Johannes Brahms und das Rheinland

Nina Sträter (Düsseldorf)

Johannes Brahms in Wien im Jahr 1874. (Brahms-Institut an der Musikhochschule Lübeck, Inv. Nr. ABH 1.7.1.24)

1. Brahms' Begegnung mit dem Rheinland

Im Le­ben von Jo­han­nes Brahms hat das Rhein­land ei­ne prä­gen­de Rol­le ge­spielt, auch wenn die Re­gi­on von der Dau­er der Auf­ent­hal­te her in sei­ner Bio­gra­phie nicht be­son­ders her­vor­sticht. Ge­bo­ren wur­de der Kom­po­nist am 7.5.1833 in Ham­burg, wo er sei­ne ers­ten 20 Jah­re ver­brach­te; wäh­rend der letz­ten 35 Jah­res sei­nes Le­bens war sein of­fi­zi­el­ler Wohn­ort die Stadt Wien. An­stel­lun­gen, Tour­ne­en und pri­va­te Rei­sen führ­ten ihn au­ßer­dem in zahl­rei­che an­de­re deut­sche Städ­te und ins Aus­land; ins­be­son­de­re Ita­li­en be­such­te er vie­le Ma­le. In Re­la­ti­on da­zu neh­men sich die zwei Jah­re zwi­schen 1854 und 1856, in de­nen er in Düs­sel­dorf wohn­te, und die Be­su­che und Kon­zer­te in ver­schie­de­nen rhei­ni­schen Städ­ten wie KölnBonnAa­chen un­d Ko­blenz nur kurz aus. Be­deut­sam für Brahms war je­doch, dass im Rhein­land zahl­rei­che Be­geg­nun­gen mit Men­schen statt­fan­den, die ihn und sein Werk nach­hal­tig präg­ten. So war das Rhein­land der Ort, an dem sich der Kom­po­nist im Al­ter von 20 Jah­ren erst­mals nä­her mit der ro­man­ti­schen Mu­sik von Ro­bert Schu­mann be­schäf­tig­te und we­nig spä­ter die­sen und sei­ne Frau Cla­ra per­sön­lich ken­nen­lern­te. Ein von Ro­bert Schu­mann ver­öf­fent­lich­ter Ar­ti­kel über den jun­gen Brahms nahm Ein­fluss auf die Wahr­neh­mung von des­sen Wer­ken in der Öf­fent­lich­keit, und aus der Be­geg­nung mit Cla­ra Schu­mann (1819−1896) ent­stand ei­ne le­bens­lan­ge, en­ge Freund­schaft.

 

Jo­han­nes Brahms wuchs in nicht ge­ra­de wohl­ha­ben­den Ver­hält­nis­sen, aber ei­nem mu­si­ka­li­schen Um­feld auf. Sein Va­ter, der ur­sprüng­lich Mi­li­tär- und Tanz­mu­si­ker ge­we­sen war, hat­te es bis zum Kon­tra­bas­sis­ten der Phil­har­mo­ni­schen Ge­sell­schaft ge­bracht und un­ter­stütz­te die mu­si­ka­li­schen Am­bi­tio­nen sei­nes Soh­nes nach Kräf­ten. Die­ser galt schon früh als Wun­der­kind, gab mit zehn Jah­ren sein ers­tes Kon­zert und be­kam ab 1843 Kom­po­si­ti­ons- und Kla­vier­un­ter­richt bei dem da­mals be­kann­ten Kom­po­nis­ten und Mu­sik­leh­rer Edu­ard Marx­sen (1806–1887). Be­reits im März 1850 fand ei­ne ers­te, je­doch nur kur­ze Be­geg­nung mit Ro­bert Schu­mann statt, der ge­mein­sam mit sei­ner Frau zur Auf­füh­rung ei­ni­ger sei­ner Wer­ke nach Ham­burg ge­reist war. Nach­dem Brahms die phil­har­mo­ni­schen Kon­zer­te be­sucht und bei die­ser Ge­le­gen­heit die „Ge­no­ve­va-Ou­ver­tü­re“ und das Kla­vier­kon­zert op. 54 ge­hört hat­te, wur­de er wäh­rend ei­ner Abend­ver­an­stal­tung Schu­mann kurz vor­ge­stellt. Ein Be­richt, der auf die Schil­de­rung des Vio­li­nis­ten Wil­helm Jo­seph von Wa­sie­lew­ski (1822−1896), ei­nem Freund und Schü­ler Schu­manns, zu­rück­geht und ge­mäß dem Brahms Schu­mann ei­ni­ge sei­ner Ma­nu­skrip­te über­reich­te, die­ser je­doch kei­ne Zeit fand, sie zu prü­fen, wird aus heu­ti­ger Sicht als Aus­schmü­ckung ge­wer­tet: Der ge­ra­de ein­mal 17 Jah­re al­te und recht schüch­ter­ne Brahms dürf­te zu ei­ner Soi­ree kaum ei­ne Ma­nu­skript­map­pe mit­ge­bracht ha­ben, um die­se dem be­rühm­ten Kom­po­nis­ten zu über­rei­chen.[1] 

Drei Jah­re spä­ter lern­te Brahms den aus Un­garn stam­men­den Vio­li­nis­ten Jo­seph Joa­chim (1831−1907) ken­nen, wor­aus ei­ne über vie­le Jahr­zehn­te be­ste­hen­de Freund­schaft ent­stand. Joa­chim war mit den Schu­manns be­freun­det und emp­fahl Brahms, sich bei Ro­bert Schu­mann vor­zu­stel­len, der zu die­ser Zeit Mu­sik­di­rek­tor in Düs­sel­dorf war. So brach Brahms im Som­mer 1853 zu ei­ner Rei­se ins Rhein­land auf, die er grö­ß­ten­teils zu Fuß zu­rück­leg­te. Er wan­der­te das Rhein­tal ent­lang und be­sich­tig­te zahl­rei­che Städ­te, Klös­ter und Bur­gen, be­vor er am 7.9.1853 in Bonn ein­traf. Dort war Brahms ei­ni­ge Wo­chen lang in der Vil­la des aus Köln ge­bür­ti­gen Ban­kier­s Wil­helm Lud­wig Deich­mann und sei­ner Frau zu Gast. Bei­de wa­ren be­geis­ter­te Mu­sik­lieb­ha­ber und mit den Schu­manns be­kannt. Wäh­rend des Auf­ent­hal­tes hat­te Brahms erst­mals die Ge­le­gen­heit, sich mit den No­ten ei­ni­ger Wer­ke von Ro­bert Schu­mann ver­traut zu ma­chen, die sei­ne Gast­ge­ber be­sa­ßen.[2] 

Fotographie nach einer Lithographie von Eduard Marxsen. (Brahms-Institut an der Musikhochschule Lübeck, Inv. Nr. ABH 1.7.4.146)

 

