
Lebensreform und Zivilisationskritik um 1900. Das Barmer „Reformhaus Jungbrunnen“

Barmen (Alter Markt), Postkarte um 1900, Original im Stadtarchiv Wuppertal/ FS 5571. (gemeinfrei)
Zu den Kapiteln
Im Jahr 1900 eröffnete Karl August Heynen (gest. 1943) in der frühindustriellen „Boomtown“ Barmen (heute Stadt Wuppertal) in der Berliner Straße 16 das Reformhaus „Jungbrunnen“.[1] Sein Reformhaus stellte sich als innovative und lukrative Geschäftsidee heraus. Das Konzept sollte in den kommenden Jahrzehnten landesweit Erfolge feiern. Heute ist ‚Reformhaus‘ ein eingetragenes Markenzeichen für den genossenschaftlich organisierten Handel mit naturbelassenen Lebensmitteln und anderen Konsumgütern.[2]
Wegen des kommerziellen Erfolges ließ der Kaufmann seinem Barmer Laden schon in kürzester Zeit weitere Filialen in größeren Städten wie Kassel, Mönchengladbach, Magdeburg, Würzburg, Nürnberg, Freiburg und sogar in Straßburg folgen.[3] Verkauft wurde dort alles, was man damals als gesund für Körper und Seele ansah: pflanzliche Fette, Traubensäfte, Trockenfrüchte, Vollkornbrot, Öle für die Körperpflege, lockere Kleidungsstücke und vieles mehr. Ganz neu waren solche Läden damals nicht, gab es doch eine Reihe von Vorbildern noch vor der Jahrhundertwende, von denen sich etwa Carl Brauns (1858-1943) sogenannte ‚Gesundheitszentrale‘ in Berlin einen Namen machte als prosperierendes Einzelhandelsgeschäft mit alternativen Warenangeboten für ein bürgerliches Großstadtpublikum. Heynens „Reformhaus“ aber brachte die Sache auf den Kollektivbegriff für künftige Unternehmen: Ein exklusives Markenzeichen war damit in der Welt.[4] Der Begriff „Reformhaus“ folgte zunächst keiner klar abgegrenzten Definition. Erst die spätere „Vereinigung Deutscher Reformhäuser“ gab 1925 mit einem eigens dafür aufgelegten Flugblatt eine konkrete Begriffsbestimmung heraus. Danach war das „Reformhaus“ ein Ort, an dem Waren angeboten werden, die möglichst naturnah in Sachen Herkunft und Beschaffenheit sein sollten, nämlich Reformware.[5]

Barmen, Berliner Straße, Postkarte, Reproduktion aus Sammlung U. Marcus, undatiert. (Stadtarchiv Wuppertal/ FS 6384)
Reformhäuser schrieben in den folgenden Jahrzehnten Erfolgsgeschichte. Zwischen 1900 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs stieg ihre Zahl in Deutschland zunächst noch in bescheidenem Maße auf rund 80 Häuser, die sich im Wesentlichen auf die Großstädte im norddeutschen Raum konzentrierten. Ende der 1920er Jahre aber hatte dann fast jede dritte Stadt in Deutschland ein solches Reformhaus.[6] Bis 1925 existierten bereits rund 200 Geschäfte, die sich dann 1930 in der „Vereinigung Deutscher Reformhäuser (Neuform)“ als eine genossenschaftliche Organisationsstruktur zusammenschlossen und sich mit eigenem Label einen hohen Wiedererkennungswert gaben. Der Gründungsboom hielt auch während der NS-Zeit an, so dass 1939 über 2.000 Reformhäuser mit eingetragenem Warenzeichen am Markt waren. Die Tatsache, dass auch das NS-Regime offenbar Gefallen an der Reformhausbewegung fand und diese entsprechend förderte, führt zu einer Reihe von Fragen, die man mit deren eher selten erzählten Geschichte in Verbindung bringen kann: etwa nach den sozialen, ökonomischen und kulturellen Kontexten der Entstehung dieser Bewegung, ihrer Rolle im Kontext der sich herausbildenden modernen Konsumgesellschaft und nach der potenziellen Anschlussfähigkeit der Ideen von „Lebensreformern“ an antimoderne, völkische Ideologien und Bewegungen.

Werbung für das Reformhaus Karl August Heynen, Lütteringhauser Zeitung, 14.8.1903. (gemeinfrei)
1. Fortschrittsoptimismus in der Boomtown: Barmen um 1900
Zum Verständnis ihrer Entstehungsgeschichte lohnt ein Blick auf die Welt um 1900 im Allgemeinen und auf eine größere Stadt wie Barmen im Besonderen. Für Zeitgenossen aus bürgerlichen Milieus gab es im Fin de siécle eigentlich ausreichend Grund zum Optimismus. Die Industrienationen des Westens, die deutsche eingeschlossen, waren aufs Ganze gesehen wohlhabend geworden – eine Bilanz, die sich im Alltag spürbar abbildete. Wachstum und Fortschritt auf nahezu allen gesellschaftlichen Gebieten waren prägende Merkmale der Zeit. Dies äußerte sich etwa in der Produktivität der Industrie und der Wirtschaft insgesamt, der Größe der Städte, des dortigen Wohlstands, der urbanen Kultur oder auch der Streckenlänge des immer dichteren Eisenbahnnetzes. „Um 1900 lebte in Deutschland ein Viertel der Bevölkerung in Großstädten, die geprägt waren von technischen Bauwerken, lebhaftem Verkehr und ersten Filmvorführungen. Telegrafen verbanden die ganze Welt, Flüsse wurden begradigt, riesige Staudämme errichtet. Neue Erfindungen und Techniken versprachen nahezu täglich weitere spektakuläre Veränderungen, die auch den Umgang mit Natur und Umwelt betrafen.“[7] Viele Kommentatoren sahen in dieser Entwicklung einen geradezu unaufhaltsamen Siegeszug ‚des Fortschritts‘ in Wirtschaft, Wissenschaft, Technik oder Medizin. Die steigende Lebenserwartung galt dafür als ein überzeugendes Argument. Ehemals tödliche Krankheiten waren inzwischen heilbar, die Ursachen von Epidemien erforscht, Hungerkatastrophen, die noch zur Mitte des 19. Jahrhunderts den Kontinent erschütterten, längst Vergangenheit. Das lag nicht zuletzt auch an der Ernährung, die insgesamt abwechslungsreicher und schier unbegrenzt verfügbar schien. Wenn überhaupt − so machte künftig nicht mehr der Mangel krank, sondern der Überfluss – jedenfalls soweit man daran teilhaben konnte. Individuelle Lebensstile waren zumindest in der bürgerlichen Welt beinahe frei wählbar. Traditionelle Ordnungen und Sitten wurden lockerer, die Gesellschaft insgesamt mobiler.
