Nikolaus Cusanus - philosophische Grundgedanken

Susan Gottlöber (Maynooth)

Meister des Marienlebens, Nikolaus von Kues als Stifter auf dem spätgotischen Flügelaltar in der Kapelle des St. Nikolaus-Hospitals in Bernkastel-Kues, um 1460. (St. Nikolaus-Hospital/Cusanusstift, Bernkastel-Kues)

1. Einleitung

Woll­te man Per­son und Den­ken, die phi­lo­so­phi­schen, theo­lo­gi­schen und po­li­ti­schen Be­mü­hun­gen des deut­schen Kar­di­nal­s Ni­ko­laus von Ku­es un­ter ei­nen Nen­ner brin­gen, dann ist es wohl der ge­leb­te und ge­dach­te Ver­such von Ein­heit jen­seits al­ler Ge­gen­sät­ze, die­se je­doch nicht ne­gie­rend, son­dern um­fas­send. An der Schwel­le vom Mit­tel­al­ter zur Neu­zeit ste­hend, ver­mit­tel­te er zwi­schen dem über wei­te Stre­cken aris­to­te­lisch do­mi­nier­ten Den­ken des Spät­mit­tel­al­ters und dem Wie­der­er­star­ken der n­eu­pla­to­ni­schen ­Tra­di­ti­on in der Re­nais­sance. Da­mit war er zwei­fels­oh­ne ei­ne der Schlüs­sel­fi­gu­ren, die die­je­ni­gen Ver­schie­bun­gen in der ­An­thro­po­lo­gie in die We­ge lei­te­ten, die schlie­ß­lich im Hu­ma­nis­mus ­der ­Re­nais­sance ­mün­de­ten.

Sei­ne ak­ti­ven An­stren­gun­gen con­cor­d­an­tia um­ zei­gen sich un­ter an­de­rem in sei­nem Be­mü­hen um Ein­heit bei den ­Kon­zi­len in Ba­sel (1431-1449) und Fer­ra­ra-Flo­renz (1438-1442), ei­ne Spal­tung zwi­schen dem Kon­zil und dem Papst zu ver­hin­dern be­zie­hungs­wei­se ei­ne Uni­on mit der grie­chisch-or­tho­do­xen ­Kir­che zu er­rei­chen.

In ei­nem be­son­de­ren Ma­ße fin­det man im cu­sa­ni­schen Den­ken so­mit ei­ne be­stimm­te Qua­li­tät, die auch die Phi­lo­so­phie an­de­rer gro­ßer Den­ker aus­zeich­net: Nicht so sehr ein Neu­be­ginn als viel­mehr die ge­lun­ge­ne Syn­the­se ver­schie­de­ner Tra­di­tio­nen. Be­hält man zu­gleich die his­to­ri­schen Ent­wick­lun­gen mit im Blick, ge­winnt das Be­stre­ben, Dif­fe­renz als Aus­druck von Ein­heit in ein grö­ße­res Gan­zes zu in­te­grie­ren oh­ne da­bei die Al­te­ri­tät als spe­zi­el­les Cha­rak­te­ris­ti­kum des Fi­ni­ten ver­lo­ren ge­hen zu las­sen, nicht nur ei­ne phi­lo­so­phisch-theo­lo­gi­sche, son­dern auch akut po­li­ti­sche Re­le­vanz. Denn ob­wohl sich ein Gro­ß­teil der phi­lo­so­phisch-theo­lo­gi­schen Ar­bei­ten des Cu­sa­ners im hoch­spe­ku­la­ti­ven Be­reich be­wegt, ge­ben doch – ganz dem spä­te­ren Ide­al des Re­nais­sance­men­schen ent­spre­chend – prak­ti­sche Mo­ti­va­tio­nen den An­lass, sich mit dem Span­nungs­ver­hält­nis Ein­heit und Viel­heit, dem Ver­hält­nis Mensch-Kos­mos und Mensch-Gott zu be­fas­sen.

Sol­che Ver­schie­bun­gen ent­ste­hen auch geis­tes­ge­schicht­lich nicht im lee­ren Raum. Nicht nur ein­fluss­rei­che Theo­lo­gen wie Al­ber­tus Ma­gnus, son­dern un­ter an­de­rem auch ei­ner der Leh­rer des jun­gen Ni­ko­laus, Heyme­ri­cus de Cam­po (1395-1460), be­müh­ten sich um ei­ne Ver­söh­nung zwi­schen aris­to­te­li­schem und neu­pla­to­ni­schem Den­ken. Der zu­neh­men­de Ein­fluss des letz­te­ren er­hielt ei­nen we­sent­li­chen Schub durch die po­li­ti­schen Ent­wick­lun­gen. Das Ein­tref­fen by­zan­ti­ni­scher Ge­lehr­ter wie Bes­sa­ri­on (1403-1472) oder Ple­thon (1360-1452), in de­ren Tra­di­ti­on der Neu­pla­to­nis­mus schon im­mer die do­mi­nie­ren­de Rol­le ein­nahm (bis hin zu ei­ner aus­ge­nom­me­nen Aris­to­te­les-Feind­lich­keit), ver­stärk­te be­stimm­te Rich­tun­gen im west­li­chen Den­ken. Cu­sa­nus ka­na­li­sier­te al­so in vie­ler­lei Hin­sicht An­sät­ze  durch ei­nen ver­stärk­ten Fo­kus auf dia­lek­ti­sche Denk­struk­tu­ren – ein Wie­der­auf­le­ben Pla­tons, das den Gang der eu­ro­päi­schen Phi­lo­so­phie bis hin zu He­gel (1770-1831) ma­ß­geb­lich be­ein­flus­sen soll­te und sich bis in die Pro­zess­phi­lo­so­phie und -theo­lo­gie (zum Bei­spiel Al­fred North Whitehead, 1861-1947) wei­ter ver­fol­gen lässt.