Be­ein­druckt von den Kom­po­si­tio­nen, über die er bis da­hin nur we­ni­ge Kennt­nis­se ge­habt hat­te, mach­te sich Brahms auf den Weg nach Düs­sel­dorf, wo er am 30.9.1853 ein­traf. An­ders als bei der ers­ten kur­zen Be­geg­nung in Ham­burg hat­te Schu­mann Zeit für den von Jo­seph Joa­chim an­ge­kün­dig­ten Gast und for­der­te ihn freund­lich auf, ihm sei­ne Kom­po­si­tio­nen zu zei­gen. Brahms je­doch hat­te kei­ne No­ten mit­ge­bracht, son­dern setz­te sich ans Kla­vier und spiel­te ein ei­ge­nes Werk aus dem Ge­dächt­nis. Schon nach we­ni­gen Au­gen­bli­cken war Schu­mann so be­geis­tert, dass er ihn das ers­te Stück nicht ein­mal zu En­de spie­len ließ, son­dern un­ter­brach, um ei­lig sei­ne Frau her­bei­zu­ho­len. Die­se be­schrieb spä­ter die Wir­kung, die der jun­ge Kom­po­nist auf sie bei­de aus­ge­übt hat­te, an­schau­lich in ih­rem Ta­ge­buch: Die­ser Mo­nat brach­te uns ei­ne wun­der­ba­re Er­schei­nung in dem 20-jäh­ri­gen Brahms aus Ham­burg. Das ist wie­der ein­mal ei­ner, der kommt ei­gens, wie von Gott ge­sandt! Er spiel­te uns So­na­ten, Scher­zos von sich, al­les voll über­schwäng­li­cher Phan­ta­sie, In­nig­keit der Emp­fin­dung und meis­ter­haft in der Form. Ro­bert meint, er wü­ß­te ihm nichts zu sa­gen, das er hin­weg- oder hin­zu­tun soll­te. Es ist wirk­lich rüh­rend, wenn man die­sen Men­schen am Kla­vier sieht mit sei­nem in­ter­es­sant ju­gend­li­chen Ge­sich­te, das sich beim Spie­len ganz ver­klärt, sei­ne schö­ne Hand, die mit der grö­ß­ten Leich­tig­keit die grö­ß­ten Schwie­rig­kei­ten be­siegt (sei­ne Sa­chen sind sehr schwer), und da­zu die­se merk­wür­di­gen Kom­po­si­tio­nen. Er hat bei Mar­xen in Ham­burg stu­diert, doch das, was er uns ge­spielt, ist so meis­ter­haft, daß man mei­nen mü­ß­te, den hät­te der lie­be Gott gleich so fer­tig auf die Welt ge­setzt. Ei­ne schö­ne Zu­kunft steht Dem be­vor, denn wenn er erst für Or­ches­ter schrei­ben wird, dann wird er erst das rech­te Feld für sei­ne Phan­ta­sie ge­fun­den ha­ben![3] 

Brahms blieb den gan­zen Ok­to­ber 1853 in Düs­sel­dorf, wo er je­den Tag im Hau­se der Schu­mann zu Gast war. Für sei­ne täg­li­chen Kla­vier­übun­gen ging er in das nicht weit von der Woh­nung der Schu­manns ent­fernt ge­le­ge­ne Ma­ga­zin des Kla­vier­fa­bri­kan­ten Klems[4] (auf der Ho­he Stra­ße 34, da­mals Haus­num­mer 962), bei dem Ro­bert Schu­mann kurz zu­vor ei­nen Klems-Flü­gel für sei­ne Frau als Ge­schenk zu ih­rem Ge­burts­tag am 13.9.1853 ge­kauft hat­te. Die Schu­manns stell­ten den jun­gen Mann in den kul­tur­in­ter­es­sier­ten Krei­sen Düs­sel­dorfs vor und ver­an­stal­te­ten abends Haus­mu­sik­kon­zer­te in ver­schie­de­nen Be­set­zun­gen, bei de­nen Brahms ei­ge­ne Wer­ke, aber auch Kom­po­si­tio­nen von Schu­mann spiel­te.[5] Wäh­rend sei­nes Auf­ent­hal­tes ent­stan­den ei­ni­ge Zeich­nun­gen des fran­zö­si­schen Ma­lers Jean-Jo­seph Bo­na­ven­ture Lau­rens (1801−1890), die den ju­gend­lich Brahms zei­gen.

2. Brahms und Robert Schumann

Der jun­ge Brahms be­ein­druck­te Ro­bert Schu­mann mit sei­ner Mu­sik zu­tiefst und be­rei­te­te ihm mit sei­ner An­we­sen­heit in dem sonst von schwie­ri­gen Um­stän­den über­schat­te­ten Le­ben ei­ne gro­ße Freu­de. 1853 Schu­mann hat­te schon seit län­ge­rem mit ge­sund­heit­li­chen Pro­ble­men zu kämp­fen. So litt er durch sei­ne Krank­heit, die er selbst als Ner­ven­schwä­che be­zeich­ne­te, un­ter Angst­zu­stän­den, Ner­vo­si­tät, akus­ti­schen Hal­lu­zi­na­tio­nen und ei­ner Be­ein­träch­ti­gung sei­nes Ge­hörs, was auch das Fa­mi­li­en­le­ben in er­heb­li­chem Ma­ße be­las­te­te. Au­ßer­dem be­stan­den Kon­flik­te zwi­schen Schu­mann und dem von ihm ge­lei­te­ten Ge­sang­ver­ein und Or­ches­ter, wel­che im letz­ten Jahr im­mer wei­ter es­ka­liert wa­ren und letzt­lich da­zu führ­ten, dass Schu­mann am 9.11.1853 sei­ne Stel­le in Düs­sel­dorf kün­dig­te.[6] Vor die­sem Hin­ter­grund ist es nicht ver­wun­der­lich, dass die Be­kannt­schaft mit Brahms ei­nen Licht­blick für die Schu­manns dar­stell­te.

Trotz des ge­mein­sa­men Mu­si­zie­rens und vie­ler Ge­sprä­che über Mu­sik kam es nicht da­zu, dass Brahms Kom­po­si­ti­ons­schü­ler von Ro­bert Schu­mann wur­de. Über die Zeit in Düs­sel­dorf schrieb er spä­ter, dass er von die­sem nichts ge­lernt ha­be als das Schach­spie­len.[7] Den­noch ist es si­cher­lich be­rech­tigt, von ei­nem in­ten­si­ven mu­si­ka­li­schen Aus­tausch und ei­ner ge­gen­sei­ti­gen Mo­ti­va­ti­on zwi­schen Schu­mann und Brahms zu spre­chen. So lie­gen ei­ni­ge de­tail­lier­te Stu­di­en vor, die an­hand be­stimm­ter Wer­ke ei­nen Ein­fluss Schu­manns auf das Mu­sik­ver­ständ­nis und die Wahl der Stil­mit­tel bei dem jun­gen Brahms in die­ser Zeit auf­zei­gen.[8] 

Auf die Rol­le, die Brahms im deut­schen Mu­sik­le­ben des 19. Jahr­hun­derts zu­ge­schrie­ben wur­de, nahm Schu­mann auch noch auf an­de­re Wei­se Ein­fluss, und zwar in Form sei­nes be­rühmt ge­wor­de­nen Ar­ti­kels „Neue Bah­nen“, den er vom 9.−13.10.1853 ver­fass­te. Er er­schien gut zwei Wo­chen spä­ter in der „Neu­en Zeit­schrift für Mu­si­k“, die Schu­mann mit­ge­grün­det und zehn Jah­re lang re­dak­tio­nell ge­lei­tet hat­te. Bei die­sem kei­ne zwei Sei­ten lan­gen Ar­ti­kel han­del­te es sich um ei­ne em­pha­ti­sche Lo­bes­hym­ne auf den jun­gen Kom­po­nis­ten, wie fol­gen­der Aus­schnitt ver­deut­licht: Ich dach­te, die Bah­nen die­ser Aus­er­wähl­ten mit der grö­ß­ten Theil­nah­me ver­fol­gend, es wür­de und müs­se nach sol­chem Vor­gang ein­mal plötz­lich Ei­ner er­schei­nen, der den höchs­ten Aus­druck der Zeit in idea­ler Wei­se aus­zu­spre­chen be­ru­fen wä­re, ei­ner, der uns die Meis­ter­schaft nicht in stu­fen­wei­ser Ent­fal­tung bräch­te, son­dern, wie Mi­ner­va, gleich voll­kom­men ge­pan­zert aus dem Haup­te des Kro­ni­on ent­sprän­ge. Und er ist ge­kom­men, ein jun­ges Blut, an des­sen Wie­ge Gra­zi­en und Hel­den Wa­che hiel­ten. Er hei­ßt Jo­han­nes Brahms, kam von Ham­burg, dort in dunk­ler Stil­le schaf­fend, aber von ei­nem treff­li­chen und be­geis­tert zu­tra­gen­den Leh­rer ge­bil­det in den schwie­rigs­ten Sat­zun­gen der Kunst, mir kurz vor­her von ei­nem ver­ehr­ten be­kann­ten Meis­ter emp­foh­len. Er trug, auch im Aeu­ße­ren, al­le An­zei­chen an sich, die uns an­kün­di­gen: das ist ein Be­ru­fe­ner.[9] 