Intensive Veränderungserfahrungen prägten also den urbanen Alltag der Menschen: rastlose Bautätigkeit, ständiger Lärm, pausenlose Bewegung, atemberaubendes Tempo und Beschleunigung. Die Herausforderungen im Urbanisierungsprozess waren ebenso gewaltig wie allgegenwärtig. Professionelle ‚Leistungsverwaltungen‘ mit Beamtenapparat und festangestellten Fachleuten kümmerten sich in den Rathäusern um das Gemeinwohl und die Daseinsvorsorge in den Kommunen. Öffentliche Hygieneeinrichtungen etwa sollten sicherstellen, dass die Menschen in den räumlich und personell verdichteten Städten gesund bleiben konnten. So vollzog man den Schritt vom Ordnen zum Planen: Die Instrumente moderner Städtetechnik zur Entwicklung von Infrastruktur[8] prägten den Prozess der Urbanisierung. Zeitgenossen nannten diese Interventionen in öffentlicher Regie „Municipalsozialismus“[9] .
Barmen, Heimatstadt von Friedrich Engels, kam dabei eine Pionierrolle im „Megaprozess“ der Urbanisierung zu.[10] Die Stadt zählte um die Jahrhundertwende zusammen mit dem benachbarten Elberfeld zu den stark wachsenden „Boomtowns“ in Preußen und im Deutschen Reich.[11] 1840 belegten Barmen und Elberfeld mit zusammen etwa 42.000 Einwohnern den sechsten Platz innerhalb der preußischen Gebiete. 25 Jahre später war dieser Agglomerationsraum mit nahezu 130.000 Menschen auf den dritten Platz hinter Berlin und Breslau im preußischen Städtevergleich vorgerückt. 1880 lebten in der Doppelstadt dann rund 190.000 Einwohner, was sie im Großstadt-Ranking des seit 1871 bestehenden Deutschen Kaiserreichs auf Platz sechs vorrücken ließ. Im Jahr 1900 unterschritt man nur knapp die Marke von 300.000. Das äußerte sich auf verschiedenen Ebenen der Stadtentwicklung, nicht zuletzt in einer schnell fortschreitenden Ausdifferenzierung des Einzelhandels. In den Innenstädten von Barmen und Elberfeld konzentrierten sich um die Jahrhundertwende eine kaum noch überschaubare Zahl von spezialisierten Fachgeschäften mit unterschiedlichsten Angeboten von Konsumgütern und Waren des alltäglichen Bedarfs. Dies war zugleich ein Reflex auf die langsame, aber stetige Steigerung der Realeinkommen der gesamten Bevölkerung einschließlich der Arbeiterschaft, die in Barmen (mit damals 142.000 Einwohnern) zu mehr als 50% von der Textilindustrie lebte.
Über die dortigen finanziellen Verhältnisse und den Lebensstandard um die Jahrhundertwende weiß man nicht zuletzt aufgrund der akribischen Aufzeichnungen von Heinrich Haacke bestens Bescheid. Haacke zählte zu den zahlreichen neuen kommunalen Beamten und war langjähriger Leiter des Statistischen Amtes der Stadt. Die bloße Existenz einer solchen Verwaltungseinheit verweist auf das Niveau qualitativer Urbanisierung und die Entwicklung vorausschauender Daseinsvorsorge. Das schlug sich auf verschiedenen Ebenen der neuen „Städtetechnik“ nieder, vor allem bei den modernen Hygieneeinrichtungen in kommunaler Regie. Dazu gehörten die Wasserversorgung (seit 1883), Kanalisation und Müllabfuhr (ab 1888), Straßenreinigung (ab 1906), Krankenanstalten (1912) sowie die zahlreichen, architektonisch aufwendigen Schulneubauten. Damit lag man weit vorn im Vergleich deutscher Großstädte. Dieses aktivierte System kommunaler Selbstverwaltung war vor allem Sache funktionaler bürgerlicher Eliten. Das wohlhabende Barmer Bürgertum dominierte unter den restriktiven Bedingungen des kommunalen Dreiklassenwahlrechtes und bestimmte exklusiv die Geschicke der Stadt. Eigentlich gab es also um die Jahrhundertwende tatsächlich gute Gründe, optimistisch in die Zukunft zu blicken. Die Vorstellung von der Beherrschung der Natur durch Wirtschaft und Technik verband sich mit einem schier unbegrenzten Fortschrittsglauben, und dessen Fixpunkte waren neben den Metropolen auch industrielle Großstädte wie Elberfeld oder Barmen.