Zu­rück zur prak­ti­schen Re­le­vanz der cu­sa­ni­schen Phi­lo­so­phie: Cu­sa­nus – der be­reits im in­ner­christ­li­chen Be­reich durch die Kon­flik­te zwi­schen Kon­zil und Papst be­zie­hungs­wei­se ei­nem letz­ten Ver­such ei­ner Öku­me­ne mit der Ost­kir­che, be­son­ders aber durch den Fall von Kon­stan­ti­no­pel er­schüt­tert, mit der Fra­ge ver­traut war, wie Plu­ra­li­tät in­klu­siv um­spannt wer­den konn­te – such­te auf phi­lo­so­phisch-theo­lo­gi­scher Ebe­ne ei­ne Ba­sis zu ent­wi­ckeln, die ei­nen fried­li­chen Dis­kurs der Re­li­gio­nen er­mög­lich­te, oh­ne die­se ih­rer Ein­zig­ar­tig­keit zu be­rau­ben. Das Er­geb­nis ist be­kannt: Sei­ne Schrift De pace fidei aus dem Jahr 1454 gilt bis heu­te als bahn­bre­chend und das dar­in ver­tre­te­ne Mot­to una re­li­gio in ri­tu­um va­rieta­te[1] als Vor­läu­fer der Les­sing­s­chen Ring­pa­ra­bel – al­ler­dings mit ei­nem ent­schei­den­den Un­ter­schied: Cu­sa­nus kann und will nicht auf den Wahr­heits­an­spruch des christ­li­chen Glau­bens ver­zich­ten: Sein An­satz ba­siert da­her we­sent­lich auf­ in­fi­ni­täts­spe­ku­la­ti­ven ­Über­le­gun­gen, Re­la­tio­na­li­tät und dem Zu­sam­men­füh­ren af­fir­ma­ti­ve­r­ un­d ­ne­ga­ti­ver Theo­lo­gie. Gott, Kos­mos, Mensch und das mensch­li­che Er­kennt­nis­ver­mö­gen wer­den da­her – trotz des es­sen­ti­el­len Un­ter­schie­des zwi­schen Gott und Schöp­fung – erst in ge­gen­sei­ti­ger Be­zo­gen­heit ver­ständ­lich.

2. Das cusanische Gottesbild: Innertrinitarische Relationalität

Die Ba­sis für sein re­la­tio­na­les Grund­ver­ständ­nis von Sein als Ein­heit in Ver­schie­den­heit fin­det Cu­sa­nus in der ­tri­ni­ta­ri­schen­Grund­struk­tur des vor­herr­schen­den christ­li­chen Got­tes­ver­ständ­nis­ses, wie er es schon in sei­nem ers­ten gro­ßen phi­lo­so­phi­schen Haupt­werk, der doc­ta igno­ran­tia, ent­wi­ckelt: Die Drei­ei­nig­keit von Gott-Va­ter, dem Sohn Je­sus Chris­tus und dem Hei­li­gen Geist ver­weis­t  in den Au­gen des Cu­sa­ners dar­auf, dass der Ge­dan­ke der Drei­heit in der Ein­heit we­sent­lich ist und so al­les über­steigt: Denn Ein­heit (unitas), Gleich­heit (ae­qua­li­tas) und Ver­knüp­fung (con­ne­xio) sind das­sel­be in der wah­ren und ur­sprüng­li­chen Be­deu­tung des Wor­tes: Die­ses, Das, Das­sel­be - unitas, idi­tas, iden­ti­tas; wo­bei

 

