mi­li­tä­ri­sche Ein­satz­be­reit­schaft un­ter al­len Um­stän­den si­cher­zu­stel­len. Die­se Ziel­set­zung spie­gelt sich auch in den 1891 im Staats­mi­nis­te­ri­um er­neut ge­führ­ten Dis­kus­sio­nen. Kur­zer­hand be­schied Mi­nis­ter­prä­si­dent Leo von Ca­pri­vi (1831−1899, Mi­nis­ter­prä­si­dent 1890−1892, Reichs­kanz­ler  1890−1894), dass die Be­fehls­ha­ber der Fes­tun­gen im Be­la­ge­rungs­fall voll­stän­dig sou­ve­rän han­del­ten.[13]

Ori­en­tier­te sich die Dis­kus­si­on über die Reich­wei­te der Be­fehls­ge­walt der Fes­tungs­kom­man­dan­ten so­mit nach wie vor aus­schlie­ß­lich an mi­li­tä­ri­schen Uti­li­ta­ri­täts­kri­te­ri­en, so be­deu­tet dies nicht, dass die be­waff­ne­te Macht die Fol­gen der Ur­ba­ni­sie­rung für die Ver­tei­di­gung ei­ner Fes­tung voll­stän­dig aus­blen­de­te. An­läss­lich der Haus­halts­ver­hand­lun­gen im Reichs­tag  1899 kon­sta­tier­te der Ver­tre­ter des Mi­li­tär­fis­kus, dass die be­denk­li­che […] An­häu­fung der Be­völ­ke­rung auf zu en­gem Raum im Frie­den wie im Krieg die mi­li­tä­ri­schen In­ter­es­sen in den Fes­tungs­städ­ten ge­fähr­de.[14]  Als Ant­wort auf die­ses Pro­blem wur­de aber kei­nes­falls die Auf­ga­be von Stadt­fes­tun­gen er­wo­gen,[15]  ob­wohl be­reits mit der Fes­te Bo­yen bei Löt­zen, den Sperr­be­fes­ti­gun­gen an der ma­su­ri­schen Se­en­ket­te so­wie den Ober­rhein­be­fes­ti­gun­gen bei Is­tein (Is­tei­ner Klotz) und der Fes­te Kai­ser-Wil­helm II. bei Mut­zig Be­fes­ti­gun­gen er­rich­tet wor­den wa­ren, die als rei­ne Mi­li­tär­fes­tun­gen nicht mehr an ei­ne Stadt ge­bun­den wa­ren.[16]  Die im Fol­ge­jahr er­las­se­nen Be­stim­mun­gen zur zu­künf­ti­gen Aus­ge­stal­tung des deut­schen Fes­tungs­sys­tems sa­hen statt des­sen die Bei­be­hal­tung be­zie­hungs­wei­se den Aus­bau von Metz, Di­eden­ho­fen, Straß­burg, Köln, In­gol­stadt, Kö­nigs­berg, Grau­denz, Thorn und Po­sen als Haupt­fes­tun­gen vor.[17]  Vier die­ser Haupt­fes­tun­gen hat­ten in­zwi­schen zum Teil weit mehr als 100.000 Ein­woh­ner und Köln war mit 372.000 Ein­woh­nern die dritt­grö­ß­te Stadt Preu­ßens.[18]  Am Rhein gal­ten zu­dem We­sel, Ko­blenz, Mainz und Ger­mers­heim als Fes­tun­gen zwei­ter Ord­nung als un­ver­zicht­bar.

Karte Kölns mit Fortifikation, 19. Jahrhundert.

Schematische Gesamtdarstellung der Deutzer Umwallung mit Glacis (gelb), Graben (gepunktet), Toren (grün), ehemaligen Radans (orange), Saillants (blau) und Bastionen sowie Waffenplätzen im gedeckten Weg (rot). Feste Rheinbrücke und Eisenbahneinfahrt im Saillant 4 wurden zu einem späteren Zeitpunkt errichtet, undatiert.

Linksrheinische Umwallung Kölns mit einbezogenen und aufgelassenen Forts.

 