2. Konsumgesellschaft und Krisenstimmung
Mit der Industrialisierung und Urbanisierung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts begann zugleich ein neues Zeitalter in Sachen Ernährung: Es etablierten sich die Konturen einer modernen Konsumgesellschaft als Übergang von der Mangel- zur Überflussgesellschaft. Ein Effekt der Urbanisierung war – wie am Barmer Beispiel gesehen – der Umstand, dass die Wachstumsraten des Klein- und Einzelhandels inzwischen diejenigen der Einwohnerzahlen weit übertrafen.[12] Daneben waren in den Städten vor allem die Wochenmärkte zentrale Ort der Lebensmittelversorgung des täglichen Bedarfs an Obst, Gemüse, Fleisch und Fisch. Elberfeld etwa unterhielt um die Jahrhundertwende vier große Plätze mit zahlreichen Einzelmärkten pro Woche, wo Naturerzeugnisse, Backwaren, zum Teil auch Kurzwaren verkauft wurden. Obwohl die traditionellen Formen der Selbstversorgung mit Obst und Gemüse aus eigenem Anbau im Zuge der Urbanisierung allmählich an Bedeutung verloren, waren weite Teile der Arbeiterschaft aber noch immer darauf angewiesen, möglichst ein kleines Stück Land an der Peripherie zu bewirtschaften, um angesichts karger Löhne über die Runden zu kommen. Verbesserte wirtschaftliche Konjunkturlagen im Kaiserreich wirkten sich allerdings auch auf den Lebensunterhalt von Arbeiter- und Handwerkerhaushalten aus und damit zugleich auf Konsumverhalten, Ernährungs- und Lebensstile. Bürgerliche Esskulturen strahlten allmählich in proletarische Milieus aus, wenngleich davon eher die Haushalte der qualifizierten Arbeiterschaft profitierten. Dagegen musste die große Zahl der Ungelernten in den Fabriken, die Tagelöhner, Gelegenheitsarbeiter und kleinen Handwerksgesellen weiterhin den Großteil ihrer Löhne für die Existenzsicherung aufwenden, während der Rest nicht selten für Tabak und Alkohol ausgegeben wurde.
Sogar eine Supermarktkette wurde kurz vor der Jahrhundertwende in Berlin gegründet: Edeka − als Akronym für ‚Einkaufsgenossenschaft der Kolonialwarenhändler‘. Dies folgte dem landesweiten Trend, dass immer mehr Kaufleute koloniale Produkte wie Kaffee, Tee, Zucker, Reis, Zigarren, exotische Früchte etc. anboten. Das Angebot richtete sich dabei zunächst an die Kundschaft aus der Mittelschicht, bevor Kolonialwaren klassenübergreifend alltäglich und damit Teil eines globalisierten Konsums wurden.

Reformhaus Eden in Neuwied nach dem Umbau, 1936. (Landeshauptarchiv Koblenz/ Best. 710 Nr. 6806)
Die Industrialisierung der Nahrungsmittel im Bereich von Produktion, Konservierung und Verteilung brachte jetzt den Vorteil saisonaler Unabhängigkeit und scheinbar unbegrenzter Verfügbarkeit. Die Konserve machte aus der Nahrungsmittelindustrie einen Wachstumszweig ersten Ranges. Massenproduktion von Lebensmitteln wurde allmählich zur Regel, aber zugleich zum Impulsgeber entsprechender Gegenbewegungen. Arbeiter schlossen sich häufig betriebsbezogen in sogenannten „Konsumvereinen“ zusammen, um den kollektiven Ein- und verbilligten Verkauf von Waren zu organisieren. Ein solcher bestand in Elberfeld schon seit 1860. Ein Entstehungsmotiv von „Konsumgenossenschaften“ war vor allem die Unzufriedenheit mit den Preisen und der Qualität von Waren, wie sie vom Einzelhandel verlangt und vorgehalten wurden. Hier traf der Wunsch, Geld zu sparen, auf die Bereitschaft zum politischen Engagement. Die proletarischen Genossenschaften verbanden weitergehende gesellschaftliche Ziele mit dem zukunftsorientierten Modellcharakter einer nichtkapitalistischen Wirtschaftsform. Konkurrenzfähig gegenüber dem Einzelhandel waren solche Verkaufsstellen allerdings nur mit Mühe; zu klein die Sortimente, zu kurz die Öffnungszeiten. Dennoch erlebten sie besonders in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg einen deutlichen Aufschwung. Die „Konsumgenossenschaft Vorwärts“ in Barmen etwa entstand 1899 zur Versorgung von zunächst 45 Gründungsfamilien. Fünf Jahre später hatte sie bereits über 3.800 Mitglieder, 1912 rund 14.000. Die Anlage in der Barmer Sedanstraße nahe dem Bahnhof Heubruch verfügte unter anderem über eine Brotfabrik mit unterirdischem Bahnanschluss. In der Versorgungskrise des Ersten Weltkriegs sollen dort bis zu 50.000 Brote täglich produziert worden sein. Als fusionierte Konsumgenossenschaft „Vorwärts-Befreiung“ zählte sie später mit mehr als 48.000 Mitgliedern und 800 Beschäftigten zu den größten in ganz Deutschland.[13] Und die Konsumgenossenschaften wirkten stilbildend. „Konsum“ wurde der neue Kurzbegriff, der sich parallel zum Erfolg der Genossenschaften im allgemeinen Sprachgebrauch einbürgerte. Bald schon wurde er auch zum Gegenstand wissenschaftlicher Analysen, spiegelten sich doch im Konsumverhalten als Konsumkultur zugleich gesellschaftliche Verhältnisse und Werthaltungen der Zeit.[14]