„[d]ie­ses Sel­be näm­lich, wel­ches Das ge­nannt wird, [...] auf das Ers­te be­zo­gen [wird]; was aber Das­sel­be ge­nannt wird, ver­knüpft und ver­bin­det das Be­zo­ge­ne zum Ers­ten.“ [2]. Nicht nur sind Va­ter und Sohn in ei­ner ge­mein­sa­men Na­tur mit­ein­an­der ver­bun­den, son­dern sie kön­nen auch als Ein­se­hen­des, Ein­sich­ti­ges und Ein­se­hen (in­tel­li­gens, in­tel­li­gi­bi­le und in­tel­li­ge­re) oder Un­ge­teilt­heit, Un­ter­schie­den­heit und Ver­knüp­fung (in­di­vi­sio, dis­cre­tio_ _und con­ne­xio) ge­le­sen wer­den. Da­her gilt: Gott ist als Va­ter oder Zeu­gen­der die Ein­heit, als Gleich­heit der Ein­heit ist er Ge­zeug­ter oder Sohn und als Ver­knüp­fung und Lie­be Hei­li­ger Geist [3]. Ob­wohl auch schon im Spät­mit­te­al­ter von Al­ber­tus Ma­gnus an­ge­dacht, ge­winnt das im Ei­nen ein­ge­schlos­se­ne Ver­hält­nis von Iden­ti­tät, Dif­fe­renz und ih­rer Re­la­ti­on im Cu­sa­ni­schen Den­ken noch ein­mal deut­lich an Re­le­vanz. Aus sei­nen frü­hen phi­lo­so­phisch-theo­lo­gi­schen Schrif­ten ge­winnt man da­bei zu­nächst den Ein­druck, dass Cu­sa­nus mein­te, Gott im Be­griff des Zu­sam­men­falls der Ge­gen­sät­ze, der ­fas­sen zu kön­nen. Cu­sa­nus’ Ar­gu­men­ta­ti­on zu­fol­ge ver­liert näm­lich das be­rühm­te aris­to­te­li­sche ter­ti­um non da­tur [4] im Un­end­li­chen sei­ne Gül­tig­keit. Die Me­tho­den spe­ku­la­ti­ver Ma­the­ma­tik und hy­po­the­ti­scher De­duk­ti­on nut­zend zeigt er so­wohl ei­ne Vor­gän­gig­keit der Iden­ti­tät vor der Dif­fe­renz als auch [5], wie das An­wach­sen ent­ge­gen­ge­setz­ter Ei­gen­hei­ten bis an die Gren­zen ih­res Ver­mö­gens de­ren kon­sti­tu­ti­ve Ein­heit er­ken­nen lässt: Das Grö­ß­te und das Kleins­te, die ins Un­end­li­che ge­dach­ten geo­me­tri­schen For­men von Kreis und Ge­ra­de ko­in­zi­die­ren auf­grund der ge­mein­sa­men Teil­ha­be am qua­le des In­fi­ni­ten; i.e. nicht, weil sie im Un­end­li­chen ih­re Iden­ti­tät ver­lie­ren, son­dern weil in der voll­kom­me­nen Ver­wirk­li­chung al­ler Mög­lich­kei­ten das Tren­nen­de auf­ge­ho­ben wird [6].
Cu­sa­nus fort­schrei­ten­de Über­le­gun­gen zu die­sem The­ma zei­gen, dass er sich der Wi­der­sprü­che auf lo­gisch-ra­tio­na­ler Ebe­ne, in die er sich ver­wi­ckeln muss­te (die ab­so­lu­te Wahr­heit ist auch für den _in­tel­lec­tus _nicht ein­seh­bar) durch­aus be­wusst war. Er sucht da­her in sei­nem Spät­werk sei­ne phi­lo­so­phisch-theo­lo­gi­schen Re­fle­xio­nen über die Na­tur Got­tes noch ein­mal im Be­griff des Nicht-An­de­ren, de­s non-ali­ud, zu er­fas­sen, in des­sen re­la­tio­na­lem Ver­wei­sung­s­cha­rak­ter des An­de­ren auf das Nicht-An­de­re sich die Re­la­ti­on selbst als Bild des Ab­so­lu­ten er­weist: Da­mit be­kommt der Kar­di­nal end­lich das Pro­blem zu fas­sen: zwar be­dient er sich im­mer noch ei­ner Spra­che , die we­sent­lich an den Be­dürf­nis­sen ei­ner ­Sub­stan­zon­to­lo­gie ­aus­ge­rich­tet ist, ver­mag es aber über den Ter­mi­nus non-ali­ud end­lich, den re­la­tio­na­len Ver­wei­sung­s­cha­rak­ter des An­de­ren auf das Nicht-An­de­re zu ver­ba­li­sie­ren und so­mit die Re­la­ti­on als Bild des Ab­so­lu­ten in ei­ner Be­griff­lich­keit ein­zu­fan­gen: Als um­fas­sen­de Ganz­heit, die Ne­ga­ti­vi­tät und Po­si­ti­vi­tät in sich ein­schlie­ßt, wird er zum Aus­druck ei­nes Got­tes, der auch die tran­szen­den­ta­le Be­din­gung jed­we­der Selbsti­den­ti­tät ist [7]. In ei­ner letz­ten Denk­be­we­gung wird da­mit auch die gött­li­che Schaf­fens­kraft als mo­vens für al­le Dif­fe­renz im Sei­en­den ent­fal­tet. Sie ist die Vor­aus-Set­zung für al­le al­te­ri­tas, die in der Welt aus­ge­fal­tet wird, wäh­rend Gott selbst al­les oh­ne An­ders­heit in sich ein­fal­tet [8]. Es ist die­ser ­Ko­in­zi­denz­ge­dan­ke, der als Kom­ple­men­tär­be­griff nur un­ter Zu­hil­fe­nah­me des ali­ud, nicht aber mit al­te­ri­tas ge­dacht wer­den kann, der „die Om­ni­po­ten­z Got­tes als ei­ne Ko­in­zi­denz von Mög­lich­keit und Wirk­lich­keit [er­läu­tert].“ [9].