Der Ar­ti­kel mach­te Brahms qua­si über Nacht zum Ge­sprächs­the­ma in der kul­tur­in­ter­es­sier­ten Öf­fent­lich­keit und das, ob­wohl noch gar kei­ne sei­ner Kom­po­si­tio­nen be­kannt war. Sein frü­her Ruhm ging al­so nicht von sei­nen Wer­ken aus, son­dern von ei­ner Art Emp­feh­lungs­schrei­ben des zwar be­rühm­ten, aber kei­nes­wegs un­um­strit­te­nen Kom­po­nis­ten Schu­mann. Noch be­vor sei­ne Wer­ke über­haupt dis­ku­tiert wer­den konn­ten, wur­de Brahms auf die­se Wei­se in ei­ne ge­sell­schafts­po­li­tisch be­deut­sa­me Po­si­ti­on ge­bracht, wo­durch in der Öf­fent­lich­keit er­heb­li­che Er­war­tungs­hal­tun­gen an das so über­schwäng­lich ge­prie­se­ne ‚jun­ge Ge­nie‘ ge­weckt wur­den, de­nen ge­gen­über sich der Kom­po­nist erst ein­mal be­wei­sen muss­te. In der Li­te­ra­tur wird nicht sel­ten die Mei­nung ver­tre­ten, dass Schu­mann trotz sei­ner gu­ten Ab­sich­ten Brahms mit sei­nem em­pha­ti­schen Ar­ti­kel in ei­ne denk­bar miss­li­che La­ge brach­te.[10] Viel­leicht heg­te so­gar Schu­mann we­nig spä­ter selbst der­ar­ti­ge Be­fürch­tun­gen; zu­min­dest ent­fern­te er im Fe­bru­ar 1854 den Text aus sei­nen „Ge­sam­mel­ten Schrif­ten“, die ge­ra­de für den Druck vor­be­rei­tet wur­den.[11] 

Johannes Brahms (sitzend) mit Joseph Joachim, Klagenfurt 1867. (Brahms-Institut an der Musikhochschule Lübeck, Inv. Nr. ABH 1.7.1.18)

 

Die Art und Wei­se, wie Brahms in die Öf­fent­lich­keit be­kannt wur­de, ist zu­gleich ein an­schau­li­ches Bei­spiel da­für, wie sich die Re­zep­ti­on mu­si­ka­li­scher Wer­ke in der Mit­te des 19. Jahr­hun­derts ge­ne­rell ver­än­dert hat­te: An­ders als frü­her stan­den nun nicht mehr nur die Kom­po­si­tio­nen selbst mit ih­ren Qua­li­tä­ten und dem da­hin­ter­ste­hen­den hand­werk­li­chen Kön­nen im Fo­kus der Öf­fent­lich­keit. Viel­mehr ging es nun auch um die Fra­ge, ob sie als „fort­schritt­li­ch“ zu be­wer­ten sei­en und wo sie in der ak­tu­el­len Dis­kus­si­on um die Mu­sik stün­den, wo­mit Kom­po­si­tio­nen und Kunst­wer­ke ge­ne­rell ei­ne neu­ar­ti­ge ge­sell­schafts­po­li­ti­sche Re­le­vanz be­ka­men. Durch For­mu­lie­run­gen wie bei­spiels­wei­se „Ge­ni­us“, „zau­be­ri­sche Krei­se“ und „Geis­ter­welt“ hat­te Schu­mann den jun­gen Brahms in sei­nem Ar­ti­kel zu ei­nem Ver­tre­ter ei­nes ro­man­ti­schen Sub­jek­ti­vis­mus und ei­ner ro­man­ti­schen In­ner­lich­keit sti­li­siert, der nach der Re­vo­lu­ti­on von 1848 kei­nes­wegs über­all in der Be­völ­ke­rung ge­schätzt wur­de. Die von Schu­mann als po­si­tiv ge­se­he­ne ro­man­ti­sche Tra­di­ti­on galt vie­len als schäd­li­cher Tra­di­tio­na­lis­mus und die Ver­wei­ge­rung des not­wen­di­gen Fort­schritts. Mit sei­nem Ar­ti­kel hat­te Schu­mann al­so in der Öf­fent­lich­keit ein Bild von Brahms ge­prägt, ge­mäß dem er an die Tra­di­ti­on der Ro­man­tik an­knüpf­te und da­mit zum An­ti­po­den ei­ner neu­en und mo­der­nen mu­si­ka­li­schen Ent­wick­lung ge­macht wur­de, die ins­be­son­de­re von Kom­po­nis­ten wie Ri­chard Wag­ner (1813−1883) und Franz Liszt (1811−1886) re­prä­sen­tiert wur­de und un­ter dem Be­griff „Neu­deut­sche Schu­le“ be­kannt war.[12] Auch Hec­tor Ber­li­oz (1803−1869), ob­wohl Fran­zo­se, und spä­ter An­ton Bruck­ner (1824−1896) wur­den die­sem La­ger zu­ge­rech­net. Brahms‘ Po­si­ti­on in die­sem Par­tei­en­streit des 19. Jahr­hun­derts zwi­schen „Kon­ser­va­ti­ven“ und „Neu­deut­schen“ fand ihr Äqui­va­lent so­gar in der zu­ge­spitzt for­mu­lier­ten Ge­gen­über­stel­lung der „Wag­ne­ria­ner“ und der „Brah­mi­nen“.[13] 

Die Di­men­si­on des öf­fent­lich mit gro­ßer Hef­tig­keit aus­ge­tra­ge­nen Strei­tes wird deut­lich, wenn man sich ver­ge­gen­wär­tigt, dass es da­bei im Grun­de um die Fra­ge ging, wel­che der bei­den Strö­mun­gen be­rech­tigt war, das le­gi­ti­me Er­be Beet­ho­vens, der als „der“ deut­sche Kom­po­nist schlecht­hin galt, an­zu­tre­ten. Brahms sah sich je­doch kei­nes­wegs als re­prä­sen­ta­ti­ven An­ti­po­den der Neu­deut­schen an. Für sich selbst ver­trat er den An­spruch, der Nach­welt „dau­er­haf­te Mu­si­k“ zu hin­ter­las­sen, al­so ei­ne Mu­sik zu schaf­fen, die sich auf „rei­ne Ge­set­ze“ kon­zen­trier­te und die auf­grund ih­rer Qua­li­tä­ten dem his­to­ri­schen Wan­del ent­zo­gen war.[14] Vor die­sem Hin­ter­grund über­rascht es we­nig, dass er für die vir­tuo­sen Kom­po­si­tio­nen von Franz Liszt in der Tat nur we­nig üb­rig hat­te und sie für sub­stanz­lo­se Ef­fekt­ha­sche­rei hielt. Den­noch be­wun­der­te er Liszts Fä­hig­kei­ten als Pia­nist.[15] Und auch wenn er kein gro­ßer Freund der Mu­sik Ri­chard Wag­ners war, gab es doch ei­ni­ge von des­sen Opern, die er durch­aus schätz­te. Die Un­ter­tei­lung des deut­schen Mu­sik­le­bens et­wa in der zwei­ten Hälf­te des 19. Jahr­hun­derts in „Wag­ne­ria­ner“ und „Brah­mi­nen“ war al­so we­nig dif­fe­ren­ziert und Brahms die Rol­le des gro­ßen Ge­gen­spie­lers der Neu­deut­schen mehr oder we­ni­ger über­ge­stülpt wor­den.

