Johannes Brahms und das Rheinland
Zu den Kapiteln
Schlagworte
1. Brahms' Begegnung mit dem Rheinland
Im Leben von Johannes Brahms hat das Rheinland eine prägende Rolle gespielt, auch wenn die Region von der Dauer der Aufenthalte her in seiner Biographie nicht besonders hervorsticht. Geboren wurde der Komponist am 7.5.1833 in Hamburg, wo er seine ersten 20 Jahre verbrachte; während der letzten 35 Jahres seines Lebens war sein offizieller Wohnort die Stadt Wien. Anstellungen, Tourneen und private Reisen führten ihn außerdem in zahlreiche andere deutsche Städte und ins Ausland; insbesondere Italien besuchte er viele Male. In Relation dazu nehmen sich die zwei Jahre zwischen 1854 und 1856, in denen er in Düsseldorf wohnte, und die Besuche und Konzerte in verschiedenen rheinischen Städten wie Köln, Bonn, Aachen und Koblenz nur kurz aus. Bedeutsam für Brahms war jedoch, dass im Rheinland zahlreiche Begegnungen mit Menschen stattfanden, die ihn und sein Werk nachhaltig prägten. So war das Rheinland der Ort, an dem sich der Komponist im Alter von 20 Jahren erstmals näher mit der romantischen Musik von Robert Schumann beschäftigte und wenig später diesen und seine Frau Clara persönlich kennenlernte. Ein von Robert Schumann veröffentlichter Artikel über den jungen Brahms nahm Einfluss auf die Wahrnehmung von dessen Werken in der Öffentlichkeit, und aus der Begegnung mit Clara Schumann (1819−1896) entstand eine lebenslange, enge Freundschaft.
Johannes Brahms wuchs in nicht gerade wohlhabenden Verhältnissen, aber einem musikalischen Umfeld auf. Sein Vater, der ursprünglich Militär- und Tanzmusiker gewesen war, hatte es bis zum Kontrabassisten der Philharmonischen Gesellschaft gebracht und unterstützte die musikalischen Ambitionen seines Sohnes nach Kräften. Dieser galt schon früh als Wunderkind, gab mit zehn Jahren sein erstes Konzert und bekam ab 1843 Kompositions- und Klavierunterricht bei dem damals bekannten Komponisten und Musiklehrer Eduard Marxsen (1806–1887). Bereits im März 1850 fand eine erste, jedoch nur kurze Begegnung mit Robert Schumann statt, der gemeinsam mit seiner Frau zur Aufführung einiger seiner Werke nach Hamburg gereist war. Nachdem Brahms die philharmonischen Konzerte besucht und bei dieser Gelegenheit die „Genoveva-Ouvertüre“ und das Klavierkonzert op. 54 gehört hatte, wurde er während einer Abendveranstaltung Schumann kurz vorgestellt. Ein Bericht, der auf die Schilderung des Violinisten Wilhelm Joseph von Wasielewski (1822−1896), einem Freund und Schüler Schumanns, zurückgeht und gemäß dem Brahms Schumann einige seiner Manuskripte überreichte, dieser jedoch keine Zeit fand, sie zu prüfen, wird aus heutiger Sicht als Ausschmückung gewertet: Der gerade einmal 17 Jahre alte und recht schüchterne Brahms dürfte zu einer Soiree kaum eine Manuskriptmappe mitgebracht haben, um diese dem berühmten Komponisten zu überreichen.[1]
Drei Jahre später lernte Brahms den aus Ungarn stammenden Violinisten Joseph Joachim (1831−1907) kennen, woraus eine über viele Jahrzehnte bestehende Freundschaft entstand. Joachim war mit den Schumanns befreundet und empfahl Brahms, sich bei Robert Schumann vorzustellen, der zu dieser Zeit Musikdirektor in Düsseldorf war. So brach Brahms im Sommer 1853 zu einer Reise ins Rheinland auf, die er größtenteils zu Fuß zurücklegte. Er wanderte das Rheintal entlang und besichtigte zahlreiche Städte, Klöster und Burgen, bevor er am 7.9.1853 in Bonn eintraf. Dort war Brahms einige Wochen lang in der Villa des aus Köln gebürtigen Bankiers Wilhelm Ludwig Deichmann und seiner Frau zu Gast. Beide waren begeisterte Musikliebhaber und mit den Schumanns bekannt. Während des Aufenthaltes hatte Brahms erstmals die Gelegenheit, sich mit den Noten einiger Werke von Robert Schumann vertraut zu machen, die seine Gastgeber besaßen.[2]
Beeindruckt von den Kompositionen, über die er bis dahin nur wenige Kenntnisse gehabt hatte, machte sich Brahms auf den Weg nach Düsseldorf, wo er am 30.9.1853 eintraf. Anders als bei der ersten kurzen Begegnung in Hamburg hatte Schumann Zeit für den von Joseph Joachim angekündigten Gast und forderte ihn freundlich auf, ihm seine Kompositionen zu zeigen. Brahms jedoch hatte keine Noten mitgebracht, sondern setzte sich ans Klavier und spielte ein eigenes Werk aus dem Gedächtnis. Schon nach wenigen Augenblicken war Schumann so begeistert, dass er ihn das erste Stück nicht einmal zu Ende spielen ließ, sondern unterbrach, um eilig seine Frau herbeizuholen. Diese beschrieb später die Wirkung, die der junge Komponist auf sie beide ausgeübt hatte, anschaulich in ihrem Tagebuch: Dieser Monat brachte uns eine wunderbare Erscheinung in dem 20-jährigen Brahms aus Hamburg. Das ist wieder einmal einer, der kommt eigens, wie von Gott gesandt! Er spielte uns Sonaten, Scherzos von sich, alles voll überschwänglicher Phantasie, Innigkeit der Empfindung und meisterhaft in der Form. Robert meint, er wüßte ihm nichts zu sagen, das er hinweg- oder hinzutun sollte. Es ist wirklich rührend, wenn man diesen Menschen am Klavier sieht mit seinem interessant jugendlichen Gesichte, das sich beim Spielen ganz verklärt, seine schöne Hand, die mit der größten Leichtigkeit die größten Schwierigkeiten besiegt (seine Sachen sind sehr schwer), und dazu diese merkwürdigen Kompositionen. Er hat bei Marxen in Hamburg studiert, doch das, was er uns gespielt, ist so meisterhaft, daß man meinen müßte, den hätte der liebe Gott gleich so fertig auf die Welt gesetzt. Eine schöne Zukunft steht Dem bevor, denn wenn er erst für Orchester schreiben wird, dann wird er erst das rechte Feld für seine Phantasie gefunden haben![3]