Nikolaus von Kues beim Konzil von Basel, Gemälde, Original in der Kapelle des St. Nikolaus-Hospitals in Bernkastel-Kues, Foto: Erich Gutberlet. (St. Nikolaus-Hospital/Cusanusstift, Bernkastel-Kues)

 

3. Die cusanische Ontologie: Welt als Andersheit und endliche Unendlichkeit (infinitas finita)

Die­se re­la­tio­na­le Struk­tur als We­sens­be­stim­mung des ei­nen Got­tes über­trägt der Kar­di­nal nun auf sein Welt­bild und ent­wi­ckelt da­mit ei­ne re­la­tio­na­le On­to­lo­gie. Die ge­naue Be­stim­mung der on­to­lo­gi­schen Ebe­ne ist da­bei so­wohl für die Cu­sa­ni­sche ­An­thro­po­lo­gie als auch für sei­ne E­pis­te­mo­lo­gie­zen­tral: Zum ei­nen ist sie (als Welt) der Ort mensch­li­chen Da­seins, zum an­de­ren sind die on­to­lo­gi­schen Struk­tu­ren aber auch je­ne Vor­ga­ben, de­nen je­de Er­kennt­nis­be­we­gung, will sie nicht ih­re ei­ge­ne In­ten­ti­on, Wirk­lich­keit er­ken­nen zu wol­len, ad ab­sur­dum füh­ren, fol­gen muss. Da­mit re­agiert Cu­sa­nus si­mul­tan auf die Her­aus­for­de­run­gen, Er­kennt­nis- und Wirk­lich­keits­wahr­heit se­pa­rat zu ana­ly­sie­ren und den­noch in Re­la­ti­on zu set­zen – ei­ne Ar­beit, die nicht ge­lin­gen kann oh­ne ei­ne ge­naue Be­stim­mung grund­le­gen­der an­thro­po­lo­gi­scher Vor­ga­ben.

In­dem Cu­sa­nus Uni­ver­sum und Welt, die sich durch Dif­fe­renz und Plu­ra­li­tät aus­zeich­nen, in ei­ner vor­gän­gi­gen Ein­heit – Gott – wur­zeln lässt, ver­leiht er ih­nen so­wohl Le­gi­ti­mi­tät als auch Wert und um­geht so die aus der neu­pla­to­ni­schen Tra­di­ti­on stam­men­de Be­stim­mung welt­li­cher Viel­heit als ne­ga­tiv und der gött­li­chen Ein­heit ent­ge­gen­ste­hend: Als ge­schaf­fe­ne oder end­li­che Un­end­lich­keit,_ in­fi­ni­tas fi­ni­ta _ist das Uni­ver­sum der von der _in­fi­ni­tas in­fi­ni­ta _ab­stam­men­de Ort al­les Sei­en­den, das sich in der Welt nur über An­ders­heit und Ab­gren­zung zei­gen kann [10]. Zu­gleich be­stimmt Cu­sa­nus da­mit das Uni­ver­sum als ei­nes, das we­sent­lich schon im­mer Re­la­ti­on ist.

Nun kön­nen aber _ide­m _(als Das­sel­be) un­d _non-ide­m _nur dann be­stimmt wer­den, wenn sie in ir­gend­ei­ner Art auf­ein­an­der be­zo­gen sind. Die ers­te grund­le­gen­de Re­la­ti­on ist da­mit ei­ne on­to­lo­gi­sche, das hei­ßt die Din­ge ste­hen zu­ein­an­der in un­end­lich vie­len Seins­re­la­tio­nen. Welt als Aus­druck der von Gott ge­schaf­fe­nen un­end­li­chen Viel­heit, ent­puppt sich da­mit al­s ­mul­ti­funk­tio­na­les ­Re­la­ti­ons­ge­fü­ge. Si­mul­tan zeigt sich aber, dass auf­grund ih­rer Par­ti­zi­pa­ti­on an An­ders­heit (die _per de­fi­ni­tio­ne­m _eben­falls we­sent­lich das Sein von Welt be­stimmt) Nicht-Sel­bes und Sel­bes in ei­ner Ähn­lich­keits­re­la­ti­on [11] mit­ein­an­der ver­bun­den sind, die ge­nau­er als ei­ne on­to­lo­gi­sche Ähn­lich­keits­re­la­ti­on be­stimmt wer­den kann.

Die Seins­re­la­ti­on ist dem­zu­fol­ge Vor­aus­set­zung da­für, dass dem Men­schen als sei­en­dem Sub­jekt Welt und Le­bens­wirk­lich­keit in ih­rer Seins­wahr­heit, ih­rer quid­di­tas, er­fahr­bar wer­den, da sich so al­les auf ei­nen Ur­sprung zu­rück­füh­ren lässt.

Acta Concilii Basileensis, Cod. Cus. 166, fol. 1 recto, Original in der Bibliothek des St. Nikolaus-Hospitals Bernkastel-Kues, Foto: Erich Gutberlet. (St. Nikolaus-Hospital/Cusanusstift, Bernkastel-Kues)

 