Ent­spre­chend der 1900 fest­ge­schrie­be­nen Leit­li­ni­en wur­de in den fol­gen­den Jah­ren der wei­te­re Aus­bau der Fes­tun­gen im west­li­chen Ope­ra­ti­ons­ge­biet vor­an­ge­trie­ben. Wie be­reits seit den 1860er-Jah­ren do­mi­nier­te ei­ne ein­sei­ti­ge mi­li­tä­risch-funk­tio­na­le Sicht­wei­se. In­fol­ge der waf­fen­tech­ni­schen Ent­wick­lung wa­ren sei­ner­zeit Über­le­gun­gen zu ei­ner Neu­or­ga­ni­sa­ti­on des Fes­tungs­we­sens an­ge­stellt wor­den, die auf­grund der ver­än­der­ten Grenz­zie­hung 1871 und der zur Ver­fü­gung ste­hen­den fran­zö­si­schen Re­pa­ra­ti­ons­gel­der ei­ne zu­sätz­li­che Dy­na­mik er­hal­ten hat­ten. Für Köln war das Hin­aus­schie­ben des Fort­gür­tels und die An­la­ge ei­ner neu­en Um­wal­lung be­schlos­sen und zwi­schen 1873 und 1881 durch­ge­führt wor­den; da­durch war es mög­lich, die al­te Stadt­um­wal­lung auf­zu­ge­ben.[19]  In Ko­blenz und We­sel folg­te die Auf­he­bung der Um­wal­lung 1890.[20]  Die be­waff­ne­te Macht pro­fi­tier­te vom Ver­kaufs­er­lös für forti­fi­ka­to­risch un­brauch­ba­re Ver­tei­di­gungs­wer­ke, wäh­rend sie gleich­zei­tig ge­gen­über der je­wei­li­gen Kom­mu­ne den Ver­zicht auf die Stadt­um­wal­lung als ein Ent­ge­gen­kom­men dar­stel­len konn­te, um die lang­er­sehn­te Stadt­er­wei­te­rung zu er­mög­li­chen, wo­durch der zu­neh­men­den En­ge in den Städ­ten ent­ge­gen­ge­wirkt wer­den konn­te.[21]  Die­sem Mus­ter folg­te auch der Aus­bau der Fes­tun­gen seit 1900[22] , in des­sen Fol­ge in Köln der Fort­gür­tel wei­ter aus­ge­baut und durch Zwi­schen­wer­ke ver­stärkt wur­de. Teil­wei­se wur­de die Haupt­kampf­stel­lung über die Li­nie der Forts hin­aus­ge­scho­ben. Die Er­wei­te­rungs­maß­nah­men er­laub­ten hier schlie­ß­lich 1911 auch die Auf­las­sung der nach 1881 er­rich­te­ten links­rhei­ni­schen Um­wal­lung, nach­dem be­reits 1907 die Deut­zer En­ce­in­te auf­ge­ho­ben wor­den war. Zwar schuf die zwei­te Auf­he­bung der Um­wal­lung Raum für die Aus­deh­nung der Be­bau­ung, aber der Aus­bau der Be­fes­ti­gun­gen be­deu­te­te auch die Ein­be­zie­hung ei­nes wei­te­ren Rau­mes und so­mit ei­ner im­mer grö­ße­ren Be­völ­ke­rungs­zahl in die Fes­tung. Die Kon­se­quen­zen die­ser Ent­wick­lung spiel­ten aber of­fen­kun­dig we­der für die Aus­bau­plä­ne noch bei der For­de­rung zur Si­cher­stel­lung der per­ma­nen­ten Ein­satz­be­reit­schaft der Fes­tung ei­ne Rol­le.

Köln und Umgebung mit seinen militärischen Einrichtungen einschließlich der Rayonbegrenzungen auf zusammengesetzten Meßtischblättern, 1896.

Ansicht des Kölner Fort X während seiner Errichtung. Vordergrund: Gärten der Höhenberger Bebauung, um 1878.

 

Durch die Auf­he­bung der Um­wal­lung und das Hin­aus­schie­ben des Fort­gür­tels ver­schwan­den die Fes­tungs­wer­ke nicht nur im Wort­sinn aus dem Blick­feld der Ein­woh­ner, denn die ver­än­der­te Wahr­nehm­bar­keit scheint nicht oh­ne Kon­se­quen­zen auf das Be­wusst­sein der lo­ka­len Öf­fent­lich­keit ge­blie­ben zu sein. Bis weit in die zwei­te Hälf­te des 19. Jahr­hun­derts hin­ein war das Be­wusst­sein, in ei­ner Fes­tung zu le­ben, auf­grund der Sicht­bar­keit der Ver­tei­di­gungs­an­la­gen und vor al­lem auf­grund der all­täg­lich er­fahr­ba­ren Ein­griffs­mög­lich­kei­ten der Ver­tre­ter der be­waff­ne­ten Macht zwei­fel­los stark aus­ge­prägt und die Aus­wir­kun­gen der Fes­tungs­ei­gen­schaft be­herrsch­ten in frei­lich un­ter­schied­li­cher In­ten­si­tät den kom­mu­na­len Dis­kurs. Im un­mit­tel­ba­ren Vor­feld des Ers­ten Welt­kriegs er­schei­nen die Fes­tun­gen in der stadt­öf­fent­li­chen Wahr­neh­mung in­des als ein al­len­falls be­grenz­tes Hemm­nis für öko­no­mi­schen oder tech­ni­schen Fort­schritt wie die Dis­kus­si­on über die Ein­rich­tung ei­nes Lan­de­plat­zes für Luft­schif­fe in Köln zeigt;[23]  zu­neh­mend wur­den sie je­doch als ein Re­likt der Ver­gan­gen­heit und so­mit als ein bau­his­to­ri­sches Denk­mal wahr­ge­nom­men.[24]  Die Kon­se­quen­zen ei­ner Ar­mie­rung im Fall ei­nes Krie­ges und die da­mit ver­bun­de­ne Ge­fähr­dung der Ein­woh­ner dürf­ten von den we­nigs­ten Ein­woh­nern rea­li­siert wor­den sein.

Schematischer Grundriss des Einheitsforts der 1870/80er Jahre.