Brahms blieb den ganzen Oktober 1853 in Düsseldorf, wo er jeden Tag im Hause der Schumann zu Gast war. Für seine täglichen Klavierübungen ging er in das nicht weit von der Wohnung der Schumanns entfernt gelegene Magazin des Klavierfabrikanten Klems[4] (auf der Hohe Straße 34, damals Hausnummer 962), bei dem Robert Schumann kurz zuvor einen Klems-Flügel für seine Frau als Geschenk zu ihrem Geburtstag am 13.9.1853 gekauft hatte. Die Schumanns stellten den jungen Mann in den kulturinteressierten Kreisen Düsseldorfs vor und veranstalteten abends Hausmusikkonzerte in verschiedenen Besetzungen, bei denen Brahms eigene Werke, aber auch Kompositionen von Schumann spielte.[5] Während seines Aufenthaltes entstanden einige Zeichnungen des französischen Malers Jean-Joseph Bonaventure Laurens (1801−1890), die den jugendlich Brahms zeigen.
2. Brahms und Robert Schumann
Der junge Brahms beeindruckte Robert Schumann mit seiner Musik zutiefst und bereitete ihm mit seiner Anwesenheit in dem sonst von schwierigen Umständen überschatteten Leben eine große Freude. 1853 Schumann hatte schon seit längerem mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen. So litt er durch seine Krankheit, die er selbst als Nervenschwäche bezeichnete, unter Angstzuständen, Nervosität, akustischen Halluzinationen und einer Beeinträchtigung seines Gehörs, was auch das Familienleben in erheblichem Maße belastete. Außerdem bestanden Konflikte zwischen Schumann und dem von ihm geleiteten Gesangverein und Orchester, welche im letzten Jahr immer weiter eskaliert waren und letztlich dazu führten, dass Schumann am 9.11.1853 seine Stelle in Düsseldorf kündigte.[6] Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass die Bekanntschaft mit Brahms einen Lichtblick für die Schumanns darstellte.
Trotz des gemeinsamen Musizierens und vieler Gespräche über Musik kam es nicht dazu, dass Brahms Kompositionsschüler von Robert Schumann wurde. Über die Zeit in Düsseldorf schrieb er später, dass er von diesem nichts gelernt habe als das Schachspielen.[7] Dennoch ist es sicherlich berechtigt, von einem intensiven musikalischen Austausch und einer gegenseitigen Motivation zwischen Schumann und Brahms zu sprechen. So liegen einige detaillierte Studien vor, die anhand bestimmter Werke einen Einfluss Schumanns auf das Musikverständnis und die Wahl der Stilmittel bei dem jungen Brahms in dieser Zeit aufzeigen.[8]
Auf die Rolle, die Brahms im deutschen Musikleben des 19. Jahrhunderts zugeschrieben wurde, nahm Schumann auch noch auf andere Weise Einfluss, und zwar in Form seines berühmt gewordenen Artikels „Neue Bahnen“, den er vom 9.−13.10.1853 verfasste. Er erschien gut zwei Wochen später in der „Neuen Zeitschrift für Musik“, die Schumann mitgegründet und zehn Jahre lang redaktionell geleitet hatte. Bei diesem keine zwei Seiten langen Artikel handelte es sich um eine emphatische Lobeshymne auf den jungen Komponisten, wie folgender Ausschnitt verdeutlicht: Ich dachte, die Bahnen dieser Auserwählten mit der größten Theilnahme verfolgend, es würde und müsse nach solchem Vorgang einmal plötzlich Einer erscheinen, der den höchsten Ausdruck der Zeit in idealer Weise auszusprechen berufen wäre, einer, der uns die Meisterschaft nicht in stufenweiser Entfaltung brächte, sondern, wie Minerva, gleich vollkommen gepanzert aus dem Haupte des Kronion entspränge. Und er ist gekommen, ein junges Blut, an dessen Wiege Grazien und Helden Wache hielten. Er heißt Johannes Brahms, kam von Hamburg, dort in dunkler Stille schaffend, aber von einem trefflichen und begeistert zutragenden Lehrer gebildet in den schwierigsten Satzungen der Kunst, mir kurz vorher von einem verehrten bekannten Meister empfohlen. Er trug, auch im Aeußeren, alle Anzeichen an sich, die uns ankündigen: das ist ein Berufener.[9]
Der Artikel machte Brahms quasi über Nacht zum Gesprächsthema in der kulturinteressierten Öffentlichkeit und das, obwohl noch gar keine seiner Kompositionen bekannt war. Sein früher Ruhm ging also nicht von seinen Werken aus, sondern von einer Art Empfehlungsschreiben des zwar berühmten, aber keineswegs unumstrittenen Komponisten Schumann. Noch bevor seine Werke überhaupt diskutiert werden konnten, wurde Brahms auf diese Weise in eine gesellschaftspolitisch bedeutsame Position gebracht, wodurch in der Öffentlichkeit erhebliche Erwartungshaltungen an das so überschwänglich gepriesene ‚junge Genie‘ geweckt wurden, denen gegenüber sich der Komponist erst einmal beweisen musste. In der Literatur wird nicht selten die Meinung vertreten, dass Schumann trotz seiner guten Absichten Brahms mit seinem emphatischen Artikel in eine denkbar missliche Lage brachte.[10] Vielleicht hegte sogar Schumann wenig später selbst derartige Befürchtungen; zumindest entfernte er im Februar 1854 den Text aus seinen „Gesammelten Schriften“, die gerade für den Druck vorbereitet wurden.[11]