Die­se enor­men Aus­wir­kun­gen für die Re­zep­ti­on von Brahms‘ Werk wa­ren je­doch kei­nes­wegs ab­seh­bar, als Schu­mann im Ok­to­ber 1853 über den jun­gen Gast sei­nen Ar­ti­kel schrieb. Schon we­ni­ge Mo­na­te spä­ter wur­de die in die­ser Zeit zwi­schen den bei­den Kom­po­nis­ten ent­stan­de­ne Freund­schaft auf ei­ne har­te Pro­be ge­stellt: Im Fe­bru­ar 1854 un­ter­nahm Schu­mann, der im­mer hef­ti­ger un­ter sei­nen ge­sund­heit­li­chen Pro­ble­men litt, ei­nen Selbst­mord­ver­such, in­dem er sich in ei­ner ei­si­gen Nacht in den Rhein stürzt. Er wur­de ge­ret­tet und in die Heil­an­stalt En­de­nich (heu­te Stadt Bonn) ge­bracht, wo er die zwei letz­ten Jah­re sei­nes Le­bens ver­brach­te.

Nach­dem ab­seh­bar war, dass Ro­bert Schu­mann nicht mehr als Di­ri­gent des Düs­sel­dor­fer Ge­sang­ver­eins und des Or­ches­ters tä­tig sein wür­de, wur­de von der Stadt­ver­wal­tung be­schlos­sen, ei­nen Mu­sik­di­rek­tor of­fi­zi­ell bei der Stadt an­zu­stel­len. Die Stel­le wur­de nun erst­mals öf­fent­lich aus­ge­schrie­ben, statt wie frü­her Städ­ti­sche Mu­sik­di­rek­to­ren und Di­ri­gen­ten der Mu­sik­ver­ei­ne über per­sön­li­che Ver­mitt­lun­gen aus­zu­wäh­len.

Johannes Brahms (links) mit Julius Stockhausen, Wien 1869. (Brahms-Institut an der Musikhochschule Lübeck, Inv. Nr. ABH 1.7.1.20)

 

In ei­ner Zei­tung hat­te Schu­mann von der Aus­schrei­bung er­fah­ren und Brahms in ei­nem Brief dar­auf an­ge­spro­chen: In den Si­gna­len hab‘ ich ge­le­sen, daß die städ­ti­sche Ver­wal­tung in Düs­sel­dorf ein Kon­kur­renz­aus­schrei­ben nach ei­nem neu­en Mu­sik­di­rek­tor ge­stellt. Wer könn­te der sein? Sie nicht? Viel­leicht hät­te Ver­hulst[16] Lust, wenn der An­trag ihm ge­stellt wür­de. Das soll­te man tun.[17] Der in­di­rek­ten An­deu­tung, Brahms könn­te sich viel­leicht auf die Stel­le be­wer­ben, kam die­ser nicht nach. Rück­bli­ckend er­scheint es auch als un­wahr­schein­lich, dass der da­mals 20-jäh­ri­ge und noch un­be­kann­te Brahms die Stel­le be­kom­men hät­te.

Nach län­ge­ren stadt­in­ter­nen Que­re­len ent­schied man sich schlie­ß­lich für Ju­li­us Tausch (1827−1895), der be­reits in den Jah­ren zu­vor als ge­le­gent­li­cher Stell­ver­tre­ter Schu­manns den Ge­sang­ver­ein di­ri­giert hat­te und auch durch an­de­re mu­si­ka­li­sche Tä­tig­kei­ten in Düs­sel­dorf be­kannt war. Be­rühm­te­re und wo­mög­lich auch qua­li­fi­zier­te­re Be­wer­ber von au­ßer­halb konn­ten sich auf­grund des per­sön­li­chen Ein­sat­zes ver­schie­de­ner mu­si­ka­li­scher Ver­ei­ne in der Stadt nicht durch­set­zen.

Wäh­rend Cla­ra Schu­mann ih­ren Mann erst kurz vor sei­nem Tod am 29.7.1856 noch ein­mal sah, be­such­te Brahms ihn neun­mal in der Heil­an­stalt in En­de­nich.[18] Die Be­su­che bei dem zu­neh­mend um­nach­te­ten Freund emp­fand er als er­schüt­ternd. In ei­nem Brief an Jo­seph Joa­chim vom 25.4.1856 (al­so vier Mo­na­te vor Schu­manns Tod) schrieb er: Ich blieb ei­ni­ge Ta­ge in Bonn [...]. Her­nach sah ich Schu­mann. Wie hat­te er sich ver­än­dert. Er emp­fing mit freu­dig und herz­lich wie im­mer, aber es durch­schau­er­te mich – denn ich ver­stand kein Wort von ihm. Wir setz­ten uns, mir wur­de im­mer schmerz­li­cher, die Au­gen wa­ren mir feucht, er sprach im­mer­fort, aber ich ver­stand nichts. Ich blick­te wie­der auf sei­ne Lek­tü­re. Es war ein At­las und er eben be­schäf­tigt, Aus­zü­ge zu ma­chen, frei­lich kin­di­sche.[19] Zwei Ta­ge nach sei­nem Tod wur­de Schu­mann in An­we­sen­heit sei­ner Wit­we und sei­ner Freun­de Jo­han­nes Brahms, Jo­seph Joa­chim und Fer­di­nand Hil­ler (1811─1885) auf dem Al­ten Fried­hof in Bonn be­er­digt.

Das Wohnhaus von Johannes Brahms in Bonn, 1899 - Fotografie von Theodor Schafgans sen.. (Beethoven-Haus Bonn, B 841, https://www.beethoven.de/de/media/view/5826330964787200/Das+Wohnhaus+von+Johannes+Brahms+in+Bonn%2C+1899+-+Fotografie+von+Theo+Schafgans+sen.?fromArchive=4895188531019776)

 

3. Brahms und Clara Schumann

Als Brahms 1854 von Ro­bert Schu­manns Selbst­mord­ver­such er­fuhr, ließ er in Han­no­ver, wo er sich ge­ra­de auf­hielt, al­les ste­hen und lie­gen und reis­te nach Düs­sel­dorf, um Cla­ra Schu­mann und ih­ren sechs Kin­dern bei­zu­ste­hen. Hier wur­de er zum Boll­werk, das so­wohl Ro­bert als auch Cla­ra Schu­mann vor viel­leicht gut ge­mein­ten, aber an­ma­ßen­den Heim­su­chun­gen durch das Düs­sel­dor­fer Bür­ger­tum be­wahr­te. Brahms er­in­ner­te sich spä­ter: Als man Schu­mann nach En­de­nich ge­bracht hat­te, schick­ten die Düs­sel­dor­fer Pie­tis­ten ei­nen ‚stren­gen‘ Pre­di­ger, um ihn ins Ge­bet zu neh­men. Der Arzt aber er­klär­te, oh­ne aus­drück­li­che schrift­li­che Zu­sa­ge der Frau Schu­mann wer­de er ihn nicht zu dem Kran­ken las­sen, und die­se hat, nach mei­nem Da­zwi­schen­tre­ten, die Er­laub­nis nie ge­ge­ben.[20] 1887 ur­teil­te er rück­bli­ckend: Ich glau­be, sie wä­re ver­rückt ge­wor­den, wenn sie da­mals nicht mich klei­nen Mann ge­habt hät­te, der, un­ter all den Frau­en­zim­mern das ein­zi­ge männ­li­che In­di­vi­du­um, ihr den Un­sinn wie­der aus­re­de­te.[21] Brahms war zu die­ser Zeit fast mit­tel­los und nahm sei­ne Mahl­zei­ten im Haus der Schu­manns ein. Ein we­nig Geld ver­dien­te er sich mit Kla­vier­stun­den und be­kam au­ßer­dem für ei­ni­ge im Druck er­schie­ne­ne Wer­ke die ers­ten Ho­no­ra­re aus­ge­zahlt. Ur­sprüng­lich hat­te Brahms ein klei­nes Zim­mer be­wohnt, doch nach­dem Cla­ra Schu­mann für sich und ih­re Kin­der ei­ne Woh­nung auf der Post­stra­ße ge­mie­tet hat­te, zog Brahms dort in das Gäs­te­zim­mer ein. Bis heu­te er­in­nert an dem nach dem Zwei­ten Welt­krieg neu er­bau­ten Haus ei­ne Ge­denk­ta­fel an Brahms‘ Düs­sel­dor­fer Zeit.