 

3. Bereit zum Krieg? Festungen und Kriegsvorsorge vor dem Ersten Weltkrieg

Die per­ma­nen­te Ein­satz­be­reit­schaft der Fes­tung bil­de­te wäh­rend des 19. Jahr­hun­derts den Kern der In­struk­tio­nen für die Fes­tungs­kom­man­dan­ten. Doch steht die­ses Prin­zip in der zwei­ten Hälf­te des 19. Jahr­hun­derts in ei­nem auf­fäl­li­gen Kon­trast zu den tat­säch­li­chen Vor­be­rei­tun­gen für ei­ne Ar­mie­rung oder für ei­ne Be­la­ge­rung. Ei­ne 1913 in Köln durch­ge­führ­te Fes­tungs­übung, die von ei­ner Nie­der­la­ge der deut­schen Ar­mee im Wes­ten und ei­nem Rück­zug über den Rhein aus­ging, igno­rier­te so­wohl die Rol­le der Zi­vil­be­völ­ke­rung für ei­ne Ar­mie­rung als auch die Aus­wir­kun­gen ei­ner Be­la­ge­rung auf die Ver­sor­gung der ein­ge­schlos­se­nen Fes­tung. Es ver­wun­dert da­her kaum, dass in die­sem Ma­nö­ver ei­ner mög­li­chen in­ne­ren Ge­fähr­dung der Fes­tung kei­ne Be­ach­tung ge­schenkt wur­de.[25]  Mag die­se Hal­tung noch auf die aus­schlie­ß­lich auf tak­ti­sche Über­le­gun­gen be­schränk­te Sicht des Ge­ne­ral­stabs zu­rück­zu­füh­ren sein, so herrsch­te zu­min­dest bei man­chem Fes­tungs­kom­man­dan­ten ei­ne ge­wis­se Un­si­cher­heit vor,[26]  wie die Ein­satz­be­reit­schaft vor dem Hin­ter­grund des Be­völ­ke­rungs­wachs­tums auf­recht­er­hal­ten wer­den konn­te. So hat­te das Köl­ner Fes­tungs­gou­ver­ne­ment 1882 ei­ne An­fra­ge über die Le­bens­mit­tel­ver­sor­gung der Fes­tung im Be­la­ge­rungs­fall an das Kriegs­mi­nis­te­ri­um ge­rich­tet. Ei­ne mög­li­cher­wei­se kon­tro­ver­se und die Öf­fent­lich­keit be­un­ru­hi­gen­de De­bat­te hier­über er­schien of­fen­bar aber als nicht op­por­tun, denn das Mi­nis­te­ri­um be­han­del­te die An­fra­ge aus­wei­chend. Al­ler­dings wur­de erst­mals ei­ne Ver­ant­wor­tung der Mi­li­tär­ver­wal­tung für die Ver­sor­gung ei­nes Teils der Zi­vil­be­völ­ke­rung an­er­kannt; für 10 Pro­zent der Ein­woh­ner­schaft soll­ten vor­sorg­lich Ver­pfle­gungs­vor­rä­te an­ge­legt wer­den. Mit die­ser Fest­le­gung, der Über­le­gun­gen zum Um­fang der für Ar­mie­rungs­ar­bei­ten un­ver­zicht­ba­ren Zi­vil­be­völ­ke­rung zu­grun­de la­gen,[27]  scheint ein Rah­men vor­ge­ge­ben zu sein, denn in den fol­gen­den Jah­ren ver­schwand die The­ma­tik von der Ta­ges­ord­nung. Hier­an än­der­te sich auch nichts, als seit 1906 die grund­sätz­li­chen Pla­nun­gen zur wirt­schaft­li­chen Kriegs­vor­be­rei­tung und zur Ver­sor­gung der Zi­vil­be­völ­ke­rung im Kriegs­fall all­mäh­lich in­ten­si­viert wur­den. Erst die Ver­schär­fung der in­ter­na­tio­na­len Span­nun­gen mit der Bal­kan­kri­se und dem Ers­ten Bal­kan­krieg 1912, die den Aus­bruch ei­nes eu­ro­päi­schen Krie­ges in greif­ba­re Nä­he rü­cken lie­ßen, lös­ten ei­ne an­ge­streng­te Dis­kus­si­on auch über die Ver­sor­gung der Fes­tun­gen aus.

Kölner Zwischenwerk IVb. Schnitt durch den Panzerturm von Rohr und Oberlafette (blau) auf der als Rahmen (orange) bezeichneten Küstenlafette. Drehung des Turms über per Hand von Kanonieren betätigten Handräder und Stellhebel (rechts im Turmgang). Gesamtstärke der Turmbesatzung: 30 Mann, davon je neun als Bedienungsmannschaft für die beiden Geschütze.