Die Art und Weise, wie Brahms in die Öffentlichkeit bekannt wurde, ist zugleich ein anschauliches Beispiel dafür, wie sich die Rezeption musikalischer Werke in der Mitte des 19. Jahrhunderts generell verändert hatte: Anders als früher standen nun nicht mehr nur die Kompositionen selbst mit ihren Qualitäten und dem dahinterstehenden handwerklichen Können im Fokus der Öffentlichkeit. Vielmehr ging es nun auch um die Frage, ob sie als „fortschrittlich“ zu bewerten seien und wo sie in der aktuellen Diskussion um die Musik stünden, womit Kompositionen und Kunstwerke generell eine neuartige gesellschaftspolitische Relevanz bekamen. Durch Formulierungen wie beispielsweise „Genius“, „zauberische Kreise“ und „Geisterwelt“ hatte Schumann den jungen Brahms in seinem Artikel zu einem Vertreter eines romantischen Subjektivismus und einer romantischen Innerlichkeit stilisiert, der nach der Revolution von 1848 keineswegs überall in der Bevölkerung geschätzt wurde. Die von Schumann als positiv gesehene romantische Tradition galt vielen als schädlicher Traditionalismus und die Verweigerung des notwendigen Fortschritts. Mit seinem Artikel hatte Schumann also in der Öffentlichkeit ein Bild von Brahms geprägt, gemäß dem er an die Tradition der Romantik anknüpfte und damit zum Antipoden einer neuen und modernen musikalischen Entwicklung gemacht wurde, die insbesondere von Komponisten wie Richard Wagner (1813−1883) und Franz Liszt (1811−1886) repräsentiert wurde und unter dem Begriff „Neudeutsche Schule“ bekannt war.[12] Auch Hector Berlioz (1803−1869), obwohl Franzose, und später Anton Bruckner (1824−1896) wurden diesem Lager zugerechnet. Brahms‘ Position in diesem Parteienstreit des 19. Jahrhunderts zwischen „Konservativen“ und „Neudeutschen“ fand ihr Äquivalent sogar in der zugespitzt formulierten Gegenüberstellung der „Wagnerianer“ und der „Brahminen“.[13]
Die Dimension des öffentlich mit großer Heftigkeit ausgetragenen Streites wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es dabei im Grunde um die Frage ging, welche der beiden Strömungen berechtigt war, das legitime Erbe Beethovens, der als „der“ deutsche Komponist schlechthin galt, anzutreten. Brahms sah sich jedoch keineswegs als repräsentativen Antipoden der Neudeutschen an. Für sich selbst vertrat er den Anspruch, der Nachwelt „dauerhafte Musik“ zu hinterlassen, also eine Musik zu schaffen, die sich auf „reine Gesetze“ konzentrierte und die aufgrund ihrer Qualitäten dem historischen Wandel entzogen war.[14] Vor diesem Hintergrund überrascht es wenig, dass er für die virtuosen Kompositionen von Franz Liszt in der Tat nur wenig übrig hatte und sie für substanzlose Effekthascherei hielt. Dennoch bewunderte er Liszts Fähigkeiten als Pianist.[15] Und auch wenn er kein großer Freund der Musik Richard Wagners war, gab es doch einige von dessen Opern, die er durchaus schätzte. Die Unterteilung des deutschen Musiklebens etwa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in „Wagnerianer“ und „Brahminen“ war also wenig differenziert und Brahms die Rolle des großen Gegenspielers der Neudeutschen mehr oder weniger übergestülpt worden.
Diese enormen Auswirkungen für die Rezeption von Brahms‘ Werk waren jedoch keineswegs absehbar, als Schumann im Oktober 1853 über den jungen Gast seinen Artikel schrieb. Schon wenige Monate später wurde die in dieser Zeit zwischen den beiden Komponisten entstandene Freundschaft auf eine harte Probe gestellt: Im Februar 1854 unternahm Schumann, der immer heftiger unter seinen gesundheitlichen Problemen litt, einen Selbstmordversuch, indem er sich in einer eisigen Nacht in den Rhein stürzt. Er wurde gerettet und in die Heilanstalt Endenich (heute Stadt Bonn) gebracht, wo er die zwei letzten Jahre seines Lebens verbrachte.
Nachdem absehbar war, dass Robert Schumann nicht mehr als Dirigent des Düsseldorfer Gesangvereins und des Orchesters tätig sein würde, wurde von der Stadtverwaltung beschlossen, einen Musikdirektor offiziell bei der Stadt anzustellen. Die Stelle wurde nun erstmals öffentlich ausgeschrieben, statt wie früher Städtische Musikdirektoren und Dirigenten der Musikvereine über persönliche Vermittlungen auszuwählen.
In einer Zeitung hatte Schumann von der Ausschreibung erfahren und Brahms in einem Brief darauf angesprochen: In den Signalen hab‘ ich gelesen, daß die städtische Verwaltung in Düsseldorf ein Konkurrenzausschreiben nach einem neuen Musikdirektor gestellt. Wer könnte der sein? Sie nicht? Vielleicht hätte Verhulst[16] Lust, wenn der Antrag ihm gestellt würde. Das sollte man tun.[17] Der indirekten Andeutung, Brahms könnte sich vielleicht auf die Stelle bewerben, kam dieser nicht nach. Rückblickend erscheint es auch als unwahrscheinlich, dass der damals 20-jährige und noch unbekannte Brahms die Stelle bekommen hätte.