Fortschrittsoptimismus und Aufbruchsstimmung aber mussten sich nicht vollständig mit der gesellschaftlichen Realität decken, denn längst nicht alle sahen die Entwicklungen positiv. An den Rändern der bürgerlichen Gesellschaft formierte sich als Gegenbewegung eine zunächst überschaubare, aber dennoch wachsende Zahl von Skeptikern, selbsternannten Nonkonformisten, Lebensreformern, Großstadt- und Zivilisationskritikern. Diese oftmals bunte, auch exotische Schar von Individualisten, Utopisten und Künstlern in organisierten, zumeist gut vernetzten Gruppen, schien sich vor allem in der Überzeugung einig, dass Stadtluft längst nicht mehr frei, sondern krank mache. Das wollten sie ändern. Im laufenden Prozess von Industrialisierung und Urbanisierung mit den herausfordernden sozialen, ökologischen und psychischen Folgen sah man vor allem die Risiken für die Gesundheit von Körper und Geist. „Erfahrungen des Verlustes und der Beängstigung wuchsen sich um die Jahrhundertwende zu einer manifesten Orientierungskrise aus.“[15] Vor allem die Verwerfungen der Gesellschaft, soziale Not, Wohnungselend und krasse Gegensätze zwischen Arm und Reich, bildeten tatsächlich die Kehrseite der Fortschrittsmedaille. Die forcierte Klassenspaltung wurde dabei nicht nur von der aufstrebenden Arbeiterbewegung thematisiert, sondern auch von Vertretern des liberalen Bürgertums. Die Krisenstimmung, für die der Begriff „Fin de siècle“ (französisch: Ende des Jahrhunderts) geprägt wurde, wurde vor allem von den kulturellen Eliten des Bildungsbürgertums in prägnante Bilder und Worte gefasst. „Es gehörte zu den Paradoxien der Zeit, dass in einer Phase, als in Deutschland die kapitalistische Wirtschaft und die moderne Wissenschaft, mithin die hervorragenden Betätigungsfelder des Bürgertums eine nie gekannte Blüte erreichten, dieses Bürgertum in tiefe Selbstzweifel verfiel und zu den kulturellen Auswirkungen der eigenen Erfolge immer stärkere Distanz fand.“[16]
3. Die Lebensreformbewegung: Gesellschaftsveränderung durch Selbstoptimierung
Diese Distanzierung vom Fortschrittsparadigma und seinen Auswirkungen äußerte sich unter anderem in der „Lebensreformbewegung“, wo sich Naturheil- und Körperkulturbewegte, Nudisten, Kleidungsreformer, alternative Siedler, Gartenstadtprotagonisten, Ernährungsreformer, Vegetarier, Abstinenzler, jugendbewegte „Wandervögel“, bürgerliche Aussteiger und Exzentriker aller Couleur trafen, aber auch radikalisierte Impfgegner, konservative Heimatschützer, Esoteriker, Völkische und Antisemiten. Das Spektrum der Anhängerschaft war ebenso vielfältig, wie schwer überschaubar und widersprüchlich. Es versammelten sich Menschen, die der vermeintlichen spirituellen Leere und dem Materialismus der Zeit etwas entgegensetzen wollten. Die Anhänger der verschiedenen Strömungen mit ihren zahlreichen Querverbindungen formulierten dabei weniger die radikale Abkehr von einer technisierten Umwelt und materialistischen Gesellschaft, als vielmehr deren kontinuierliche Veränderung im Sinne einer naturnah erneuerten, ganzheitlichen Lebensweise: Gesellschaftsveränderung durch Selbstoptimierung; erst das Ich, dann das Wir. Das übergreifende Merkmal dieser heterogenen Bewegung mit fließenden Übergängen zwischen den Lagern ihrer Protagonisten war das offensiv reklamierte Ziel einer ganzheitlichen Gesellschaftsreform via Selbstreform und damit die Privatisierung der sozialen Frage.[17] In dieser Grundposition als Verbindung von Sozialutopien und Erlösungsphantasien unterschied sich die Lebensreformbewegung von anderen Reformbewegungen.[18]
Zu ihren Avantgardisten, die von ihren Gegnern auch als „Kohlrabi-Apostel“[19] verspottet wurden, zählten prominente bürgerliche Intellektuelle wie der Maler Karl Wilhelm Diefenbach (1851-1913) oder die Dichter Stefan George (1868-1933), Hermann Hesse (1877-1962), Franz Kafka (1883-1924) und Erich Mühsam (1878-1934). Andere bekannte Autoren publizierten seit 1903 – oft unter falschem Namen – in der Monatszeitschrift Die Schönheit des Schriftstellers und Verlegers Karl Vanselow (1877-1959), die aufwendig gestaltet nackten Körperkult für ein vorwiegend bürgerliches Publikum ins Bild setzte: Luftbadekostüme.[20] Ihre redaktionellen Themen drehten sich um Körperhygiene, Leibesübung und Freikörperkultur als eine Mischung aus Naturheilkunde, Gymnastik, Tanz, Spiritualität und völkischer Lehre. Ab 1915 driftete das Magazin mit dem Jugendstil-Titelblatt immer stärker ins rechte völkische Milieu ab, um schließlich (Volks-)Körperideale der sogenannten „Rassenhygiene“ zu normalisieren.[21]

Hauptsitz der Konsumgenossenschaft "Vorwärts-Befreiung", aus: Konsumgenossenschaft „Vorwärts-Befreiung“ eGmbH Wuppertal, um 1931, Foto: Emil Daurin-Sorani. (Stadtarchiv Wuppertal/ F3178/ CC BY-SA 4.0)
Im selben Jahr, als Karl August Heynen sein Barmer Reformhaus eröffnete, gründete eine illustre Gruppe aus Anarchisten, Vegetariern, Pazifisten, Nudisten und Zivilisationsflüchtenden auf dem Monte Veritá bei Ascona im Tessin eine Aussteigerkommune als Gegenwelt zum wilhelminischen Obrigkeitsstaat. Das exzentrische Kollektiv versammelte sich hinter dem Wahlspruch „Zurück zur Natur“ und irritierte das Publikum durch lange Bärte, naturbelassene Bekleidung, bewusste Verzichts- und demonstrative Freikörperkultur. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde dieser Pilgerort des alternativen Treibens dann von dem reichen Elberfelder Bankier, Kunstmäzen und späteren NSDAP-Mitglied Eduard von der Heydt (1882-1964) gekauft, der 1926 dort ein modernes Hotel im Bauhausstil errichten ließ. Dieses wurde zu einem beliebten Szene-Treffpunkt von Künstlern, Politikern und Prominenten.[22] Im Engagement des umstrittenen Kunstsammlers und Mäzens bildeten sich zugleich Schnittmengen zwischen Varianten der Lebensreform- und der völkisch-antisemitischen Bewegungen ab. Das „Zurück zur Natur“-Motiv ließ sich leicht in ein völkisches „Zurück zur deutschen Natur“ übersetzen und später vom Nationalsozialismus im Handumdrehen adaptieren. Kernideen der Lebensreformer stießen aber zugleich auf Resonanz in emanzipatorischen politischen Strömungen. Sozialdemokratische und gewerkschaftliche Gruppierungen etwa verfolgten dabei eher klassenbewusste, gesellschaftsverändernde Projekte. Auch wenn sie anfangs eher „Spielfeld einer avantgardistischen Minderheit“[23] waren, so erzielten die Reformgruppen dennoch eine Wirkung bis tief in die Gesellschaft.