Cla­ra war nun ge­zwun­gen, re­gel­mä­ßig Kon­zer­te zu ge­ben und auf Tour­nee zu ge­hen, um Geld für die Fa­mi­lie und nicht zu­letzt für die teu­re me­di­zi­ni­sche Be­hand­lung ih­res Man­nes zu ver­die­nen. In die­ser schwe­ren Zeit wur­de Jo­han­nes Brahms zu ei­ner un­ent­behr­li­chen Stüt­ze für sie, da er sich in ih­rer Ab­we­sen­heit um die Kin­der, den Haus­halt und an­de­re Din­ge des All­tags küm­mer­te. An­ge­sichts die­ser Be­las­tung über­rascht es nicht, dass er in die­sen Jah­ren nur we­nig kom­po­nier­te, auch kaum in der Öf­fent­lich­keit prä­sent war und da­mit als Kom­po­nist kaum an Be­kannt­heit ge­wann. Ei­ni­ge Mo­na­te nach Ro­bert Schu­manns Selbst­mord­ver­such brach­te Cla­ra am 11.6.1854 ihr sieb­tes Kind, den Sohn Fe­lix zur Welt. Sein Pa­ten­on­kel wur­de Jo­han­nes Brahms, der spä­ter drei Ge­dich­te aus der Fe­der von Fe­lix ver­ton­te. Das be­kann­tes­te die­ser Wer­ke ist das Lied „Mei­ne Lie­be ist grün wie der Flie­der­bu­sch“ (ver­öf­fent­licht als op. 63, in „Jun­ge Lie­der I“). Zur Ge­burt ih­res letz­ten Kin­des schenk­te Brahms Cla­ra das Ma­nu­skript sei­ner An­fang Ju­ni 1854 ent­stan­de­nen Kom­po­si­ti­on „Va­ria­tio­nen über ein The­ma von Ro­bert Schu­man­n“ op. 9. Ein Ge­rücht, das sich lan­ge und hart­nä­ckig in der Öf­fent­lich­keit hielt, dass Brahms der Va­ter von Fe­lix ge­we­sen sei, gilt heu­te als wi­der­legt.[22] Fe­lix Schu­mann starb 1879 im Al­ter von nur 25 Jah­ren an Lun­gen­tu­ber­ku­lo­se.

Die Düs­sel­dor­fer Jah­re sind spä­ter bis­wei­len als Brahms‘ „Wer­t­her­zeit“[23] be­zeich­net wor­den, was sich auf die in der Li­te­ra­tur kol­por­tier­te un­er­füll­te Lie­be zu Cla­ra Schu­mann be­zieht – auch wenn die­se nicht wie in der li­te­ra­ri­schen Vor­la­ge „Die Lei­den des jun­gen Wer­t­her“ von Jo­hann Wolf­gang von Goe­the (1749–1832) im Selbst­mord des un­glück­lich Lie­ben­den en­de­te. Dass er ab 1854 im glei­chen Hau­se wie Cla­ra Schu­mann wohn­te und sich lie­be­voll ih­rer Kin­der an­nahm, führ­te auf je­den Fall schon da­mals zu Ge­rüch­ten in Düs­sel­dorf. Zahl­rei­che Brie­fe der bei­den zeu­gen von ei­ner le­bens­lan­gen in­ni­gen Zu­nei­gung und Ver­bun­den­heit. Die Un­ge­wiss­heit, ob dar­aus auch ei­ne heim­li­che Be­zie­hung ent­stand, hat zu zahl­lo­sen Spe­ku­la­tio­nen und ei­ner aus­ge­präg­ten Le­gen­den­bil­dung ge­führt. Nach Schu­manns Tod reis­ten sei­ne Wit­we und Brahms ge­mein­sam mit des­sen Schwes­ter Eli­se von En­de Au­gust bis An­fang Sep­tem­ber nach Süd­deutsch­land und in die Schweiz. Im Som­mer 1857 un­ter­nah­men sie noch ein­mal ei­ne ge­mein­sa­me Rhein­rei­se und ver­brach­ten dann noch ei­ni­ge Ta­ge in Düs­sel­dorf, be­vor Cla­ra Schu­mann nach Ber­lin ging und Brahms am Fürs­ten­hof in Det­mold sei­ne ers­te fes­te Stel­le an­trat. Im Lau­fe ih­res Le­bens tra­fen die bei­den je­doch im­mer wie­der bei Kon­zer­ten zu­sam­men, be­such­ten ein­an­der und un­ter­hiel­ten ei­nen re­gel­mä­ßi­gen Brief­wech­sel.

Porträtfoto von Clara Schumann. (Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Frankfurt am Main, S 36/F09848)

 

4. Reisen ins Rheinland

Bis zum En­de sei­nes Le­bens blieb Brahms dem Rhein­land ver­bun­den und war dort fast jähr­lich im­mer wie­der bei Freun­den zu Gast, gab Kon­zer­te oder be­such­te, wann im­mer es ihm mög­lich war, auch die Nie­der­rhei­ni­schen Mu­sik­fes­te, sei es als Mit­wir­ken­der oder als Zu­hö­rer. Die­se über die Gren­zen des Rhein­lan­des hin­aus be­kann­te Ver­an­stal­tung fand seit 1818 im­mer zu Pfings­ten tur­nus­mä­ßig in Düs­sel­dorf, Köln und Aa­chen (in der An­fangs­zeit statt in Aa­chen in El­ber­feld) statt und konn­te auf ei­ne lan­ge Lis­te von be­rühm­ten Gast­künst­lern zu­rück­bli­cken, die im Lau­fe der Jah­re dar­an mit­ge­wirkt hat­ten. Im Jahr 1855 lern­te Brahms bei dem Nie­der­rhei­ni­schen Mu­sik­fest die sei­ner­zeit welt­be­rühm­te So­pra­nis­tin Jen­ny Lind (1820–1887) ken­nen, die in Ro­bert Schu­manns Ora­to­ri­um „Das Pa­ra­dies und die Pe­ri“ zu hö­ren war, und au­ßer­dem den Mu­sik­feuille­to­nis­ten der in Wien er­schei­nen­den „Neu­en Frei­en Pres­se“, Edu­ard Hanslick (1825−1904), der spä­ter, als Brahms in Wien leb­te, ein gu­ter Freund wur­de.[24] Auch Franz Liszt war in die­sem Jahr un­ter den Gäs­ten. Dass Brahms dar­über hin­aus die Be­kannt­schaft ei­ner pro­mi­nen­ten Kla­vier­schü­le­rin von Cla­ra Schu­mann, der Prin­zes­sin Frie­de­ri­ke von Lip­pe-Det­mold (1825− 1897), mach­te, führ­te da­zu, dass er zwei Jah­re spä­ter als Kon­zert­pia­nist und Di­ri­gent des Hof­cho­res an den Det­mol­der Fürs­ten­hof be­ru­fen wur­de. Wäh­rend des Nie­der­rhei­ni­schen Mu­sik­fes­tes 1856, das in Düs­sel­dorf statt­fand, traf Brahms den Ba­ri­ton Ju­li­us Stock­hau­sen (1826−1906), mit dem er spä­ter zahl­rei­che Kon­zer­te gab und für den er Lie­der kom­po­nier­te, die die­ser zur Ur­auf­füh­rung brach­te.[25] Wenn Brahms das Rhein­land be­such­te, wa­ren ins­be­son­de­re Düs­sel­dorf und Bonn wich­ti­ge An­lauf­stel­len, da dies die Städ­te wa­ren, die bio­gra­phisch eng mit Ro­bert und Cla­ra Schu­mann ver­bun­den wa­ren. Als am 2.5.1880 die Ent­hül­lung das Grab­denk­mal von Adolf von Donn­dorf (1835−1916) für Ro­bert Schu­mann auf dem Al­ten Fried­hof in Bonn statt­fand, reis­te Brahms dort­hin, um ein Kon­zert zu di­ri­gie­ren. Eben­falls 1880, am 20. Ja­nu­ar, fand in Kre­feld im Hau­se des mu­sik­be­geis­ter­ten Ban­kiers Ru­dolf von der Ley­en (1851−1910) ein Kon­zert mit Wer­ken von Brahms statt. Auch bei die­ser Ge­le­gen­heit er­wei­ter­te sich Brahms‘ Freun­des­kreis um Herrn von der Ley­en und ei­ni­ge sei­ner Ver­wand­ten, de­nen er zeit­le­bens ver­bun­den blieb.