Schon hier gilt al­ler­dings, dass man sich im­mer in der Welt de­s _ali­ud _be­zie­hungs­wei­se der al­te­ri­tas, nie in der de­s _ide­m _und der _iden­ti­tas _be­wegt, die ein Raum des Prä­zi­sen wä­re und dem­zu­fol­ge Sei­en­des be­tref­fend nur in der un­ge­schaf­fe­nen Un­end­lich­keit ak­tua­li­siert wird. Erst bei Gott sind die Din­ge all das, was sie wirk­lich sind in ih­rer prä­zi­sen Wahr­heit und kon­sti­tu­ti­ven Ge­ge­ben­heit. Das hei­ßt, je­de Krea­tur drückt ac­tua­li­ter in der Welt die ei­ge­ne Rea­li­tät ih­rer Po­tenz aus, i.e. die tä­ti­ge Kraft, die sich in ihr ma­ni­fes­tiert. Je­des An­de­re, ja je­der Ge­gen­satz­pol ver­hält sich da­mit im Cu­sa­ni­schen Re­la­ti­ons­ge­fü­ge mul­ti­funk­tio­nal und ver­liert so sei­nen ne­ga­ti­ven Cha­rak­ter, da al­les in die Kor­re­la­ti­vi­tät ding­über­grei­fen­der Be­züg­lich­kei­ten in­te­griert ist. Je­des Sei­en­de – nicht nur der Men­sch  – er­fährt in die­ser In­te­gra­ti­on ei­ne Öff­nung auf das Un­end­li­che hin. In die­ser strebt al­les Sei­en­de sei­ner ei­ge­nen Ver­voll­komm­nung ent­ge­gen, denn nichts in Welt hat al­le sei­ne Mög­lich­kei­ten aus­ge­schöpft und ganz zur Wirk­lich­keit ge­bracht. Viel­mehr ist es ein stän­di­ges Flie­ßen, ein Um­set­zen von ­Po­ten­z un­d Akt. Die Öff­nung ist al­so im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes (et­was ­an­thro­po­mor­ph ­ge­spro­chen) al­s _de­si­de­ri­um _zu ver­ste­hen: als die Sehn­sucht zur ei­ge­nen voll­kom­me­nen Wirk­lich­keit je­des ein­zel­nen Sei­en­den.

Er­neut müs­sen die­se cu­sa­ni­schen Be­trach­tun­gen welt­li­chen Da­seins vor dem Ho­ri­zont der christ­li­chen Vor­ga­ben be­trach­tet wer­den, da al­les, was ist, Gott sei­ne Rea­li­tät ver­dankt und zu­gleich den cu­sa­ni­schen in­fi­ni­täts­spe­ku­la­ti­ven Aus­sa­gen Sinn ver­leiht: Denn nur vor dem Ho­ri­zont, dass die Din­ge als wirk­lich und da­mit als wahr ge­dacht wer­den, ent­fal­tet auch die be­rühm­te cu­sa­ni­sche The­se der co­in­ci­den­tia op­po­si­to­rum, des Zu­sam­men­falls der Ge­gen­sät­ze im Un­end­li­chen ih­re gan­ze Sinn­haf­tig­keit: Die Ge­gen­sät­ze müs­sen sich als rea­le Ge­gen­sät­ze ge­gen­über­ste­hen, um ih­re vol­le Be­deu­tung zu ent­fal­ten.

Zu­gleich ge­winnt der Cu­sa­ner für das Uni­ver­sum al­s _ma­xi­mum contrac­tum _(grö­ßt­mög­li­che Ein­fal­tung) über sei­ne spe­zi­fisch aus der Geo­me­trie ge­won­nen in­fi­ni­täts­spe­ku­la­ti­ven Über­le­gun­gen (der Mit­tel­punkt ei­nes un­end­lich ge­dach­ten Krei­ses sei über­all) ei­nen Ab­so­lut­heits­wert je­des ein­zel­nen In­di­vi­du­ums, da die im End­li­chen prä­sen­te Im­ma­nenz des In­fi­ni­ten je­des Sei­en­de Mit­tel­punkt sein lässt: „Je­des We­sen ist als sol­ches un­end­lich wert­voll, ein­fach weil es ist.“ [12] .

Außenansicht des St. Nikolaus-Hospitals, Foto: Hans Neusius. (St. Nikolaus-Hospital/Cusanusstift, Bernkastel-Kues)

 

4. Das cusanische Menschenbild: Die Verhältnisbestimmung von ratio und intellectus als Wesensbestimmung des Menschen und seine erkenntnistheoretischen Konsequenzen

Ob­wohl das In­fi­ni­te über die ­com­pli­ca­tio-ex­pli­ca­tio-Be­zie­hun­gals Prin­zip al­lem Da­sein im­ma­nen­t ist, kommt dem Men­schen den­noch in­ner­halb der Schöp­fung ein Son­der­sta­tus zu, der so­wohl in der schöp­fe­ri­schen Qua­li­tät der ­men­s be­grün­det liegt als auch im in­tel­lec­tus, des­sen Vor­han­den­sein im mensch­li­chen Geist je­den Ein­zel­nen _ad hoc _in ein Ver­hält­nis zum Ab­so­lu­ten setzt: Zwar steht er eben­falls ne­ben an­de­ren Sei­en­den im welt­li­chen (im Un­end­li­chen ver­an­ker­ten) Re­la­ti­ons­ge­fü­ge. Aber durch das Ein­woh­nen de­s _in­tel­lec­tus _im Men­schen ist die mensch­li­che See­le der _al­te­ri­tas _über­le­gen, da der Mensch so ein Bild de­s _non-ali­ud _in sich trägt. Des­halb ver­mag er die Struk­tu­ren des Welt­ge­fü­ges zu über­bli­cken und sie ent­we­der in Er­kennt­nis­ak­ten, die das (Da)Sein ­be­tref­fen, oder aber in ei­ge­nen schöp­fe­ri­schen Ak­ten in­ Frei­heit­nach­zu­voll­zie­hen.