 

Erst­mals im März 1913 stand die Ver­sor­gungs­fra­ge auf der Ta­ges­ord­nung ei­ner Kon­fe­renz zwi­schen dem preu­ßi­schen Kriegs­mi­nis­te­ri­um, Ver­tre­tern des Reichs­kanz­ler­amts, des Reich­samts des In­ne­ren und des Reichs­schatz­amts. Wäh­rend das Kriegs­mi­nis­te­ri­um auf sei­ner Po­si­ti­on be­harr­te, die Ver­pfle­gung le­dig­lich für 10 Pro­zent der Ein­woh­ner­schaft si­cher­zu­stel­len, sah das Reich­s­amt des In­nern zu­nächst das Reich ge­for­dert, die Fi­nanz­mit­tel für die Si­cher­stel­lung des Ver­pfle­gungs­be­darfs der Fes­tun­gen und die Schaf­fung der not­wen­di­gen In­fra­struk­tur be­reit­zu­stel­len. Das Reichs­schatz­amt in­des er­blick­te hier­in le­dig­lich ei­ne Auf­ga­be der Wohl­fahrts­pfle­ge, die so­mit von den Län­dern wahr­zu­neh­men sei. Noch be­vor im Mai 1913 der Reichs­kanz­ler den Kon­flikt we­nig ein­deu­tig da­hin­ge­hend ent­schied, dass die je­wei­li­gen Bun­des­staa­ten in en­ger Ab­stim­mung mit dem Reich­s­amt des In­nern be­son­de­re Maß­nah­men zur Ver­sor­gung der Fes­tun­gen tref­fen soll­ten, war das Preu­ßi­sche In­nen­mi­nis­te­ri­um in die Ver­hand­lun­gen ein­ge­bun­den wor­den.[28]  Wenn­gleich In­nen­mi­nis­ter Jo­hann von Dall­witz (1855−1919, Amts­zeit 1910−1914) ge­gen­über dem Reichs­kanz­ler die Ver­ant­wort­lich­keit des Mi­li­tärs be­ton­te, fehl­te die­ser Hin­weis in sei­ner Auf­for­de­rung an die Ober­prä­si­den­ten, un­ver­züg­lich Kon­fe­ren­zen zwi­schen den je­wei­li­gen Bür­ger­meis­tern, Fes­tungs­kom­man­deu­ren und den Han­dels- und Land­wirt­schafts­kam­mern ein­zu­be­ru­fen, um ei­ne „po­si­ti­ve“ Lö­sung der Ver­sor­gungs­fra­ge her­bei­zu­füh­ren.[29]  Ob­wohl die Ver­hand­lun­gen un­ter strengs­ter Ge­heim­hal­tung er­fol­gen soll­ten, um ei­ne Be­un­ru­hi­gung der Be­völ­ke­rung zu ver­hin­dern, soll­ten die se­mi­staat­li­chen Ver­tre­tun­gen der Land­wirt­schaft und des Han­dels ein­be­zo­gen wer­den, auf de­ren Ex­per­ti­se für die Be­schaf­fung und Be­vor­ra­tung man trotz al­ler In­ter­es­sen­ge­gen­sät­ze zwi­schen die­sen Ver­bän­den nicht ver­zich­ten zu kön­nen glaub­te. Zum ei­nen un­ter­stütz­ten die Ver­tre­tun­gen der Land­wirt­schaft be­reits die Korps­in­ten­dan­tu­ren bei der Be­schaf­fung des Frie­dens­ver­pfle­gungs­be­darfs und ver­füg­ten so­mit über die not­wen­di­gen Kon­tak­te zu den Er­zeu­gern,[30]  zum an­de­ren wa­ren die Han­dels­be­zie­hun­gen ins­be­son­de­re auch in das Aus­land un­ver­zicht­bar, gin­gen doch die Zen­tral­be­hör­den da­von aus, dass die land­wirt­schaft­li­che Pro­duk­ti­on im Reich nicht aus­reich­te, ei­ne aus­rei­chen­de Er­näh­rung der Be­völ­ke­rung im Kriegs­fall zu ga­ran­tie­ren.

15-Centimeter-Ringkanone. Oberlafette: sogenannte Minimal-Schartenlafette, das heißt bei Veränderung der Rohrerhöhung: Schwenkung des Rohrs nicht wie üblich um eine Achse in der Mitte des WAffensystems, sondern um die Rohrmündung und daher nur sehr kleine Scharte in der Kuppelpanzerung erforderlich.

 