Im Jahr 1874 wur­den mit Brahms schrift­lich Ver­hand­lun­gen auf­ge­nom­men, die ihn bei­na­he an sei­nen frü­he­ren Wohn­ort Düs­sel­dorf zu­rück­ge­führt hät­ten: 1855 hat­te Ju­li­us Tausch nach dem Selbst­mord­ver­such Ro­bert Schu­manns den Pos­ten des Städ­ti­schen Mu­sik­di­rek­tors über­nom­men, doch war sein Ver­trag 1861 nicht wie­der ver­län­gert wor­den und die Stel­le in den fol­gen­den Jah­ren va­kant ge­blie­ben.[26] Nach­dem in frü­he­ren Zei­ten Be­rühmt­hei­ten wie Fe­lix Men­dels­sohn Bar­thol­dy (1809−1847), Fer­di­nand Hil­ler, Ro­bert Schu­mann und sei­ne Frau Cla­ra das städ­ti­sche Kul­tur­le­ben be­rei­chert hat­ten, war das Feh­len ei­nes Städ­ti­schen Mu­sik­di­rek­tors ei­ne un­be­frie­di­gen­de und we­nig pres­ti­ge­träch­tig Si­tua­ti­on. Da zwi­schen­zeit­lich kei­ne Lö­sung ge­fun­den wer­den konn­te, er­grif­fen 1874 die Düs­sel­dor­fer Po­li­ti­ker und Mu­sik­lieb­ha­ber Re­gie­rungs­rat Dr. Stein­metz, ein Freund von Cla­ra Schu­mann und Jo­seph Joa­chim, so­wie der Jus­ti­ti­ar Karl Bit­ter die In­itia­ti­ve. Mit Blick auf das Nie­der­rhei­ni­sche Mu­sik­fest 1875, das in Düs­sel­dorf statt­fin­den soll­te, reg­ten sie er­neut die An­stel­lung ei­nes Städ­ti­schen Mu­sik­di­rek­tors an. Oh­ne sich im vol­len Um­fang mit der Stadt­ver­wal­tung ab­zu­stim­men, nah­men sie mit Jo­han­nes Brahms Kon­takt auf, of­fe­rier­ten ihm die An­stel­lung bei der Stadt und mach­ten sich auf die Su­che nach Geld­quel­len, aus de­nen sein Ge­halt be­zahlt wer­den soll­te. An­ders als im Jahr 1854, als Brahms bes­ten­falls als viel­ver­spre­chen­des jun­ges Ta­lent hat­te gel­ten kön­nen, war er in­zwi­schen ein deutsch­land­weit an­er­kann­ter und be­rühm­ter Künst­ler, der den Wunsch nach ei­nem qua­li­fi­zier­ten und re­nom­mier­ten Mu­sik­di­rek­tor er­füllt hät­te. Mit dem Di­ri­gat von Chö­ren hat­te er viel Er­fah­rung und wur­de dar­über hin­aus als Kom­po­nist von Chor­mu­sik ge­schätzt. Zu sei­nen be­kann­tes­ten Chor­wer­ken ge­hör­ten „Ein Deut­sches Re­qui­e­m“, die „Alt­rhap­so­die“, die Chor­kan­ta­te „Ri­nal­do“ und die Lie­bes­lie­der­wal­zer op. 52 für Kla­vier vier­hän­dig und ge­misch­ten Chor. Um Gel­der für das gro­ßzü­gi­ge Ge­halt, das Brahms an­ge­bo­ten wer­den soll­te, be­reit­stel­len zu kön­nen, plan­te Jus­ti­ti­ar Bit­ter un­ter an­de­rem, in Düs­sel­dorf ei­ne Mu­sik­schu­le zu grün­den, die Brahms lei­ten soll­te. Als Städ­ti­scher Mu­sik­di­rek­tor hät­te es au­ßer­dem zu sei­nen Auf­ga­ben ge­hört, den Ge­sang­ver­ein zu lei­ten, dem je­doch auf Ba­sis ei­nes Pri­vat­ver­tra­ges zu die­ser Zeit nach wie vor Ju­li­us Tausch vor­stand. Die­sen ver­gleichs­wei­se un­be­kann­ten Mu­si­ker durch den kom­pe­ten­te­ren und be­rühm­te­ren Brahms zu er­set­zen, wä­re durch­aus im In­ter­es­se von Bit­ter und Stein­metz ge­we­sen.

Im De­zem­ber 1876 schien al­les in tro­cke­nen Tü­chern zu sein. Zu­nächst war Brahms über das An­ge­bot sehr er­freut ge­we­sen und hat­te auch ge­plant, die Be­ru­fung nach Düs­sel­dorf an­zu­neh­men.[27] Letzt­lich wa­ren es je­doch zwei Din­ge, die zu sei­ner Ent­schei­dung führ­ten, nicht nach Düs­sel­dorf zu ge­hen: Zum ei­nen woll­te er nicht die Lei­tung der ge­plan­ten Mu­sik­schu­le mit den gan­zen da­mit ver­bun­de­nen ad­mi­nis­tra­ti­ven Auf­ga­ben über­neh­men und zwei­tens war er nicht ge­willt, Ju­li­us Tausch aus dem Amt zu drän­gen. In Düs­sel­dorf war be­kannt, dass Tausch bei vie­len mit­wir­ken­den Lai­en­mu­si­kern der von ihm di­ri­gier­ten Chö­re sehr be­liebt war, was 1876 so­gar in der Ver­brei­tung ei­nes an­ony­men Flug­blat­tes gip­fel­te, das sich für den Ver­bleib von Tausch in sei­ner Po­si­ti­on aus­sprach; die­se Vor­aus­set­zun­gen hät­ten Brahms‘ Po­si­ti­on von An­fang an ge­schwächt. Für sei­ne Un­mut ob der ge­sam­ten Si­tua­ti­on fand Brahms in sei­ner Ab­sa­ge an Jus­ti­ti­ar Bit­ter im Ja­nu­ar 1877 deut­li­che Wor­te: Dem Be­den­ken „Tau­sch“ ge­gen­über klän­ge es ge­mein (:Ham­let wür­de sa­gen: es ist ge­mein:) woll­te ich sa­gen, daß man­ches da­von nicht sehr er­mun­ternd ist. Die, zu­nächst an Zahl, ge­rin­ge­ren ein­hei­mi­schen Kräf­te, der gro­ße Saal da­ge­gen, die un­ge­nü­gen­de Zahl der Pro­ben usw. Statt dar­über mich zu er­ge­hen sa­ge ich lie­ber wie sehr leid es mir ist mei­ne Ab­sa­ge wie­der­ho­len zu müs­sen. Ich gin­ge gern nach Deutsch­land, ich hät­te gern ste­te Be­schäf­ti­gung mit Chor und Or­ches­ter und wü­ß­te kei­ne Stadt, wo ich weit­aus das Meis­te so mir sym­pa­thisch fän­de als in Düs­sel­dorf. Wä­ren nicht je­ne zwei Be­den­ken über die ich nicht weg kann, ich be­sä­he mir al­les in der Nä­he und wür­de wohl mit dem Üb­ri­gen fer­tig. So aber – es ist nicht rein­lich – und mö­gen gleich ge­schei­te­re Leu­te es an­ders be­haup­ten – man kann nicht ge­gen sein in­ners­tes Ge­sicht. Das aber sprach bei mir von An­fang an das­sel­be und wur­de durch al­les Vor­kom­men­de nur ver­stärkt.[28] Auch wie­der­hol­tes hef­ti­ges In­ter­ve­nie­ren von Bit­ter und Stein­metz än­der­te an Brahms‘ Ent­schei­dung nichts. Die Stel­le des Städ­ti­schen Mu­sik­di­rek­tors wur­de letzt­lich erst 1890 mit Ju­li­us Buths (1851−1920) neu be­setzt, nach­dem Tausch in sei­ner Funk­ti­on als Lei­ter des Düs­sel­dor­fer Ge­sang­ver­eins und an­de­rer Ver­ei­ne 1889 in Pen­si­on ge­gan­gen war.