Nach längeren stadtinternen Querelen entschied man sich schließlich für Julius Tausch (1827−1895), der bereits in den Jahren zuvor als gelegentlicher Stellvertreter Schumanns den Gesangverein dirigiert hatte und auch durch andere musikalische Tätigkeiten in Düsseldorf bekannt war. Berühmtere und womöglich auch qualifiziertere Bewerber von außerhalb konnten sich aufgrund des persönlichen Einsatzes verschiedener musikalischer Vereine in der Stadt nicht durchsetzen.
Während Clara Schumann ihren Mann erst kurz vor seinem Tod am 29.7.1856 noch einmal sah, besuchte Brahms ihn neunmal in der Heilanstalt in Endenich.[18] Die Besuche bei dem zunehmend umnachteten Freund empfand er als erschütternd. In einem Brief an Joseph Joachim vom 25.4.1856 (also vier Monate vor Schumanns Tod) schrieb er: Ich blieb einige Tage in Bonn [...]. Hernach sah ich Schumann. Wie hatte er sich verändert. Er empfing mit freudig und herzlich wie immer, aber es durchschauerte mich – denn ich verstand kein Wort von ihm. Wir setzten uns, mir wurde immer schmerzlicher, die Augen waren mir feucht, er sprach immerfort, aber ich verstand nichts. Ich blickte wieder auf seine Lektüre. Es war ein Atlas und er eben beschäftigt, Auszüge zu machen, freilich kindische.[19] Zwei Tage nach seinem Tod wurde Schumann in Anwesenheit seiner Witwe und seiner Freunde Johannes Brahms, Joseph Joachim und Ferdinand Hiller (1811─1885) auf dem Alten Friedhof in Bonn beerdigt.
3. Brahms und Clara Schumann
Als Brahms 1854 von Robert Schumanns Selbstmordversuch erfuhr, ließ er in Hannover, wo er sich gerade aufhielt, alles stehen und liegen und reiste nach Düsseldorf, um Clara Schumann und ihren sechs Kindern beizustehen. Hier wurde er zum Bollwerk, das sowohl Robert als auch Clara Schumann vor vielleicht gut gemeinten, aber anmaßenden Heimsuchungen durch das Düsseldorfer Bürgertum bewahrte. Brahms erinnerte sich später: Als man Schumann nach Endenich gebracht hatte, schickten die Düsseldorfer Pietisten einen ‚strengen‘ Prediger, um ihn ins Gebet zu nehmen. Der Arzt aber erklärte, ohne ausdrückliche schriftliche Zusage der Frau Schumann werde er ihn nicht zu dem Kranken lassen, und diese hat, nach meinem Dazwischentreten, die Erlaubnis nie gegeben.[20] 1887 urteilte er rückblickend: Ich glaube, sie wäre verrückt geworden, wenn sie damals nicht mich kleinen Mann gehabt hätte, der, unter all den Frauenzimmern das einzige männliche Individuum, ihr den Unsinn wieder ausredete.[21] Brahms war zu dieser Zeit fast mittellos und nahm seine Mahlzeiten im Haus der Schumanns ein. Ein wenig Geld verdiente er sich mit Klavierstunden und bekam außerdem für einige im Druck erschienene Werke die ersten Honorare ausgezahlt. Ursprünglich hatte Brahms ein kleines Zimmer bewohnt, doch nachdem Clara Schumann für sich und ihre Kinder eine Wohnung auf der Poststraße gemietet hatte, zog Brahms dort in das Gästezimmer ein. Bis heute erinnert an dem nach dem Zweiten Weltkrieg neu erbauten Haus eine Gedenktafel an Brahms‘ Düsseldorfer Zeit.
Clara war nun gezwungen, regelmäßig Konzerte zu geben und auf Tournee zu gehen, um Geld für die Familie und nicht zuletzt für die teure medizinische Behandlung ihres Mannes zu verdienen. In dieser schweren Zeit wurde Johannes Brahms zu einer unentbehrlichen Stütze für sie, da er sich in ihrer Abwesenheit um die Kinder, den Haushalt und andere Dinge des Alltags kümmerte. Angesichts dieser Belastung überrascht es nicht, dass er in diesen Jahren nur wenig komponierte, auch kaum in der Öffentlichkeit präsent war und damit als Komponist kaum an Bekanntheit gewann. Einige Monate nach Robert Schumanns Selbstmordversuch brachte Clara am 11.6.1854 ihr siebtes Kind, den Sohn Felix zur Welt. Sein Patenonkel wurde Johannes Brahms, der später drei Gedichte aus der Feder von Felix vertonte. Das bekannteste dieser Werke ist das Lied „Meine Liebe ist grün wie der Fliederbusch“ (veröffentlicht als op. 63, in „Junge Lieder I“). Zur Geburt ihres letzten Kindes schenkte Brahms Clara das Manuskript seiner Anfang Juni 1854 entstandenen Komposition „Variationen über ein Thema von Robert Schumann“ op. 9. Ein Gerücht, das sich lange und hartnäckig in der Öffentlichkeit hielt, dass Brahms der Vater von Felix gewesen sei, gilt heute als widerlegt.[22] Felix Schumann starb 1879 im Alter von nur 25 Jahren an Lungentuberkulose.