Es ist we­sens­be­stim­mend für den Men­schen, auf Wahr­heit aus­ge­rich­tet zu sein – und das zu­nächst nicht pri­mär al­lein auf der Er­kennt­nis­ebe­ne, son­dern auf der Seins­ebe­ne: Denn Gott als Ur­sprung ist auch die ab­so­lu­te Seins­wahr­heit, auf die al­les Sei­en­de hin­strebt. Al­so ist der Teil mensch­li­chen Seins, der we­sent­lich ver­nünf­tig ist, das Er­kennt­nis­stre­ben des Men­schen, eben nichts, was von Gott weg­führt, son­dern ei­ne wei­te­re Af­fir­ma­ti­on auf in­tel­lek­tua­ler und ra­tio­na­ler Ebe­ne. Wahr­heit ist dem Wahr­heits­stre­ben in die­sem An­satz be­reits in­hä­rent mit­ge­ge­ben und da­mit nichts, was erst und aus­schlie­ß­lich al­lein aus der Er­fah­rung ge­won­nen wer­den kann. Ver­nünf­ti­ges Er­ken­nen und Krea­ti­vi­tät sind dem Men­schen ge­mä­ße Ak­ti­vi­tä­ten – in ih­nen kommt der Mensch voll­kom­men zu sich selbst. Zu­gleich kann die­ses Vor­wärts­stre­ben zu sich selbst, das „Wer­de der du bis­t“ , nur über­ g­not­hi se­au­to­n – Er­ken­ne Dich selbst! – füh­ren. Die­ses ist aber ein Aus­rich­ten auf und ein Er­ken­nen­wol­len des ei­ge­nen Ur­sprungs – ei­ne sei­en­de und vor al­lem in­tel­lek­tua­le Rück­kehr zu dem­sel­ben. Bei­des – mensch­li­che Er­kennt­nis un­d  Krea­ti­vi­tät (die na­tür­lich nich­t ex ni­hi­lo, son­dern aus dem Ge­schaf­fen­sein her­aus er­folgt) – hat da­mit zu­gleich Gott und sich selbst zum Ziel.

Er­kennt­nis in und von Welt – al­so au­ßer­halb der ei­ge­nen mens ste­hend – hei­ßt al­ler­dings zu­nächst we­sent­lich Nach­voll­zug, An­glei­chung – eben Mut-Ma­ßung: co­niec­turs. Denn: Er­kenn­bar wer­den die Din­ge (die selbst stän­dig in Be­we­gung sind) erst da­durch, dass Nicht-Sel­bes und Sel­bes an der An­ders­heit par­ti­zi­pie­ren und so in der Ähn­lich­keits­re­la­ti­on mit­ein­an­der ver­bun­den sind: Nur so ist es mög­lich, über die Be­trach­tung ei­nes sei­en­den Ob­jek­tes Schlüs­se auf ein an­de­res zu zie­hen und sich so prin­zi­pi­ell der Wa­s­heit der Din­ge über ra­tio­na­le Er­kennt­nis­pro­zes­se an­zu­nä­hern. Dem­entspre­chend tref­fen wir in der Welt auch im epis­te­mi­schen Be­reich auf ei­ne Re­la­ti­ons­un­end­lich­keit, die wie­der­um zur Fol­ge hat, dass al­le Er­kennt­nis im­mer nur rück­be­züg­lich sein kann: ve­ri­tas im­pra­eci­sa: Din­ge kön­nen nur über den Akt des Mes­sens und da­mit im­mer nur in re­la­ti­ver Wahr­heit, al­so un­prä­zi­se er­fasst wer­den:
„Den­noch über­schrei­tet voll­kom­me­ne Ge­nau­ig­keit der Ver­bin­dun­gen in kör­per­li­chen Din­gen und ei­ne völ­lig ent­spre­chen­de An­pas­sung des Be­kann­ten an das Un­be­kann­te den mensch­li­chen Ver­stand so sehr, dass es So­kra­tes schien, er wis­se nichts, au­ßer, dass er nichts wis­se, wäh­rend der wei­se Sa­lo­mon ver­si­cher­te, dass al­le Din­ge schwie­rig und in der Spra­che nicht aus­drück­bar sei­en.“[13] .

Cu­sa­nus be­grün­det sein Ar­gu­ment mit der Nicht-Glei­chur­sprüng­lich­keit von Maß und ge­mes­se­nem Ob­jekt – die­se An­nah­me gilt auch dann, wenn der Mensch ver­sucht, sein eig­nes Sein der Ra­tio­na­li­tät zu­gäng­lich zu ma­chen. Der cu­sa­ni­schen Dia­lek­tik zu­fol­ge ist der er­ken­nen­de Mensch fä­hig, un­end­lich vie­le Be­zie­hun­gen auch noch im kleins­ten Teil des Uni­ver­sums zu ent­de­cken, aber die Wahr­heit der Sei­en­den „in ih­rer Rein­heit [bleibt] un­er­reich­bar“[14].

Der Cu­sa­ner ge­langt so zu dem Bild ei­nes grund­le­gen­den Re­la­ti­ons­ge­fü­ges als We­sens­be­stim­mung von Sein, Da­sein und Er­kennt­nis: In­dem sich Re­la­tio­na­li­tät als das tra­gen­de Mo­men­t  von (gött­li­cher) Wirk­lich­keit her­aus­kris­tal­li­siert (denn schon de­m _non-ali­ud _eig­ne­t _eo ip­so _Be­zo­gen­heit) zeigt sich, dass der su­chen­de Geist nicht nur im in­ner­welt­li­chen Be­reich, son­dern auch zum Ab­so­lu­ten im­mer nur in ver­mit­teln­den Abs­trak­ti­ons­pro­zes­sen vor­sto­ßen kann. In je­dem Fall bleibt die Viel­falt der Re­la­tio­nen für den Er­ken­nen­den un­er­schöpf­lich.