4. Großstadtfeindschaft als Zivilisationskritik
Eines ihrer Merkmale war die inzwischen stark verbreitete Großstadtfeindschaft, welche sich mit einer eigentümlichen Agrarromantik verband, die das naturgebundene ländliche Leben gegenüber dem städtischen mit starken Bildern und Metaphern verherrlichte. Die Stadt wurde geradezu zum Fokus der zerstörerischen Kräfte von Rationalität, Abstraktion und Vermassung erklärt, während die Natur als prinzipiell sinnstiftende, jetzt aber in ihren Grundfesten bedrohte Instanz überhöht wurde. Die auf diesen Grundlagen entstehende Bewegung organisierte sich etwa im bildungsbürgerlichen „Bund Heimatschutz“, der 1904 von dem Musiker Ernst Rudorff (1840-1916) mitgegründet worden war und in der Folgezeit agrarromantische, völkische und antisemitische Ideen vertrat.[24] Dort gaben Leute wie der Maler und Architekt Paul Schultze-Naumburg (1869-1949) den Ton an, ein bekennender Antisemit und Rassist, der sich in voller Überzeugung später dem Nationalsozialismus anschloss. Das konnte nicht überraschen, war doch für die Bewegung der Heimatschützer die völkisch-nationalistische Perspektive zentral. Großstadtkritik verband sich hier mit der Verklärung einer agrarischen Welt der Bauern, des Dorfes und des Landes als positives Gegenstück zur vermeintlich degenerierten, urbanen Gesellschaft anonymer und entfremdeter Großstädte.
Diese Ideologie traf auf durchaus fruchtbaren Boden, war doch für viele Menschen um die Jahrhundertwende die Stadt lebendig und desillusionierend zugleich. Die sozialen und ökologischen Kosten von Industrialisierung und Urbanisierung sah man in der modernen Stadt verdichtet und mit allen Sinnen spürbar – zumindest dann, wenn man in den falschen Vierteln und Quartieren leben musste.[25] 1896 veröffentlichte der Publizist und bekennende Antisemit Theodor Fritsch (1852-1933) sein utopisches Buch Die Stadt der Zukunft und bezeichnete darin (Groß-)Städte als ungesunde Auswüchse der Civilisation, als Wasserköpfe und Pestbeulen der Kultur. Sogar Schweineställe der Kultur würden sie genannt und leider mit einem gewissen Recht.[26] Großstadtfeindschaft entsprang – offen oder verdeckt – aus zahllosen Quellen und kam besonders unverhüllt und wortgewaltig bei einigen prominenten Intellektuellen zum Ausdruck. Ludwig Klages (1872-1956) etwa, der Sohn von Stefan George, eine schillernde Figur der Münchener Bohème-Szene und ein Modephilosoph des späten Kaiserreiches, wurde in der Sache besonders deutlich: Die meisten Menschen seien in Großstädten zusammengesperrt und von Jugend auf an rauchende Schlote, Getöse des Straßenlärms und taghelle Nächte gewöhnt. Der Blick für die Schönheit der Landschaft sei ihnen verloren gegangen, denn sie wären schon beglückt, wenn in mageren Chausseebäumen einige Stare und Spatzen zwitschern. Die Zivilisation trägt die Züge entfesselter Mordsucht, und die Fülle der Erde verdorrt vor ihrem giftigen Anhauch. So sehen also die Früchte des Fortschritts aus.[27] Solche eindringlichen Worte und starken Metaphern in Sachen Zivilisationskritik konnte das Publikum in seinen Grußworten zum „Ersten Freideutschen Jugendtag“ 1913 hören und lesen.