Die Dis­kus­si­on vor Ort − in der Rhein­pro­vinz war die An­fra­ge le­dig­lich an Köln und We­sel wei­ter­ge­lei­tet wor­den,[31]  wäh­rend Ko­blenz mög­li­cher­wei­se auf­grund der Grenz­fer­ne und der La­ge au­ßer­halb des Haupt­auf­marsch­ge­bie­tes der deut­schen Trup­pen un­be­rück­sich­tigt blieb − spitz­te sich un­ge­ach­tet al­ler kon­kre­ten Über­le­gun­gen zur Si­cher­stel­lung der Nah­rungs­mit­tel­ver­sor­gung auf ei­nen Kon­ne­xi­täts­kon­flikt zu. Die Kom­mu­nen lehn­ten jeg­li­che Ver­ant­wort­lich­keit zur Ver­sor­gung der Be­völ­ke­rung und Be­reit­schaft zur Kos­ten­über­nah­me mit dem Hin­weis ab, dass es sich um An­ge­le­gen­hei­ten der Lan­des­ver­tei­di­gung han­de­le.[32]  Ob­schon das preu­ßi­sche In­nen­mi­nis­te­ri­um die­se Hal­tung in den Ver­hand­lun­gen mit dem Reich durch­aus teil­te und die Be­las­tung der Fes­tungs­städ­te be­reits im Frie­den be­ton­te,[33]  ver­such­te die Staats­re­gie­rung den­noch von vorn­her­ein auch die je­wei­li­gen Kom­mu­nen in die Pflicht zu neh­men. Frag­los ziel­te das In­nen­mi­nis­te­ri­um hier­mit in ers­ter Li­nie auf ei­ne Mi­ni­mie­rung der Ri­si­ken für den ei­ge­nen Haus­halt, muss­te es doch auf­grund der Ent­schei­dung des Reichs­kanz­lers be­fürch­ten, auf den Kos­ten sit­zen­zu­blei­ben. Gleich­zei­tig sah das Mi­nis­te­ri­um die Wohl­fahrts­pfle­ge oh­ne­hin nicht zu­letzt auf­grund des Aus­baus und der Ef­fi­zi­enz der kom­mu­na­len Da­seins­vor­sor­ge we­ni­ger als staat­li­che denn als kom­mu­na­le Auf­ga­be. Sei­ne For­de­rung an die Kom­mu­nen, sich an der Fi­nan­zie­rung der not­wen­di­gen In­fra­struk­tur zu be­tei­li­gen, ver­knüpf­te der In­nen­mi­nis­ter er­folg­los mit dem Hin­weis, dass die Kom­mu­nal­ver­wal­tun­gen bei­spiels­wei­se mit dem Bau von städ­ti­schen Kühl­häu­sern auch mög­li­chen Teue­rungs­kri­sen in Frie­dens­zei­ten ge­gen­steu­ern könn­ten.[34]  An­ge­sichts frucht­lo­ser ver­fas­sungs­recht­li­cher Dis­kus­sio­nen und aus­blei­ben­der Er­geb­nis­se leg­te das Kriegs­mi­nis­te­ri­um im Mai 1914 un­ter Um­ge­hung des Dienst­wegs ei­nen Ver­mitt­lungs­vor­schlag vor,[35]  der aber le­dig­lich die Po­si­ti­on des Reichs­kanz­lers von 1913 wie­der­hol­te. Letzt­lich blieb der Kon­flikt, der sei­ne Ur­sa­chen zum ei­nen in der un­kla­ren Stel­lung der be­waff­ne­ten Macht als Reichs- oder Kon­tin­gents­heer zum an­de­ren in der un­zu­rei­chen­den ver­fas­sungs­recht­li­chen Klä­rung des Ver­hält­nis­ses der ver­schie­de­nen staat­li­chen Ebe­nen zu­ein­an­der hat­te, und in dem sich die ver­schie­de­nen Ebe­nen aus Sor­ge vor ein­sei­ti­gen fi­nan­zi­el­len Be­las­tun­gen da­her ge­gen­sei­tig blo­ckier­ten, bis zum Kriegs­aus­bruch un­ent­schie­den.

Kölner Zwischenwerk Vb. Im Frontgraben: Hindernispfähle der Armierung von 1914. Links im Vordergrund im Graben: Abortgrube; in der Konteres-karpenmauer etwas weiter nach rechts: eine Platte für die Belüftung; darüber: ein nach 1900 schräg angebrachtes Drahtgeflecht; darüber wiederum in Schräglage: Pfähle mit nach 1900 üblichem Stacheldraht; dahinter um das Zwischenwerk herum: ein Abweisgitter mit am oberen Abschluss gebogenen Eisenstäben, wie sie seit 1885 eingeführt wurden; zwischen den Gewehrscharten im Hintergrund: eine Scheinwerferplatte; rechts zwischen der Eskarpenmauer auf Sockelmauern: nach 1900 übliche Gitter. Gemälde von André Brauch.

 