Die Düsseldorfer Jahre sind später bisweilen als Brahms‘ „Wertherzeit“[23] bezeichnet worden, was sich auf die in der Literatur kolportierte unerfüllte Liebe zu Clara Schumann bezieht – auch wenn diese nicht wie in der literarischen Vorlage „Die Leiden des jungen Werther“ von Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) im Selbstmord des unglücklich Liebenden endete. Dass er ab 1854 im gleichen Hause wie Clara Schumann wohnte und sich liebevoll ihrer Kinder annahm, führte auf jeden Fall schon damals zu Gerüchten in Düsseldorf. Zahlreiche Briefe der beiden zeugen von einer lebenslangen innigen Zuneigung und Verbundenheit. Die Ungewissheit, ob daraus auch eine heimliche Beziehung entstand, hat zu zahllosen Spekulationen und einer ausgeprägten Legendenbildung geführt. Nach Schumanns Tod reisten seine Witwe und Brahms gemeinsam mit dessen Schwester Elise von Ende August bis Anfang September nach Süddeutschland und in die Schweiz. Im Sommer 1857 unternahmen sie noch einmal eine gemeinsame Rheinreise und verbrachten dann noch einige Tage in Düsseldorf, bevor Clara Schumann nach Berlin ging und Brahms am Fürstenhof in Detmold seine erste feste Stelle antrat. Im Laufe ihres Lebens trafen die beiden jedoch immer wieder bei Konzerten zusammen, besuchten einander und unterhielten einen regelmäßigen Briefwechsel.
4. Reisen ins Rheinland
Bis zum Ende seines Lebens blieb Brahms dem Rheinland verbunden und war dort fast jährlich immer wieder bei Freunden zu Gast, gab Konzerte oder besuchte, wann immer es ihm möglich war, auch die Niederrheinischen Musikfeste, sei es als Mitwirkender oder als Zuhörer. Diese über die Grenzen des Rheinlandes hinaus bekannte Veranstaltung fand seit 1818 immer zu Pfingsten turnusmäßig in Düsseldorf, Köln und Aachen (in der Anfangszeit statt in Aachen in Elberfeld) statt und konnte auf eine lange Liste von berühmten Gastkünstlern zurückblicken, die im Laufe der Jahre daran mitgewirkt hatten. Im Jahr 1855 lernte Brahms bei dem Niederrheinischen Musikfest die seinerzeit weltberühmte Sopranistin Jenny Lind (1820–1887) kennen, die in Robert Schumanns Oratorium „Das Paradies und die Peri“ zu hören war, und außerdem den Musikfeuilletonisten der in Wien erscheinenden „Neuen Freien Presse“, Eduard Hanslick (1825−1904), der später, als Brahms in Wien lebte, ein guter Freund wurde.[24] Auch Franz Liszt war in diesem Jahr unter den Gästen. Dass Brahms darüber hinaus die Bekanntschaft einer prominenten Klavierschülerin von Clara Schumann, der Prinzessin Friederike von Lippe-Detmold (1825− 1897), machte, führte dazu, dass er zwei Jahre später als Konzertpianist und Dirigent des Hofchores an den Detmolder Fürstenhof berufen wurde. Während des Niederrheinischen Musikfestes 1856, das in Düsseldorf stattfand, traf Brahms den Bariton Julius Stockhausen (1826−1906), mit dem er später zahlreiche Konzerte gab und für den er Lieder komponierte, die dieser zur Uraufführung brachte.[25] Wenn Brahms das Rheinland besuchte, waren insbesondere Düsseldorf und Bonn wichtige Anlaufstellen, da dies die Städte waren, die biographisch eng mit Robert und Clara Schumann verbunden waren. Als am 2.5.1880 die Enthüllung das Grabdenkmal von Adolf von Donndorf (1835−1916) für Robert Schumann auf dem Alten Friedhof in Bonn stattfand, reiste Brahms dorthin, um ein Konzert zu dirigieren. Ebenfalls 1880, am 20. Januar, fand in Krefeld im Hause des musikbegeisterten Bankiers Rudolf von der Leyen (1851−1910) ein Konzert mit Werken von Brahms statt. Auch bei dieser Gelegenheit erweiterte sich Brahms‘ Freundeskreis um Herrn von der Leyen und einige seiner Verwandten, denen er zeitlebens verbunden blieb.
Im Jahr 1874 wurden mit Brahms schriftlich Verhandlungen aufgenommen, die ihn beinahe an seinen früheren Wohnort Düsseldorf zurückgeführt hätten: 1855 hatte Julius Tausch nach dem Selbstmordversuch Robert Schumanns den Posten des Städtischen Musikdirektors übernommen, doch war sein Vertrag 1861 nicht wieder verlängert worden und die Stelle in den folgenden Jahren vakant geblieben.[26] Nachdem in früheren Zeiten Berühmtheiten wie Felix Mendelssohn Bartholdy (1809−1847), Ferdinand Hiller, Robert Schumann und seine Frau Clara das städtische Kulturleben bereichert hatten, war das Fehlen eines Städtischen Musikdirektors eine unbefriedigende und wenig prestigeträchtig Situation. Da zwischenzeitlich keine Lösung gefunden werden konnte, ergriffen 1874 die Düsseldorfer Politiker und Musikliebhaber Regierungsrat Dr. Steinmetz, ein Freund von Clara Schumann und Joseph Joachim, sowie der Justitiar Karl Bitter die Initiative. Mit Blick auf das Niederrheinische Musikfest 1875, das in Düsseldorf stattfinden sollte, regten sie erneut die Anstellung eines Städtischen Musikdirektors an. Ohne sich im vollen Umfang mit der Stadtverwaltung abzustimmen, nahmen sie mit Johannes Brahms Kontakt auf, offerierten ihm die Anstellung bei der Stadt und machten sich auf die Suche nach Geldquellen, aus denen sein Gehalt bezahlt werden sollte. Anders als im Jahr 1854, als Brahms bestenfalls als vielversprechendes junges Talent hatte gelten können, war er inzwischen ein deutschlandweit anerkannter und berühmter Künstler, der den Wunsch nach einem qualifizierten und renommierten Musikdirektor erfüllt hätte. Mit dem Dirigat von Chören hatte er viel Erfahrung und wurde darüber hinaus als Komponist von Chormusik geschätzt. Zu seinen bekanntesten Chorwerken gehörten „Ein Deutsches Requiem“, die „Altrhapsodie“, die Chorkantate „Rinaldo“ und die Liebesliederwalzer op. 52 für Klavier vierhändig und gemischten Chor. Um Gelder für das großzügige Gehalt, das Brahms angeboten werden sollte, bereitstellen zu können, plante Justitiar Bitter unter anderem, in Düsseldorf eine Musikschule zu gründen, die Brahms leiten sollte. Als Städtischer Musikdirektor hätte es außerdem zu seinen Aufgaben gehört, den Gesangverein zu leiten, dem jedoch auf Basis eines Privatvertrages zu dieser Zeit nach wie vor Julius Tausch vorstand. Diesen vergleichsweise unbekannten Musiker durch den kompetenteren und berühmteren Brahms zu ersetzen, wäre durchaus im Interesse von Bitter und Steinmetz gewesen.