Die­se Über­le­gun­gen füh­ren Cu­sa­nus nun zu dem Pro­blem, wie das dis­kur­siv ar­bei­ten­de (und dem­zu­fol­ge Wi­der­sprü­che aus­schlie­ßen­de) ra­tio­na­le Den­ken sich den­noch dem Gött­li­chen, das sich hin­ter der Mau­er (so ein Aus­druck des Cu­sa­ners) der _co­in­ci­den­tia op­po­si­to­rum _ver­birgt, an­nä­hern kann. Die Lö­sung des Kar­di­nals fu­ßt we­sent­lich auf der scho­las­ti­schen Tra­di­ti­on und geht den­noch in der Fra­ge nach Er­kenn­bar­keit und We­sens­be­stim­mun­gen Got­tes ent­schei­dend über sie hin­aus: Das Er­kennt­nis­in­stru­ment für den Zu­sam­men­fall der Ge­gen­sät­ze (und da­mit die Wahr­heit Got­tes be­rüh­ren­de) ist das re­fle­xi­ve Er­kennt­nis­ver­mö­gen der Ver­nunft (in­tel­lec­tus), die als Grund­la­ge al­len ra­tio­na­len Er­ken­nens auf­ge­deckt und so zur Schalt­stel­le zwi­schen End­li­chem und Un­end­li­chem im Men­schen wird: In­dem der ei­gent­lich in Un­ter­schei­dun­gen ar­bei­ten­de Ver­stand (ra­tio) an die­sen Punkt ge­langt, ver­weist er auf sei­nen in der Ver­nunft wur­zeln­den gött­li­chen Ur­sprung und zu­gleich auf die Über­win­dung sei­ner ei­ge­nen Gren­zen. Im in­tel­lec­tus ruht auch die ei­gent­li­che Wahr­heits­be­zo­gen­heit des Men­schen, die, da sie al­len Men­schen eig­net, nicht im End­li­chen ent­stan­den sein kön­ne [15]. Mit die­sem Ins-Ver­hält­nis-set­zen als Pa­ra­me­ter für al­les Wis­sen-kön­nen ist der Mensch dem ra­tio­na­len Nach­voll­zug im­mer schon vor­aus. In ihm scheint die Fä­hig­keit auf, sich Gott im­mer ähn­li­cher zu ma­chen und da­mit mehr und mehr zu je­nem Ab­bild zu wer­den, das Un­end­lich­keit und Voll­kom­men­heit am bes­ten aus­drü­cken kann [16].

An die­ser Stel­le plat­ziert nun der Cu­sa­ner sei­ne Chris­to­lo­gie: Dass Chris­tus als in­kar­nier­ter lo­gos von der­sel­ben Na­tur ist wie der Va­ter wur­de be­reits ge­zeigt. Zu­gleich ist er aber „ganz Men­sch“ und steht da­mit in ei­ner Mitt­ler­funk­ti­on zwi­schen Gott dem Schöp­fer und der Schöp­fung: Der Mensch als das Ab­bild Got­tes in der Schöp­fung (und da­mit in der­sel­ben aus­ge­zeich­net) müss­te – der cu­sa­ni­schen ­Lo­gik­zu­fol­ge – in sei­ner Per­fek­ti­on mit dem Ur­bild selbst zu­sam­men­fal­len. Die­se Per­fek­ti­on des höchs­ten Sei­en­den (des Men­schen) ist für Cu­sa­nus mit der Ge­stalt Je­su Chris­ti his­to­ri­sche Wirk­lich­keit ge­wor­den. Da­mit kann der Cu­sa­ner trotz der un­glaub­li­chen Auf­wer­tung des Men­schen, die er in sei­nen phi­lo­so­phisch-theo­lo­gi­schen Über­le­gun­gen vor­nimmt (und die in der Wei­ter­ent­wick­lung der ­Re­nais­sance ­noch stär­ker wer­den soll­te) an der Not­wen­dig­keit der In­kar­na­ti­on für die Er­lö­sung des Men­schen fest­hal­ten. Wür­de die­se Ar­gu­men­ta­ti­ons­fi­gur feh­len, ge­rie­te die Theo­lo­gie des Cu­sa­ners zu leicht in die Nä­he Meis­ter Eck­harts, der in ei­ni­gen sei­ner deut­schen Pre­dig­ten an­deu­tet, dass durch die Ein­ge­bo­ren­heit des Got­tes­soh­nes in den un­ge­schaf­fe­nen Teil der See­le die Un­ter­schei­dung zwi­schen Mensch und Chris­tus in die­sem Zu­sam­men­fall (das hei­ßt in die­sem Teil der See­le) auf­ge­ho­ben sei [17].