Wenn­gleich der Zu­stän­dig­keits­kon­flikt zwi­schen Reich, Län­dern und Kom­mu­nen die Ver­hand­lun­gen do­mi­nier­te, darf nicht über­se­hen wer­den, dass die be­tei­lig­ten In­sti­tu­tio­nen durch­aus be­müht wa­ren, ver­sor­gungs­tech­ni­sche Fra­gen zu klä­ren. Zum ei­nen kreis­te die Dis­kus­si­on um die Fra­ge, auf wel­che Wei­se die Ver­sor­gung si­cher­ge­stellt wer­den kön­ne, zum an­de­ren galt es, den Nah­rungs­mit­tel­be­darf über­haupt zu er­mit­teln. Als Vor­bild gal­ten hier­bei Ver­ein­ba­run­gen für die Fes­tung Thorn, die of­fen­bar auf ei­ne In­itia­ti­ve des dor­ti­gen Fes­tungs­kom­man­dan­ten zu­rück­gin­gen. Dort wa­ren Lie­fe­rungs­ver­trä­ge ab­ge­schlos­sen wor­den, in de­nen sich Pro­du­zen­ten und Händ­ler ver­pflich­te­ten, im Kriegs­fall die not­wen­di­gen Nah­rungs­vor­rä­te in die Fes­tung zu brin­gen. Den staat­li­chen Mit­tel­be­hör­den und der Mi­li­tär­ver­wal­tung er­schien die­se Pra­xis als ge­eig­ne­tes Mo­dell für die Ver­sor­gung der Fes­tung We­sel, ob­wohl der dor­ti­ge Bür­ger­meis­ter weit­sich­tig auf dro­hen­de Trans­por­t­en­g­päs­se im Mo­bil­ma­chungs­fall auf­merk­sam mach­te. Auf grö­ße­re Fes­tun­gen war die­ser Lö­sungs­an­satz nicht zu­letzt auf­grund der Im­port­ab­hän­gig­keit und der Sor­ge vor ei­ner mög­li­chen Blo­cka­de des Reichs, die von der Reichs­lei­tung seit et­wa 1906 be­fürch­tet wur­de, in­des von vorn­her­ein nicht an­wend­bar. Hier soll­ten be­reits in Frie­dens­zei­ten ent­spre­chen­de Vor­rä­te ein­ge­la­gert wer­den, je­doch fehl­te hier­für die ent­spre­chen­de In­fra­struk­tur. Ein wei­te­res Pro­blem trat hin­zu: auf­grund der be­grenz­ten Halt­bar­keit der Le­bens­mit­tel muss­te ein re­gel­mä­ßi­ger Aus­tausch er­fol­gen. Die hier­aus re­sul­tie­ren­den un­ter­neh­me­ri­schen Ri­si­ken ver­such­te die Re­gie­rung − frei­lich ver­geb­lich − ab­zu­wäl­zen, in­dem sie vor­schlug, dass die Kom­mu­nen oder ge­ge­be­nen­falls auch Pri­vat­un­ter­neh­men die Spei­cher un­ter­hal­ten soll­ten. We­ni­ger strit­tig war die Er­mitt­lung des Ver­pfle­gungs­be­darfs. Auch hier dien­te die Re­ge­lung aus Thorn als Mus­ter. Für ei­ne an­ge­nom­me­ne Be­la­ge­rungs­dau­er von 210 Ta­ge war für ei­ne Per­son ein Fleisch-, Wurst-, Fisch- und Kä­se­be­darf von 22,96 kg er­rech­net wor­den. An Ge­mü­se und Kar­tof­feln wa­ren knapp 48 kg vor­ge­se­hen, die Brot­ver­sor­gung wur­de mit je­weils ei­nem hal­ben Ki­lo­gramm pro Tag fest­ge­legt.[36] 