Im Dezember 1876 schien alles in trockenen Tüchern zu sein. Zunächst war Brahms über das Angebot sehr erfreut gewesen und hatte auch geplant, die Berufung nach Düsseldorf anzunehmen.[27] Letztlich waren es jedoch zwei Dinge, die zu seiner Entscheidung führten, nicht nach Düsseldorf zu gehen: Zum einen wollte er nicht die Leitung der geplanten Musikschule mit den ganzen damit verbundenen administrativen Aufgaben übernehmen und zweitens war er nicht gewillt, Julius Tausch aus dem Amt zu drängen. In Düsseldorf war bekannt, dass Tausch bei vielen mitwirkenden Laienmusikern der von ihm dirigierten Chöre sehr beliebt war, was 1876 sogar in der Verbreitung eines anonymen Flugblattes gipfelte, das sich für den Verbleib von Tausch in seiner Position aussprach; diese Voraussetzungen hätten Brahms‘ Position von Anfang an geschwächt. Für seine Unmut ob der gesamten Situation fand Brahms in seiner Absage an Justitiar Bitter im Januar 1877 deutliche Worte: Dem Bedenken „Tausch“ gegenüber klänge es gemein (:Hamlet würde sagen: es ist gemein:) wollte ich sagen, daß manches davon nicht sehr ermunternd ist. Die, zunächst an Zahl, geringeren einheimischen Kräfte, der große Saal dagegen, die ungenügende Zahl der Proben usw. Statt darüber mich zu ergehen sage ich lieber wie sehr leid es mir ist meine Absage wiederholen zu müssen. Ich ginge gern nach Deutschland, ich hätte gern stete Beschäftigung mit Chor und Orchester und wüßte keine Stadt, wo ich weitaus das Meiste so mir sympathisch fände als in Düsseldorf. Wären nicht jene zwei Bedenken über die ich nicht weg kann, ich besähe mir alles in der Nähe und würde wohl mit dem Übrigen fertig. So aber – es ist nicht reinlich – und mögen gleich gescheitere Leute es anders behaupten – man kann nicht gegen sein innerstes Gesicht. Das aber sprach bei mir von Anfang an dasselbe und wurde durch alles Vorkommende nur verstärkt.[28] Auch wiederholtes heftiges Intervenieren von Bitter und Steinmetz änderte an Brahms‘ Entscheidung nichts. Die Stelle des Städtischen Musikdirektors wurde letztlich erst 1890 mit Julius Buths (1851−1920) neu besetzt, nachdem Tausch in seiner Funktion als Leiter des Düsseldorfer Gesangvereins und anderer Vereine 1889 in Pension gegangen war.
Sieben Jahre später unternahm man einen ähnlichen Versuch, Brahms ins Rheinland zu holen, diesmal jedoch in die Stadt Köln: 1884 besuchte Brahms seinen schwer kranken Freund Ferdinand Hiller, der 34 Jahre lang das Kölner Musikleben geleitet hatte. Inzwischen war absehbar, dass er aufgrund seines Gesundheitszustandes das Amt bald würde niederlegen müssen. Daher hatte der Konzert- und Konservatoriumsvorstand der Stadt bei Brahms angefragt, ob er die Stelle des Städtischen Musikdirektors zu übernehmen bereit wäre. Doch wie schon bei der Anfrage aus Düsseldorf sieben Jahre zuvor lehnte Brahms ab. Während er über diese erste Entscheidung lange ernsthaft nachgedacht hatte, rang er beim zweiten Mal nur einige Tage um die richtigen Worte für seine Absage: Ich bin zu lange ohne eine derartige Stellung gewesen, habe mich wohl nur zu sehr an eine ganz andere Lebensführung gewöhnt, als daß ich nicht einesteils gleichgültiger geworden sein sollte gegen vieles, für das ich an solchem Platz das lebhafteste Interesse haben müßte, andernteils ungeübt und ungewandt in Sachen geworden wäre, die mit Routine und Leichtigkeit behandelt sein wollen.[29]
Brahms bisweilen selbstironische Haltung zu seinen oft als melancholisch und tragisch bezeichneten Werken zeigt sich anschaulich in einem Brief, den er im Vorfeld eines Konzertes im Rheinland dem Essener Musikdirektors Georg Heinrich Witte (1843−1929) schrieb. Dieser war ein glühender Verehrer von Brahms‘ Werken und hatte daher einen monströs langen Programm-Vorschlag an ihn geschickt, worauf dieser ihm zurückschrieb: Schön – aber schrecklich! [...] Ich entbehre ungern eines der Chorwerke, aber so schmeichelhaft die Menge für mich ist, wer soll all die traurigen Sachen anhören mögen?[30] Brahms halbierte das Programm, ließ sich vor Ort dann aber doch von dem begeisterten und gut vorbereiteten Chor dazu überreden, am 2.3.1884 das „Deutsches Requiem“ komplett zu dirigieren, das er ursprünglich hatte kürzen wollen.