Sie­ben Jah­re spä­ter un­ter­nahm man ei­nen ähn­li­chen Ver­such, Brahms ins Rhein­land zu ho­len, dies­mal je­doch in die Stadt Köln: 1884 be­such­te Brahms sei­nen schwer kran­ken Freund Fer­di­nand Hil­ler, der 34 Jah­re lang das Köl­ner Mu­sik­le­ben ge­lei­tet hat­te. In­zwi­schen war ab­seh­bar, dass er auf­grund sei­nes Ge­sund­heits­zu­stan­des das Amt bald wür­de nie­der­le­gen müs­sen. Da­her hat­te der Kon­zert- und Kon­ser­va­to­ri­ums­vor­stand der Stadt bei Brahms an­ge­fragt, ob er die Stel­le des Städ­ti­schen Mu­sik­di­rek­tors zu über­neh­men be­reit wä­re. Doch wie schon bei der An­fra­ge aus Düs­sel­dorf sie­ben Jah­re zu­vor lehn­te Brahms ab. Wäh­rend er über die­se ers­te Ent­schei­dung lan­ge ernst­haft nach­ge­dacht hat­te, rang er beim zwei­ten Mal nur ei­ni­ge Ta­ge um die rich­ti­gen Wor­te für sei­ne Ab­sa­ge: Ich bin zu lan­ge oh­ne ei­ne der­ar­ti­ge Stel­lung ge­we­sen, ha­be mich wohl nur zu sehr an ei­ne ganz an­de­re Le­bens­füh­rung ge­wöhnt, als daß ich nicht ei­nes­teils gleich­gül­ti­ger ge­wor­den sein soll­te ge­gen vie­les, für das ich an sol­chem Platz das leb­haf­tes­te In­ter­es­se ha­ben mü­ß­te, an­dern­teils un­ge­übt und un­ge­wandt in Sa­chen ge­wor­den wä­re, die mit Rou­ti­ne und Leich­tig­keit be­han­delt sein wol­len.[29] 

Brahms bis­wei­len selbst­iro­ni­sche Hal­tung zu sei­nen oft als me­lan­cho­lisch und tra­gisch be­zeich­ne­ten Wer­ken zeigt sich an­schau­lich in ei­nem Brief, den er im Vor­feld ei­nes Kon­zer­tes im Rhein­land dem Es­se­ner Mu­sik­di­rek­tors Ge­org Hein­rich Wit­te (1843−1929) schrieb. Die­ser war ein glü­hen­der Ver­eh­rer von Brahms‘ Wer­ken und hat­te da­her ei­nen mons­trös lan­gen Pro­gramm-Vor­schlag an ihn ge­schickt, wor­auf die­ser ihm zu­rück­schrieb: Schön – aber schreck­lich! [...] Ich ent­beh­re un­gern ei­nes der Chor­wer­ke, aber so schmei­chel­haft die Men­ge für mich ist, wer soll all die trau­ri­gen Sa­chen an­hö­ren mö­gen?[30] Brahms hal­bier­te das Pro­gramm, ließ sich vor Ort dann aber doch von dem be­geis­ter­ten und gut vor­be­rei­te­ten Chor da­zu über­re­den, am 2.3.1884 das „Deut­sches Re­qui­e­m“ kom­plett zu di­ri­gie­ren, das er ur­sprüng­lich hat­te kür­zen wol­len.

Eduard Hanslick im Jahr 1863. (Brahms-Institut an der Musikhochschule Lübeck, Inv. Nr. ABH 1.7.4.89)

 

5. Brahms' letzte Reise ins Rheinland

We­ni­ger als ein Jahr vor Brahms‘ Tod fand 1896 im Rhein­land ein letz­tes Tref­fen mit ei­ni­gen sei­ner engs­ten Freun­de statt, das durch den Be­richt des Ju­ris­ten und Mu­sik­lieb­ha­bers Gus­tav Op­hüls (1866-1926)[31] so­wie durch ei­ni­ge Fo­to­gra­fi­en gut do­ku­men­tiert ist und ei­nen Blick in die­se letz­te Le­bens­pha­se von Brahms ge­stat­tet. Seit 1892 hat­te sich die Tra­di­ti­on eta­bliert, dass wäh­rend der Pfingst­ta­ge auf dem Ha­ger Hof, ei­nem al­ten Her­ren­sitz ober­halb von Bad Hon­nef, Pro­fis und Lai­en zu ei­ner Art pri­va­tem Mu­sik­fest zu­sam­men­ka­men, um ge­mein­sam zu es­sen, Wan­de­run­gen zu un­ter­neh­men und zu mu­si­zie­ren.[32] Zu die­sen zähl­ten meh­re­re Mit­glie­der der Fa­mi­li­en von Ru­dolf von der Ley­en, den Brahms 1880 in Kre­feld ken­nen­ge­lernt hat­te, und Ru­dolf von Be­ckerath (1863−1945), die un­ter­ein­an­der ver­wandt­schaft­lich ver­bun­den und al­le mit Jo­han­nes Brahms be­freun­det wa­ren. Nach­dem am 20.5.1896 Cla­ra Schu­mann in Frank­furt am Main ge­stor­ben war, wur­de ih­re Lei­che nach Bonn über­führt, um, wie es ihr Wunsch ge­we­sen war, ne­ben ih­rem Mann bei­ge­setzt zu wer­den. Brahms er­fuhr von dem Ter­min so spät, dass er nur un­ter gro­ßen Stra­pa­zen dort­hin rei­sen konn­te und ge­ra­de noch recht­zei­tig ein­traf. Er ent­schied sich, ei­ni­ge Ta­ge bei sei­nen Freun­den auf dem Ha­ger Hof zu ver­brin­gen, wo er sicht­lich be­drückt nach der Be­er­di­gung ein­traf. Im Krei­se sei­ner en­gen Freun­de trug er ei­ne sei­ner letz­ten Kom­po­si­tio­nen „Vier erns­te Ge­sän­ge für ei­ne Bass­stim­me mit Pia­no­for­te­be­glei­tun­g“ op. 121 vor, die er un­ter dem Ein­druck von Cla­ra Schu­manns na­hen­dem Tod – am 26.3.1896 hat­te sie ei­nen Schlag­an­fall er­lit­ten – kom­po­niert und ihr zu­ge­sandt hat­te.[33] Wäh­rend die­ser Ta­ge auf dem Ha­ger Hof ent­stan­den ei­ni­ge der letz­ten Fo­to­gra­fi­en von Jo­han­nes Brahms, auch ei­ni­ge Zeich­nun­gen von ihm, die der Ma­ler Wil­ly von Be­ckerath (1868−1938), der un­ter den Gäs­ten war, an­ge­fer­tigt hat­te.

Wäh­rend die­ses Tref­fens litt Brahms be­reits an der von ihm selbst scherz­haft als „bür­ger­li­che Gelb­such­t“ be­zeich­ne­ten Krank­heit, bei der es sich ver­mut­lich um Pan­kre­as­krebs han­del­te.[34] Sein Ge­sund­heits­zu­stand ver­schlech­ter­te sich in der nächs­ten Zeit. Jo­han­nes Brahms starb am 3.4.1897 in Wien und wur­de in ei­nem Eh­ren­grab auf dem Wie­ner Zen­tral­fried­hof bei­ge­setzt.