Als be­son­ders kon­flikt­träch­tig er­wies sich die Er­mitt­lung, für wie vie­le Per­so­nen über­haupt Vor­rä­te an­zu­le­gen wa­ren. Ein­ver­neh­men be­stand über die Eva­ku­ie­rung der An­ge­hö­ri­gen ak­ti­ver Sol­da­ten, Mi­li­tär­be­am­ter und -ar­bei­ter so­wie der In­sas­sen von Straf­an­stal­ten und psych­ia­tri­schen Kli­ni­ken. Aus­ge­hend von die­ser Prä­mis­se er­rech­ne­te das In­nen­mi­nis­te­ri­um ei­ne „Nor­mal­be­völ­ke­rungs­zif­fer“, die die Grund­la­ge für die Ar­beit der vor Ort zu bil­den­den Ver­pfle­gungs­aus­schüs­se bil­de­te. In We­sel soll­ten dem­nach ins­ge­samt 1.370 Per­so­nen (rund 6,5 Pro­zent der Be­völ­ke­rung im Fes­tungs­ge­biet) eva­ku­iert wer­den. Hier­von wa­ren al­lein 1.245 Fa­mi­li­en­an­ge­hö­ri­ge von Of­fi­zie­ren und Mi­li­tär­be­am­ten. Mit­hin war die Ver­sor­gung von rund 19.000 Ein­woh­nern si­cher­zu­stel­len.[37]  Von den im Köl­ner Fes­tungs­ge­biet le­ben­den 630.000 Ein­woh­nern muss­ten ent­spre­chend 20.000 Per­so­nen (cir­ca 3,2 Pro­zent) um­ge­sie­delt wer­den.[38]  Zu­dem wur­de er­war­tet, dass auf­grund der Ein­be­ru­fung der Re­ser­vis­ten im Ge­fol­ge der Mo­bil­ma­chung die Ein­woh­ner­zahl in den Fes­tun­gen deut­lich sin­ken wür­de. Un­klar war aber, in wel­chem Um­fang wei­te­re Be­völ­ke­rungs­krei­se ge­zwun­gen wer­den soll­ten, vor­sorg­lich die Fes­tung zu ver­las­sen. Hier tra­fen sich die Über­le­gun­gen zur wirt­schaft­li­chen Kriegs­vor­be­rei­tung mit dem, im In­nen­mi­nis­te­ri­um un­ter Ver­weis auf den Ar­ti­kel 5 der Preu­ßi­schen Ver­fas­sungs­ur­kun­de in sei­ner Ver­fas­sungs­mä­ßig­keit zu­min­dest hin­ter­frag­ten, schlie­ß­lich aber mit dem Hin­weis auf das Ge­setz über den Be­la­ge­rungs­zu­stand[39]  ge­deck­ten Recht der Fes­tungs­kom­man­dan­ten zur Ein­schrän­kung der per­sön­li­chen Frei­heit und so­mit auch zur Aus­wei­sung von Per­so­nen, die sich nicht selbst er­näh­ren konn­ten oder die als po­li­tisch un­zu­ver­läs­si­gen gal­ten und die Ver­tei­di­gungs­be­reit­schaft ge­fähr­de­ten. Da­bei schob das Mi­li­tär die Ver­ant­wor­tung für die Eva­ku­ie­rung und die Für­sor­ge für die Aus­ge­wie­se­nen wie be­reits wäh­rend des 19. Jahr­hun­derts aus­schlie­ß­lich den Zi­vil­be­hör­den zu und zog sich auf die, auf der In­struk­ti­on für die Fes­tungs­kom­man­dan­ten grün­den­de Pflicht, die Fes­tung zu hal­ten zu­rück, denn die­ser Auf­trag ste­he hö­her, als die Für­sor­ge für ih­re Be­völ­ke­rung.[40]  Den­noch mach­te der Kriegs­mi­nis­ter ge­gen­über dem In­nen­mi­nis­te­ri­um deut­lich, wel­che Be­völ­ke­rungs­tei­le aus sei­ner Sicht aus­zu­wei­sen sei­en: Ne­ben no­to­ri­schen Ver­bre­chern, An­ar­chis­ten und den Füh­rer[n] _der Um­sturz­par­te_i[41]  soll­ten z. B. Frau­en, Grei­se, Kin­der, Ar­beits­un­fä­hi­ge, Kran­ke eva­ku­iert wer­den,[42]  doch än­der­te sich die­se Hal­tung, als die ers­ten Zah­len aus den be­trof­fe­nen Städ­ten und Ge­mein­den in Ber­lin ein­tra­fen. Hat­te sich noch der Land­rat des Krei­ses Rees nicht in der La­ge ge­se­hen, die ge­wünsch­ten An­ga­ben oh­ne Er­re­gung der Be­völ­ke­rung zu er­mit­teln und le­dig­lich sei­ner Hoff­nung Aus­druck ver­lie­hen, dass zu­min­dest Fa­mi­li­en­an­ge­hö­ri­ge der Ein­ge­zo­ge­nen bei Ver­wand­ten im Um­land Auf­nah­me fin­den könn­ten und es so­mit kaum zu Ab­schie­bun­gen − und un­aus­ge­spro­chen zu ei­ner Be­las­tung der kom­mu­na­len Un­ter­stüt­zungs­kas­sen − kom­men müs­se,[43]  so ging der Ober­prä­si­dent  für Köln von 100.000 Ein­woh­nern aus, die aus­zu­wei­sen wa­ren.[44]  Die Ver­tre­ter des Kriegs­mi­nis­te­ri­ums re­agier­ten re­gel­recht scho­ckiert auf die­se Zahl: Sol­che Ar­mee­korps von Ab­trans­por­ten wäh­rend der Mo­bil­ma­chung zu be­för­dern, sei voll­stän­dig aus­ge­schlos­sen.[45]  Sie for­der­ten, die Nor­mal­be­völ­ke­rungs­zif­fer in den Fes­tun­gen zu er­hö­hen und er­klär­ten über­ra­schend, dass zwi­schen den Tei­len der Be­völ­ke­rung, die un­be­dingt ab­ge­scho­ben wer­den müs­sen (zum Bei­spiel Geis­tes­kran­ke, Straf­ge­fan­ge­ne, po­li­tisch Un­zu­ver­läs­si­ge), und sol­chen, bei de­nen die Ab­schie­bung er­wünscht ist (Grei­se, Frau­en, Kin­der) un­ter­schie­den wer­den müs­se.[46]  Das mit die­ser Not­lö­sung kaum ka­schier­te Ein­ge­ständ­nis der Rat­lo­sig­keit und Über­for­de­rung of­fen­bart ei­ne er­staun­li­che Un­kennt­nis der Ver­tre­ter der be­waff­ne­ten Macht über die Aus­wir­kun­gen und Her­aus­for­de­run­gen der Ur­ba­ni­sie­rung, die ih­re Ur­sa­chen frag­los auch in der seit den 1860er Jah­re zu­neh­mend auf ei­ne rein mi­li­tär-fach­li­che Per­spek­ti­ve be­schränk­ten Aus­bil­dung hat­te.[47]  Die zu Be­ginn des 19. Jahr­hun­derts ent­wi­ckel­ten Ma­xi­men zur Auf­recht­er­hal­tung der Ein­satz­fä­hig­keit der Fes­tun­gen mit ih­rer Über­be­to­nung des Pflicht­be­wusst­seins und der Eh­re des Of­fi­ziers­korps er­wie­sen sich als nicht mehr zeit­ge­mäß und die bis­he­ri­gen rein forti­fi­ka­to­risch-tech­ni­schen Ant­wor­ten auf die Her­aus­for­de­run­gen der Mo­der­ne  hat­ten letzt­lich die Pro­ble­ma­tik nur ver­schärft.