5. Brahms' letzte Reise ins Rheinland
Weniger als ein Jahr vor Brahms‘ Tod fand 1896 im Rheinland ein letztes Treffen mit einigen seiner engsten Freunde statt, das durch den Bericht des Juristen und Musikliebhabers Gustav Ophüls (1866-1926)[31] sowie durch einige Fotografien gut dokumentiert ist und einen Blick in diese letzte Lebensphase von Brahms gestattet. Seit 1892 hatte sich die Tradition etabliert, dass während der Pfingsttage auf dem Hager Hof, einem alten Herrensitz oberhalb von Bad Honnef, Profis und Laien zu einer Art privatem Musikfest zusammenkamen, um gemeinsam zu essen, Wanderungen zu unternehmen und zu musizieren.[32] Zu diesen zählten mehrere Mitglieder der Familien von Rudolf von der Leyen, den Brahms 1880 in Krefeld kennengelernt hatte, und Rudolf von Beckerath (1863−1945), die untereinander verwandtschaftlich verbunden und alle mit Johannes Brahms befreundet waren. Nachdem am 20.5.1896 Clara Schumann in Frankfurt am Main gestorben war, wurde ihre Leiche nach Bonn überführt, um, wie es ihr Wunsch gewesen war, neben ihrem Mann beigesetzt zu werden. Brahms erfuhr von dem Termin so spät, dass er nur unter großen Strapazen dorthin reisen konnte und gerade noch rechtzeitig eintraf. Er entschied sich, einige Tage bei seinen Freunden auf dem Hager Hof zu verbringen, wo er sichtlich bedrückt nach der Beerdigung eintraf. Im Kreise seiner engen Freunde trug er eine seiner letzten Kompositionen „Vier ernste Gesänge für eine Bassstimme mit Pianofortebegleitung“ op. 121 vor, die er unter dem Eindruck von Clara Schumanns nahendem Tod – am 26.3.1896 hatte sie einen Schlaganfall erlitten – komponiert und ihr zugesandt hatte.[33] Während dieser Tage auf dem Hager Hof entstanden einige der letzten Fotografien von Johannes Brahms, auch einige Zeichnungen von ihm, die der Maler Willy von Beckerath (1868−1938), der unter den Gästen war, angefertigt hatte.
Während dieses Treffens litt Brahms bereits an der von ihm selbst scherzhaft als „bürgerliche Gelbsucht“ bezeichneten Krankheit, bei der es sich vermutlich um Pankreaskrebs handelte.[34] Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich in der nächsten Zeit. Johannes Brahms starb am 3.4.1897 in Wien und wurde in einem Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof beigesetzt.
Die Fotos von dem Treffen auf dem Bonner Hof gehören zu den letzten Aufnahmen von Brahms und veranschaulichen das zumeist von ihm kolportierte Bild: So ist er primär durch sein mit Melancholie und „Endzeit“ assoziiertes Alterswerk in der Öffentlichkeit präsent, was sich in der Erscheinung des alten, nicht gerade schlanken Herrn mit üppigem Vollbart widerspiegelte, den er seit seinem 45. Lebensjahr trug. Zeitgenossen beschrieben ihn als freundlichen, höflichen, aber dennoch nicht immer einfachen Menschen. Zeitlebens blieb er Junggeselle; die Verlobung mit der Professorentochter Agathe von Siebold (1835−1909) im Jahr 1858 wurde nach kurzer Zeit wieder gelöst. Einmal soll er einem Freund verraten haben, dass es zu seinen Prinzipien gehöre, keine Oper und keine Heirat mehr zu versuchen – und das sei auch gut so gewesen.[35] Bestandteil der Legendenbildung um die Beziehung zu Clara Schumann ist die Spekulation, dass er nach der Enttäuschung dieser unerfüllten Liebe keine wirklich Bindung mit einer anderen Frau mehr eingehen wollte. Bei dem Lebenswandel, für den Brahms sich entschieden hatte und in dessen Mittelpunkt uneingeschränkt das Komponieren stand, wäre eine Ehe möglicherweise auch schlichtweg hinderlich gewesen. Wohl aus den gleichen Gründen hatte Brahms in fortgeschrittenem Alter die Stelle als Musikdirektor in Köln abgelehnt, die zahlreiche organisatorische und repräsentative Aufgaben mit sich gebracht hätte, welche seiner kompositorischen Arbeit im Wege gestanden hätten.
Am 28.10.1853 bei einer Abendgesellschaft im Hause der Schumanns war Joseph Joachim zu Gast, der für einige Konzerte ins Rheinland gekommen war. Als Geschenk wurde ihm eine Sonate über die Tonfolge F-A-E überreicht, die Robert Schumann, sein Schüler Albert Dietrich (1829−1908) und Brahms gemeinschaftlich komponiert hatten. Die Buchstaben F, A und E waren die Abkürzung des Mottos „Frei Aber Einsam“ für das Joachim gewidmete Werk. Später jedoch bezeichnete Brahms dieses zugleich auch als stimmiges Motto für sein eigenes Leben.[36]
Quellen
Kursiv = Kurzzitierweise
Litzmann, Berthold (Hg.), Clara Schumann. Ein Künstlerleben. Nach Tagebüchern und Briefen, Band 2, Leipzig 1905.
Litzmann, Berthold (Hg.), Clara Schumann Johannes Brahms. Briefe aus den Jahren 1853–1896, Band 1, Leipzig 1927.
Moser, Andreas (Hg.), Johannes Brahms im Briefwechsel mit Joseph Joachim, Band 1, Berlin 1908.
Schumann, Robert, Neue Bahnen, in: Neue Zeitschrift für Musik (39), Nr. 18, 28.10.1853, S. 185-186.