Porträtfoto von Rudolf von der Leyen. (Brahms-Institut an der Musikhochschule Lübeck, Inv. Nr. ABH 1.7.4.138)

 

Die Fo­tos von dem Tref­fen auf dem Bon­ner Hof ge­hö­ren zu den letz­ten Auf­nah­men von Brahms und ver­an­schau­li­chen das zu­meist von ihm kol­por­tier­te Bild: So ist er pri­mär durch sein mit Me­lan­cho­lie und „End­zeit“ as­so­zi­ier­tes Al­ters­werk in der Öf­fent­lich­keit prä­sent, was sich in der Er­schei­nung des al­ten, nicht ge­ra­de schlan­ken Herrn mit üp­pi­gem Voll­bart wi­der­spie­gel­te, den er seit sei­nem 45. Le­bens­jahr trug. Zeit­ge­nos­sen be­schrie­ben ihn als freund­li­chen, höf­li­chen, aber den­noch nicht im­mer ein­fa­chen Men­schen. Zeit­le­bens blieb er Jung­ge­sel­le; die Ver­lo­bung mit der Pro­fes­so­ren­toch­ter Aga­the von Sie­bold (1835−1909) im Jahr 1858 wur­de nach kur­zer Zeit wie­der ge­löst. Ein­mal soll er ei­nem Freund ver­ra­ten ha­ben, dass es zu sei­nen Prin­zi­pi­en ge­hö­re, kei­ne Oper und kei­ne Hei­rat mehr zu ver­su­chen – und das sei auch gut so ge­we­sen.[35] Be­stand­teil der Le­gen­den­bil­dung um die Be­zie­hung zu Cla­ra Schu­mann ist die Spe­ku­la­ti­on, dass er nach der Ent­täu­schung die­ser un­er­füll­ten Lie­be kei­ne wirk­lich Bin­dung mit ei­ner an­de­ren Frau mehr ein­ge­hen woll­te. Bei dem Le­bens­wan­del, für den Brahms sich ent­schie­den hat­te und in des­sen Mit­tel­punkt un­ein­ge­schränkt das Kom­po­nie­ren stand, wä­re ei­ne Ehe mög­li­cher­wei­se auch schlicht­weg hin­der­lich ge­we­sen. Wohl aus den glei­chen Grün­den hat­te Brahms in fort­ge­schrit­te­nem Al­ter die Stel­le als Mu­sik­di­rek­tor in Köln ab­ge­lehnt, die zahl­rei­che or­ga­ni­sa­to­ri­sche und re­prä­sen­ta­ti­ve Auf­ga­ben mit sich ge­bracht hät­te, wel­che sei­ner kom­po­si­to­ri­schen Ar­beit im We­ge ge­stan­den hät­ten.

Am 28.10.1853 bei ei­ner Abend­ge­sell­schaft im Hau­se der Schu­manns war Jo­seph Joa­chim zu Gast, der für ei­ni­ge Kon­zer­te ins Rhein­land ge­kom­men war. Als Ge­schenk wur­de ihm ei­ne So­na­te über die Ton­fol­ge F-A-E über­reicht, die Ro­bert Schu­mann, sein Schü­ler Al­bert Diet­rich (1829−1908) und Brahms ge­mein­schaft­lich kom­po­niert hat­ten. Die Buch­sta­ben F, A und E wa­ren die Ab­kür­zung des Mot­tos „Frei Aber Ein­sam“ für das Joa­chim ge­wid­me­te Werk. Spä­ter je­doch be­zeich­ne­te Brahms die­ses zu­gleich auch als stim­mi­ges Mot­to für sein ei­ge­nes Le­ben.[36] 

Quellen

Kur­siv = Kurz­zi­tier­wei­se 

Litz­mann, Bert­hold (Hg.), Cla­ra Schu­mann. Ein Künst­ler­le­ben. Nach Ta­ge­bü­chern und Brie­fen, Band 2, Leip­zig 1905.
Litz­mann, Bert­hold (Hg.), Cla­ra Schu­mann Jo­han­nes Brahms. Brie­fe aus den Jah­ren 1853–1896, Band 1, Leip­zig 1927.
Mo­ser, An­dre­as (Hg.), Jo­han­nes Brahms im Brief­wech­sel mit Jo­seph Joa­chim, Band 1, Ber­lin 1908.
Schu­mann, Ro­bert, Neue Bah­nen, in: Neue Zeit­schrift für Mu­sik (39), Nr. 18, 28.10.1853, S. 185-186.

Literatur

Ap­pel, Bern­hard R., Das Pro­me­mo­ria des Wil­helm Wort­mann: Ein Do­ku­ment aus Schu­manns Zeit, in: Ap­pel, Bern­hard R./Bär, Ute/Wendt, Mat­thi­as (Hg.), Schu­man­nia­na No­va. Fest­schrift Gerd Nau­haus zum 60. Ge­burts­tag, Sin­zig 2002, S. 1–47.
Geck, Mar­tin, Jo­han­nes Brahms, Rein­bek bei Ham­burg 2013.
Kal­beck, Max, Jo­han­nes Brahms. Ei­ne Bio­gra­phie in vier Bän­den, Band 1: 1833–1862; Band 3, 1: 1874–1881; Band 3, 2: 1881-1885, Wien/Leip­zig 1904, Ber­lin 1910/1913.
Korf, Mal­te, Jo­han­nes Brahms. Le­ben und Werk, Mün­chen 2008.
Kross, Sieg­fried, Brahms und das Rhein­land, in: Kross, Sieg­fried (Hg.), Mu­si­ka­li­sche Rhein­ro­man­tik. Be­richt über die Jah­res­ta­gung 1985, Kas­sel 1989, S. 93–105.
Nie­mann, Wal­ter, Brahms, Ber­lin 1920.
Op­hüls, Gus­tav, Er­in­ne­run­gen an Jo­han­nes Brahms. Ein Bei­trag aus dem Krei­se sei­ner rhei­ni­schen Freun­de, Eben­hau­sen bei Mün­chen 1983 [Erst­druck 1921].
Sand­ber­ger, Wolf­gang, Bil­der, Denk­mä­ler, Kon­struk­tio­nen – Jo­han­nes Brahms als Fi­gur des kol­lek­ti­ven Ge­dächt­nis­ses, in: Sand­ber­ger, Wolf­gang (Hg.), Brahms Hand­buch, Kas­sel 2009, S. 2-22.
Schu­bert, Fried­rich, Jo­han­nes Brahms in Düs­sel­dorf. Des Meis­ters Wer­t­her­zeit, in: Bei­la­ge der Düs­sel­dor­fer Nach­rich­ten, Nr. 230, 7.5.1933.
Strä­ter, Ni­na, Der Bür­ger er­hebt sei­ne Stim­me. Der Städ­ti­sche Mu­sik­ver­ein zu Düs­sel­dorf und die bür­ger­li­che Mu­sik­kul­tur im 19. und 20. Jahr­hun­dert, Göt­tin­gen 2018.
Syn­of­zik, Tho­mas, Brahms und Schu­mann, in: Sand­ber­ger, Wolf­gang (Hg.), Brahms Hand­buch, Kas­sel 2009, S. 63-75.
Tad­day, Ul­rich, Ten­den­zen der Brahms-Kri­tik im 19. Jahr­hun­dert, in: Sand­ber­ger, Wolf­gang (Hg.), Brahms Hand­buch, Kas­sel 2009, S. 112-127.

Johannes Brahms während seines letzten Aufenthalts im Rheinland im Haus der Familie Weyermann auf dem Hagerhof in Bad Honnef, Pfingsten 1896. (Stadtmuseum Bonn)

 
Anmerkungen
Zitationshinweis

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Sträter, Nina, Johannes Brahms und das Rheinland, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/johannes-brahms-und-das-rheinland/DE-2086/lido/602cf334b3cb35.55756284 (abgerufen am 29.03.2024)