In dieser Form von Großstadtkritik fanden sich vorweggenommene Varianten einer sozialbiologischen Theorie des Urbanisierungsprozesses, die auf die Opposition „kranke Stadt“ versus „gesundes Land“ hinaus liefen.28 Das Bild des „parasitären Städters“, der allein nicht überlebensfähig sei, wurde hier in griffige Formeln übersetzt: Die Stadt zehrt, das Land nährt. Das Dorf wurde beispielhaft auch von Gesellschaftstheoretikern unterschiedlichster Couleur – ob Friedrich Engels, Ferdinand Tönnies (1855-1936) oder Georg Simmel (1858-1918) – als idealtypischer Gegenentwurf zu den rasant wachsenden Agglomerationsräumen der Industriestädte und Metropolen thematisiert: „[…] als anheimelnder Gegenpol zum urbanen Moloch, […] als das idyllische Andere einer ungeliebten Moderne, deren Bedrohungen und Grausamkeiten gerade in den Großstädten offen zutage treten. […] Es scheint, als sei ihr Gegensatz fest im Quellcode der Moderne eingeschrieben.[28]
5. Lebensreform als „antimoderner Reflex“? Eine Debatte
Solche Diskurse waren Variante und Ausdruck einer kollektiven Stimmungslage um die Jahrhundertwende und bildeten den Kontext zur Deutung der Anziehungskraft alternativer Lebenszuschnitte und persönlicher Ausdrucksformen. Doch wie lässt sich das vermeintlich rätselhafte Stimmungstief der bürgerlichen Gesellschaft am Fin de Siècle ursächlich erklären? Der Historiker Joachim Radkau sieht einen Schlüssel dafür in der allgemeinen Nervosität, „die als Epidemie der Zeit empfunden wurde, und in den Naturheillehren, die um die Jahrhundertwende weit verbreitet waren.“[29] Der damals renommierte Neurologe Wilhelm Hils (Lebensdaten unbekannt) habe 1908 die „Nervosität‘“ der Stadtbewohner sogar zur neuen „Volkskrankheit“ erklärt. Nur so sei die rapide Zunahme an Nerven- und Naturheilstätten und der Aufschwung von einschlägigen Naturheilverfahren erklärbar. Radkau leitet daraus einen psychosozialen Zusammenhang von Natur- und Reformbewegungen ab. Die „nervöse Stadt“ (oder eher die wachsende Zahl der Neurastheniker in ihrem „nervenaufreibenden Getriebe“) seien zum Thema ihrer Protagonisten geworden, die damit zugleich im gesellschaftlichen Mainstream ankamen und nicht als vereinzelte Exoten oder „Spinner“ an dessen Rändern verkümmerten. Empfehlungen für individuelle Verhaltenskorrekturen schlugen durch bis in die höchsten Etagen der Gesellschaft und der funktionalen Eliten, wo selbst der Kaiser angeblich vom frühmorgendlichen Weintrinker zum strikten Antialkoholiker mutiert sei.[30]
Klaus Bergmann datiert den Beginn der antiurbanen Diskurse und entsprechender Bewegungen auf die 1890er Jahre.[31] Im Zentrum der Großstadtkritik der Lebensreformer stehe vor allem die kollektive Überforderung durch die neue „Unübersichtlichkeit der Großstädte“ als Aversion gegen den gefürchteten „Asphaltdschungel“. Ihre Reichweite sei aber insgesamt eher auf bildungsbürgerliche Milieus begrenzt geblieben.[32] Deren pessimistisch veränderte Stimmungslage lasse sich bis zu einem gewissen Grad mit dem Bedeutungsverlust gegenüber dem industriellen Großbürgertum erklären und den damit verbundenen Orientierungs- und Identitätskrisen. So verstärkte sich im beobachtbaren Prozess der Spezialisierung und Verwissenschaftlichung der Welt bei vielen Zeitgenossen ein Gefühl von Unsicherheit oder Unverständnis gegenüber der Anonymität verborgener, schwer durchschaubarer Entscheidungsstrukturen. Diese boten wiederum Stoff für Verschwörungsmythen und Erlösungsphantasien aller Art.
Die organisierte Arbeiterschaft entwickelte dagegen eigene Verbünde und Projekte, etwa die Naturfreundebewegung, die das „Naturerlebnis für alle“ mit Leitmotiven sozialer Gerechtigkeit, Solidarität und Kapitalismuskritik zu verbinden suchte und Mitte der 1920er Jahre die bürgerliche Heimatschutzbewegung an Mitgliederzahlen bei weitem übertraf.[33] Florentine Fritzen wiederum bezeichnet die ausgeprägte Konsumkritik und die Verzichtsforderungen auch der Reformhausbewegung insgesamt als „Luxusphänomen der entstehenden Wohlstandsgesellschaft.“[34] Dabei sei es weniger um Gegnerschaft zur Moderne gegangen, als um Selbstoptimierung und individuelle Wünsche nach einem anderen, einem besseren Leben.
Volker Weiß betont gegenüber Joachim Radkau, dass die alternativen Reformer insbesondere der völkischen Bewegung sehr nahegestanden hätten. Weiß beschreibt die Widersprüchlichkeit zwischen dem Bemühen, einerseits „das Gute im Menschen zum Vorschein zu bringen“ und andererseits der Nähe zu anti-emanzipatorischen Ideologien wie Rassismus, Frauenfeindlichkeit oder Antisemitismus.[35] Während der Covid-Pandemie stellte der Journalist Andreas Speit den Bezug zu den sogenannten „Querdenkern“ her und ordnete diese in den Kontext der langen Tradition eines „antimodernen Reflexes“ ein.[36] Als Kronzeugen dafür führt er unter anderem den Maler Hugo Höppner (1868-1948) an, der unter dem Pseudonym Fidus eine gewisse Berühmtheit erlangte und explizit völkischem Denken anhing. Höppner präsentierte gern seinen androgyn inszenierten, oft nur in Licht gekleideten Körper, mutierte zu einer Ikone der Jugendbewegung und zum Popstar der 1920er Jahre. Noch vor der Machtübertragung wurde Höppner Mitglied der NSDAP, ohne jedoch sonderlich Bedeutung in der Partei zu gewinnen.