Trotz die­ser For­de­rung der be­waff­ne­ten Macht in der in­tra­mi­nis­te­ri­el­len De­bat­te gin­gen die Ver­tre­ter vor Ort für Köln wei­ter­hin von den ur­sprüng­lich ge­nann­ten 100.000 Be­woh­nern aus. Mit der Er­mitt­lung der Per­so­nen und den Pla­nun­gen zur Be­reit­stel­lung der Trans­port­ka­pa­zi­tä­ten war das Pro­blem frei­lich nicht ge­löst, denn die nur Hilf­lo­sig­keit spie­geln­de ers­te Re­ak­ti­on des preu­ßi­schen In­nen­mi­nis­te­ri­ums, den Be­trof­fe­nen selbst die Sor­ge um ih­ren Ver­bleib und ih­ren Er­werb zu über­las­sen,[48]  war völ­lig un­ge­eig­net, um die auch von der Zi­vil­ver­wal­tung grund­sätz­lich an­er­kann­te Vor­aus­set­zung zur Si­cher­stel­lung der Ver­tei­di­gungs­fä­hig­keit der Fes­tung her­zu­stel­len. Ent­spre­chend wur­den die Be­hör­den vor Ort an­ge­wie­sen, Eva­ku­ie­rungs­räu­me zu er­mit­teln und Un­ter­brin­gungs­mög­lich­kei­ten zu schaf­fen. Für das er­war­te­te Hin­auf­schnel­len der Ar­men­las­ten in den Auf­nah­me­kom­mu­nen wur­de zwar ein Fi­nanz­aus­gleich avi­siert, doch zu mehr als ei­ner va­gen Ab­sichts­er­klä­rung konn­ten sich die Ber­li­ner Reichs- und Staats­be­hör­den nicht durch­rin­gen.[49]  Ei­ne Klä­rung der Ver­ant­wort­lich­keit, die an­ge­sichts des schwe­len­den Kon­flikts über die Fi­nan­zie­rung der Fes­tungs­ver­sor­gung oh­ne­hin kaum  zu er­war­ten war, un­ter­blieb.

Für die Un­ter­brin­gung der aus Köln aus­zu­wei­sen­den Ein­woh­ner war zu­nächst das rhei­nisch-west­fä­li­sche In­dus­trie­ge­biet vor­ge­se­hen, denn nur die dor­ti­gen Groß­städ­te bo­ten nach Auf­fas­sung des Ober­prä­si­den­ten aus­rei­chend Quar­tier­raum und Ar­beits­mög­lich­kei­ten. Die­se Über­le­gun­gen stie­ßen auf Wi­der­stand der Be­zirks­re­gie­run­gen, die auf­grund des ho­hen Preis­ni­veaus im in­dus­tri­el­len Bal­lungs­raum er­heb­li­che Schwie­rig­kei­ten be­fürch­te­ten, so dass wie be­reits in den 1860er Jah­ren die Pro­vin­zen West­fa­len und Hes­sen-Nas­sau so­wie wei­ter öst­lich lie­gen­de Ge­bie­te als al­ter­na­ti­ve Auf­nah­me­ge­bie­te vor­ge­schla­gen wur­den. Aber eben­so wie die Ver­hand­lun­gen über die Le­bens­mit­tel­ver­sor­gung blie­ben die Pla­nun­gen zur Un­ter­brin­gung der Aus­zu­wei­sen­den bis zum Kriegs­aus­bruch oh­ne kon­kre­te Er­geb­nis­se, da zum ei­nen die Fra­ge der Ver­ant­wort­lich­keit nicht ge­klärt wer­den konn­te, zum an­de­ren die Sor­ge vor ei­ner Be­un­ru­hi­gung der Be­völ­ke­rung die Be­hör­den zur Zu­rück­hal­tung ver­an­lass­te, wenn­gleich hier­durch die Ge­fahr wuchs, im Ernst­fall ei­ne Pa­nik aus­zu­lö­sen.[50]  Gleich­wohl ver­schwand auch nach der Mo­bil­ma­chung und dem ra­schen Vor­stoß der deut­schen Trup­pen durch Bel­gi­en das The­ma nicht von der Ta­ges­ord­nung. Zwar ver­such­te der Ober­prä­si­dent un­ter Ver­weis auf den güns­ti­gen Kriegs­ver­lauf und die Aus­wir­kun­gen auf die Mo­ral der Be­völ­ke­rung das Pro­blem di­la­to­risch zu be­han­deln, doch dräng­te das Köl­ner Fes­tungs­gou­ver­ne­ment auf ei­ne ab­schlie­ßen­de Klä­rung, so dass schlie­ß­lich das In­nen­mi­nis­te­ri­um all­ge­mein die länd­li­chen Räu­me der Pro­vinz West­fa­len als Ziel­ort be­stimm­te, oh­ne dass die­sem Be­schluss Ver­hand­lun­gen mit den dor­ti­gen Lo­kal­be­hör­den vor­aus­gin­gen oder gar Vor­be­rei­tun­gen in den be­trof­fe­nen Ge­mein­den ge­trof­fen wur­den.[51] 

Literatur (Auswahl)

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Si­cken, Bern­hard, Mi­li­tä­ri­sche Not­wen­dig­keit und so­zia­le Dis­kri­mi­nie­rung: Zur Aus­wei­sung von Ein­woh­ner aus preu­ßi­schen Fes­tungs­städ­ten bei dro­hen­der In­va­si­on (1830/31-1870/71), in: Mi­li­tär­ge­schicht­li­che Zeit­schrift 74 (2015), S. 97-126.
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Facengraben von Fort VIII (Köln), Blick über die Spitzengrabenwehr (rechts) und das Minenvorhaus (links) in den Facengraben, 1920.

Fort III (Köln), hohe Wälle umschließen das Fort, Luftbild, 1915.

 
Anmerkungen
Zitationshinweis

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Tippach, Thomas, Festungen im Rheinland, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/festungen-im-rheinland/DE-2086/lido/57d12ab3881883.06935053 (abgerufen am 19.03.2024)