Literatur
Appel, Bernhard R., Das Promemoria des Wilhelm Wortmann: Ein Dokument aus Schumanns Zeit, in: Appel, Bernhard R./Bär, Ute/Wendt, Matthias (Hg.), Schumanniana Nova. Festschrift Gerd Nauhaus zum 60. Geburtstag, Sinzig 2002, S. 1–47.
Geck, Martin, Johannes Brahms, Reinbek bei Hamburg 2013.
Kalbeck, Max, Johannes Brahms. Eine Biographie in vier Bänden, Band 1: 1833–1862; Band 3, 1: 1874–1881; Band 3, 2: 1881-1885, Wien/Leipzig 1904, Berlin 1910/1913.
Korf, Malte, Johannes Brahms. Leben und Werk, München 2008.
Kross, Siegfried, Brahms und das Rheinland, in: Kross, Siegfried (Hg.), Musikalische Rheinromantik. Bericht über die Jahrestagung 1985, Kassel 1989, S. 93–105.
Niemann, Walter, Brahms, Berlin 1920.
Ophüls, Gustav, Erinnerungen an Johannes Brahms. Ein Beitrag aus dem Kreise seiner rheinischen Freunde, Ebenhausen bei München 1983 [Erstdruck 1921].
Sandberger, Wolfgang, Bilder, Denkmäler, Konstruktionen – Johannes Brahms als Figur des kollektiven Gedächtnisses, in: Sandberger, Wolfgang (Hg.), Brahms Handbuch, Kassel 2009, S. 2-22.
Schubert, Friedrich, Johannes Brahms in Düsseldorf. Des Meisters Wertherzeit, in: Beilage der Düsseldorfer Nachrichten, Nr. 230, 7.5.1933.
Sträter, Nina, Der Bürger erhebt seine Stimme. Der Städtische Musikverein zu Düsseldorf und die bürgerliche Musikkultur im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2018.
Synofzik, Thomas, Brahms und Schumann, in: Sandberger, Wolfgang (Hg.), Brahms Handbuch, Kassel 2009, S. 63-75.
Tadday, Ulrich, Tendenzen der Brahms-Kritik im 19. Jahrhundert, in: Sandberger, Wolfgang (Hg.), Brahms Handbuch, Kassel 2009, S. 112-127.
- 1: Vgl. Synofzik, Brahms und Schumann, S. 64.
- 2: Vgl. Kross, Brahms und das Rheinland, S. 94-95.
- 3: Zitiert nach: Litzmann, Clara Schumann. Ein Künstlerleben, S. 280-281.
- 4: Vgl. Synofzik, Brahms und Schumann, S. 69.
- 5: Vgl. Synofzik, Brahms und Schumann, S. 65-66.
- 6: Die Konflikte der Zusammenarbeit zwischen den Düsseldorfer Musikern und Schumann werden anhand eines historischen Dokumentes ausführlich dargestellt in: Appel, Das Promemoria des Wilhelm Wortmann.
- 7: Vgl. Synofzik, Brahms und Schumann, S.63.
- 8: Vgl. Kross, Brahms und das Rheinland, S. 98; vgl. Synofzik, Brahms und Schumann, S. 67.
- 9: Schumann, Neue Bahnen, S. 185-186.
- 10: Tadday, Tendenzen, S. 116-118.
- 11: Vgl. Synofzik, Brahms und Schumann, S. 66.
- 12: Vgl. Tadday, Tendenzen, S. 115-116.
- 13: Vgl. Tadday, Tendenzen, S. 113.
- 14: Vgl. Sandberger, Bilder, Denkmäler, Konstruktionen, S. 13.
- 15: Vgl. Kross, Brahms und das Rheinland, S. 94.
- 16: Johann Verhulst (1816−1891), holländischer Geiger, Dirigent und Komponist, ein Freund Schumanns.
- 17: Brief Robert Schumann an Brahms, 20.3.1855, in: Litzmann, Clara Schumann Johannes Brahms Briefe, Band 1, S. 101-103.
- 18: Vgl. Synofzik, Brahms und Schumann, S. 67.
- 19: Brief Johannes Brahms an Joseph Joachim vom 25.4.1856, in: Moser, Johannes Brahms, S. 130-131.
- 20: Zitiert nach: Kalbeck, Johannes Brahms, Band 1, S. 170.
- 21: Zitiert nach: Kalbeck, Johannes Brahms, Band 1, S. 170.
- 22: Vgl. Synofzik, Brahms und Schumann, S. 71.
- 23: Vgl. beispielsweise Schubert, Johannes Brahms.
- 24: Vgl. Niemann, Brahms, S. 63-64.
- 25: Vgl. Korf, Johannes Brahms, S. 69.
- 26: Vgl. Sträter, Der Bürger erhebt seine Stimme, S. 162-163.
- 27: Vgl. Kalbeck, Johannes Brahms, Band 3, 1, S. 121.
- 28: Zitiert nach: Kalbeck, Johannes Brahms, Band 3, 1, S. 128-129.
- 29: Zitiert nach: Kalbeck, Johannes Brahms, Band 3, 2, S. 419.
- 30: Zitiert nach: Kalbeck, Johannes Brahms, Band 3, 1, S. 422.
- 31: Ophüls, Erinnerungen.
- 32: Vgl. Kross, Brahms und das Rheinland, S. 99.
- 33: Vgl. Kross, Brahms und das Rheinland, S. 104-105.
- 34: Vgl. Geck, Johannes Brahms, S. 140.
- 35: Vgl. Niemann, Brahms, S. 163.
- 36: Vgl. Geck, Johannes Brahms, S. 16.
Bitte geben Sie beim Zitieren dieses Beitrags die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Sträter, Nina, Johannes Brahms und das Rheinland, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/johannes-brahms-und-das-rheinland/DE-2086/lido/602cf334b3cb35.55756284 (abgerufen am 06.10.2024)