Auch Radkau hebt insbesondere die Ambivalenz der Bewegung hervor und sieht diese kollektiv abgebildet in der oben zitierten Person des Ludwig Klages, der sich einerseits von jeder Form des Sozialdarwinismus distanziert habe, explizit pazifistisch aufgetreten und 1914 emigriert sei, dessen Schriften aber prall gefüllt seien mit antisemitischen Ressentiments.[37]

Eduard von der Heydt, Porträtfotografie, undatiert, Original im Stadtarchiv Wuppertal/ FS 1705, Foto: Erich Sellin. (gemeinfrei)
Das kam auch später bei den Nationalsozialisten gut an, wenngleich nicht auf ganzer Linie. Klages taugte offenbar nicht zweifelsfrei zum ideologischen Aushängeschild. So beschreibt Radkau die bunte Versammlung von Nonkonformisten und Systemabweichlern eher als eine Bewegung, die weder in der Gesellschaft des semifeudalen Kaiserreiches noch in anderen autoritären Strukturen ihre Fluchtpunkte gesucht und gefunden habe. Die Lebensreform sei „nicht das gänzlich andere der Moderne und auch keine reine Gegenwelt zur wilhelminischen Gesellschaft“ gewesen. Sie als insgesamt „reaktionär“ oder „antimodern“ zu bezeichnen, greife zu kurz. Im Selbstverständnis der Zeitgenossen erschien manch lebensreformerische Forderung durchaus progressiv als alternative Moderne und ihr völkischer Reflex in präfaschistischer Zeit noch nicht hinreichend durchschaut.[38]
Die Anschlussfähigkeit etwa der Reformhaus-Bewegung an den Nationalsozialismus lässt sich allerdings kaum übersehen, ist sie nicht zuletzt auch personengeschichtlich prominent dokumentiert. Einer ihrer publizistisch aktivsten Köpfe, der Lebensreformer und Publizist Werner Altpeter (1902-1985), war ab 1925 jahrzehntelang verantwortlicher Redakteur der ebenso programmatischen, wie auflagenstarken und kostenlos verteilten Zeitschrift „Das Reformhaus“ und deren Folgeorganen „Neuform-Rundschau“ sowie „Reform-Rundschau“. Altpeter trat 1937 in die NSDAP ein, nachdem er bereits früher durch antisemitische Schriften aufgefallen war, wurde Mitglied zahlreicher NS-Verbände, unter anderem der Deutschen Arbeitsfront (DAF) und veröffentlichte in den Kundenzeitschriften regelmäßig Themen und Thesen, die explizit der NS-Ideologie folgten.[39] 1939 beschrieb er programmatisch eine Zielperspektive: Alle Lebensreform hat im nationalsozialistischen Staat den Zweck, die Volksgesundheit und damit Wehrfähigkeit, Gebärfähigkeit und Leistungsfähigkeit zu steigern.[40]

Hygienisches Reformhaus, Werbeanzeige 1907, Koblenz, aus: Spezialadressbuch für Coblenz nebst Vor- und Nachbarorten, Coblenzer Volkszeitung (Hg.), Görres-Verlag, Koblenz Juli 1907, S. 65. (gemeinfrei)
6. Weltanschauung als Ware
Doch zurück nach Barmen, wo manche um die Jahrhundertwende behaupteten, in einer der gesündesten deutschen Großstädte zu leben.[41] In dieser Pionierstadt der Modernisierung entwickelten sich um die Jahrhundertwende merkantile Ansätze, die Konzepte von Widerständigkeit und Nonkonformismus im Projekt Lebensreform in Kommerzialisierung zu übersetzen, das heißt ein gesundheitsbewusstes Warenangebot zur individuellen Veränderung des urbanen Lebensstils für einen entstehenden Markt vorzuhalten. Karl August Heynens Reformhaus, dem er bald ein sogenanntes „Reform-Restaurant“ und ein Großhandelslager für „Reformwaren“, Gesundheitsartikel und alkoholfreie Getränke in Barmen zur Seite stellte, war einerseits Reaktion auf die Kritik an den humanen Kosten von Industrialisierung und Massenproduktion und ihrer Forderung nach grundsätzlicher Neuorientierung als Verzicht auf und Ersatz von Fleisch, Genussmitteln und Konserven durch frische pflanzliche Produkte, Rohkost und Vollkorn. Andererseits war es auch Ausdruck einer geschäftstüchtigen Spezialisierung im Einzelhandel und damit Variante einer entstehenden Konsumgesellschaft. Die Palette an Reformprodukten war inzwischen beachtlich: Hausen’s Kasseler Hafer-Kakao, Steinmetz-Brot, Mahr’s poröse Jungborn-Wäsche, Ozofluin – ein neues Bade-Ingredienz, Sanella Pflanzen-Margarine, getrocknete Bananen, Vegetarische Seife, alkoholfreie Weine Nektar, Dr. Lahmann’s Vegetabile Milch, Carl Braun’s Reformstiefel, Umbach’s Dampftöpfe und ähnliches.[42] Kaufleute und Dienstleister wie Heynen entwickelten aus dem kollektiven Bedürfnis nach Naturerleben, Gesundheit und entsprechender Kost eine lukrative Geschäftsidee. Reformhäuser versorgten die Kundschaft mit vielem, was sie dazu für nötig hielten: vom Fruchtkaffee, über die Nussbutter bis zur natürlichen Unterwäsche. Die potenzielle Kundschaft dafür war inzwischen zahlreich, auch wenn man in den proletarischen Milieus notgedrungen die von den Lebensreformern postulierte gesunde pflanzliche Ernährung eher als Selbstversorger mit dem eigenen kleinen Garten am Stadtrand realisierte. Dennoch war der Besuch eines Reformhauses künftig keine exklusiv bürgerliche Angelegenheit mehr. Mit der pragmatischen Transformation einer „säkularisierten Heilslehre“[43] in konsumierbare Produkte mit entsprechenden Läden, die zugleich Kommunikations- und Multiplikatoren-Funktionen übernahmen, wurde der exklusive Bezug auf die nonkonformistischen Milieus der bürgerlichen Lebensreformbewegung aufgelöst zugunsten einer Integration der Branche in die Alltagskultur der modernen Arbeiter- und Angestelltengesellschaft. Alternative Weltanschauung wurde zur (Reform)Ware.
Der Barmer Jungbrunnen, das namenstiftende Stammhaus aller Reformhäuser, hatte allerdings keine große Zukunft. Es wurde 1943 bei dem verheerenden Bombenangriff auf die Stadt völlig zerstört. Karl August Heynen und seine Frau kamen in den Flammen am neuen Standort ihres Hauses in der Schuchardstraße ums Leben.[44]
Idee und Konzept der genossenschaftlich organisierten Reformhäuser in Deutschland und Österreich, die noch heute als erfolgreiche Multiplikatoren gesunder Lebensstile und Ernährung gelten können, blieben weiterhin erfolgreich, wenngleich sich auch esoterisch orientierte Nachfahren ihrer lebensreformerischen Vorbilder gelegentlich dort einfinden.
Quellen
Adreßbuch der Stadt Barmen und der Gemeinde Lüttringhausen, Barmen 1913 [Online].
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Literatur
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Ladeneinrichtung des späteren Reformhauses Eden in der Engerserstraße in Neuwied, 1890. (Landeshauptarchiv Koblenz/ Best. 710 Nr. 6811)
- 1: Zur Sozial- und Urbanisierungsgeschichte vgl. v.a. Köllmann, Sozialgeschichte.
- 2: Adreßbuch der Stadt Barmen und der Gemeinde Lüttringhausen, Barmen 1913, S. 305 für Handel und Gewerbetreibende der Stadt Barmen sowie ebd., Teil II, S. 339.
- 3: Das Reformhaus Jungbrunnen wird erwähnt in Kraft und Schönheit. Zeitschrift für vernünftige Leibeszucht, Jg. 1903, Nr. 3, S. 29, zitiert nach Merta, Wege und Irrwege, S. 179; vgl. vor allem Fritzen, Gesünder leben, S. 46 sowie Altpeter, Geschichte, S. 12.
- 4: Krabbe, Lebensreform, S. 113.
- 5: Merta, Wege und Irrwege, S. 178f.
- 6: Fritzen, Gesünder leben, S. 48, 51.
- 7: Brüggemeier, Schranken der Natur, S. 154.
- 8: van Laak, Alles im Fluss, S. 2−5.
- 9: Zum Begriff. vgl. Vonde, Revier, S. 129f., sowie Krabbe, Munizipalsozialismus, S. 265f.
- 10: Zur Urbanisierung im Wuppertal vgl. Lenger, Stadt-Geschichten, S. 44–56.
- 11: Reulecke, Urbanisierung, S. 22−24.
- 12: Hirschfelder/Höchstetter, Konsum im Bergischen Land, S. 472.
- 13: STAW, J II 027, Konsumgenossenschaft Vorwärts; Förderverein Konsumgenossenschaft Vorwärts Münzstraße e.V. Wuppertal (Hg.), Mit uns zieht die neue Zeit. Konsumgenossenschaften im Rheinland 1900–1918, Wuppertal 2014.
- 14: Sigrist, Konsum, Kultur und Gesellschaft, S. 16f.
- 15: Ebd., S. 44.
- 16: Ebd.
- 17: Krabbe, Lebensreform, S. 171f.
- 18: Wedemeyer-Kolwe, Aufbruch, S. 20.
- 19: Albrecht, Vom Kohlrabi-Apostel, S. 107.
- 20: Wedemeyer-Kolwe, Der neue Mensch, S. 202.
- 21: Koerber, Freikörperkultur, S. 103−106.
- 22: Die Rolle des Kunstsammlers und Mäzens in der Zeit des Nationalsozialismus ist stark umstritten und war Untersuchungsgegenstand einer Reihe von Forschungsarbeiten, die hervorhoben, dass Eduard von der Heydt – trotz NS-Mitgliedschaft und undurchsichtiger Transaktionen als Vermittler zur Finanzierung von Nazi-Spionen in der Schweiz – eher den Typus des sogenannten Mitläufers und Opportunisten verkörperte als einen überzeugten Nationalsozialisten oder Antisemiten. Vgl. Welti, Francesco, Der Baron, die Kunst und das Nazigold, Stuttgart/Wien 2008; Illner, Eberhard (Hg.), Eduard von der Heydt. Kunstsammler, Bankier, Mäzen, München 2013.
- 23: Herbert, Geschichte, S. 54.
- 24: Brüggemeier, Schranken der Natur, S. 150.
- 25: Besonders eindringlich beschrieben in der klassischen Studie von Evans, Tod in Hamburg.
- 26: Fritsch, Theodor, Die Stadt der Zukunft, in: Gartenstadt 2 (1912), S. 2.
- 27: Klages, Ludwig, Mensch und Erde. Zehn Abhandlungen, Stuttgart 1956, S. 10, zitiert nach: Brüggemeier, Schranken der Natur, S. 153.
- 28: Höhne, Idiotie des Stadtlebens, S. 39f.
- 29: Radkau, Alternative Moderne, S. 16−21.
- 30: Ebd., S. 21.
- 31: Bergmann, Agrarromantik, S. 33f.
- 32: Ebd.
- 33: In Barmen existierten neben den mitgliederstarken Naturfreunden noch zahlreiche weitere Touristen-Vereine, wie der Barmer Wandervogel, oder der Rotter Arbeiter-Touristenverein, vgl. Adreßbuch der Stadt Barmen, S. 124.
- 34: Fritzen, Gesünder leben, S. 33.
- 35: Weiß, Zucht und Boden, S. 94−96.
- 36: Speit, Antimoderner Reflex, S. 183f.
- 37: Radkau, Verheißungen, S. 57; Radkau, Alternative Moderne, S. 19.
- 38: Radkau, Alternative Moderne, S. 21.
- 39: Vgl. dazu Fritzen, Gesünder leben, S.220−224.
- 40: zit. nach Fritzen, Gesünder leben, S. 224. Altpeter konnte nach 1945 seine Tätigkeit als Redakteur der Reform-Rundschau bis 1975 weitgehend unbehelligt fortsetzen.
- 41: Adressbuch der Stadt Barmen, S. 13; Reulecke, Textilregion, S. 91.
- 42: Nach einer Anzeigenseite der Zeitschrift Vegetarische Warte 1907, zit. nach Buchholz, Lebensreform, S. 45.
- 43: Krabbe, Lebensreform, S. 7.
- 44: Fritzen, Gesünder leben, S. 220.
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Vonde, Detlef, Lebensreform und Zivilisationskritik um 1900. Das Barmer „Reformhaus Jungbrunnen“, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/lebensreform-und-zivilisationskritik-um-1900.-das-barmer-reformhaus-jungbrunnen/DE-2086/lido/6825b998ddac86.64425846 (abgerufen am 15.07.2025)
Veröffentlicht am 22.05.2025