Auch wehrt sich der Cu­sa­ner ge­gen mys­ti­sche Deu­tungs­wei­sen, die der _ra­ti­o _in Be­zug auf (Got­tes)er­kennt­nis jeg­li­chen Wert ab­spre­chen wol­len. Das kann schon in­so­fern nicht Ziel des cu­sa­ni­schen Den­kens sein, als es ihm ja ge­ra­de nicht auf das Ver­schwin­den der Ver­schie­den­heit an­kommt als viel­mehr dar­auf, die Af­fir­ma­ti­on des Ei­nen im Vie­len – und die­se wird im geis­ti­gen Be­reich we­sent­lich vom Ra­tio­na­len voll­zo­gen – auf­zu­wei­sen. Und so be­darf nicht nur der Ver­stand sei­ner Ver­wur­ze­lung in der Ver­nunft, son­dern auch die Ver­nunft, de­ren Teil­ha­be am Gött­li­chen im kon­kre­ten Voll­zug ih­rer syn­the­ti­schen Fä­hig­kei­ten ver­wirk­licht wird, des dia­lek­ti­schen Auf­stiegs durch die _ra­ti­o _und de­ren Ver­wen­dung von (ma­the­ma­ti­schen oder sprach­li­chen) Sym­bo­len, um zur vol­len Ent­fal­tung zu ge­lan­gen. Nach der Her­aus­for­de­rung ei­nes ­No­mi­na­lis­mus­ock­ham­scher Prä­gung be­deu­tet die cu­sa­ni­sche Her­an­ge­hens­wei­se für die ra­tio, dass ih­re Er­kennt­nis­se, die sich in Mut­ma­ßung und Mes­sen den Wahr­hei­ten der Din­ge an­nä­hern, im Rah­men des Re­la­ti­ven ih­re vol­le Gül­tig­keit be­hal­ten. Da­mit be­stimmt die­ser An­satz auch das Ver­hält­nis des Men­schen zu sei­ner Ra­tio­na­li­tät neu, da er ein Ver­trau­en in das ei­ge­ne Den­ken und sei­ne Leis­tun­gen. Denn nur über geis­ti­ge Re­fle­xi­on kann letzt­lich ein be­wuss­tes Be­ja­hen der ei­ge­nen Iden­ti­tät statt­fin­den, die sich aber ein­ge­baut und ge­hal­ten in ei­nem Re­la­ti­ons­ge­fü­ge, er­go ei­ner ihr vor­gän­gi­gen Wirk­lich­keit weiß. Die­se kann sie auf­grund der un­end­lich vie­len mög­li­chen Ver­bin­dun­gen zwar nicht er­schöp­fend er­fas­sen, wei­ß  sich aber in der Ge­wiss­heit stän­di­ger (auch in­tel­lek­tua­ler) Be­rüh­rung im­mer mit ihr ver­bun­den. Mit der An­nah­me ei­ner sol­chen Rea­li­tät ist sich der ­dia­lek­tisch­ar­bei­ten­de Ver­stand be­wusst, dass das Er­hal­ten sei­ner ei­ge­nen Re­la­tio­na­li­tät le­bens­not­wen­dig ist, um die Sta­bi­li­tät der ei­ge­nen Po­si­ti­on zu ge­währ­leis­ten – auch in­dem not­falls Kor­rek­tur­be­we­gun­gen vor­ge­nom­men wer­den.

Aus­druck die­ses ra­tio­na­len Er­kennt­nis­ver­mö­gens und Mög­lich­keit zur Kom­mu­ni­ka­ti­on ist die Spra­che. Aber bei Cu­sa­nus ist Spra­che nicht ein­fach nur ei­ne wei­te­re Ebe­ne, son­dern sie hat ih­re Ver­bin­dung zur Wirk­lich­keit, in­dem sie – ganz wie Hei­deg­ger es bei Par­men­ides deu­tet – „als das ent­ber­gen­de Wort den an­fäng­li­chen Be­zug des Seins zum Men­schen und da­mit erst den Be­zug des Men­schen zum Sei­en­den in­ne­hat.“ [18]. Spra­che ist da­mit der Aus­druck, der Denk­pro­zes­se in phä­no­me­nal wahr­nehm­ba­re Ge­ge­ben­hei­ten trans­po­niert und so­mit dem Men­schen sei­ne Wahr­neh­mung von Wirk­lich­keit be­wusst vor Au­gen führt. Nimmt man Cu­sa­nus in sei­ner Aus­sa­ge ernst, man sol­le sich nicht so sehr an sei­ne Wor­te klam­mern, son­dern viel­mehr ih­re Be­deu­tung als An­halts­punkt für wei­te­re Über­le­gun­gen neh­men, stö­ßt man ge­nau auf die Pro­ble­ma­tik der Ver­wei­sungs­dy­na­mik von Spra­che, die in die Re­fle­xi­on über­ ­re­la­tio­na­lon­to­lo­gi­sche Er­kennt­nis­mo­del­le ­mit ein­be­zo­gen wer­den muss. Cu­sa­nus plä­diert da­für, Spra­che in ih­rer le­ben­di­gen Me­dia­li­tät wahr­zu­neh­men und aus­zu­leuch­ten, um so auf die Wahr­heit ab­zu­zie­len, die „den Wör­tern, der Re­de oder den Wort­er­klä­run­gen und den sinn­li­chen Bil­dun­gen vor­aus­geh[t]“ [19]. Denn die­ses Cha­rak­te­ris­ti­kum der Spra­che als Trä­ger von Be­deu­tung er­klärt die un­be­ding­te Not­wen­dig­keit von Kom­mu­ni­ka­ti­on und den en­gen Zu­sam­men­hang mit dem Dis­kurs, der, von dis-cur­sus als das Hin- und Her­lau­fen ab­ge­lei­tet, erst über Re­la­tio­nen und re­gel­haf­te Be­zü­ge sei­ne Funk­ti­on er­hält [20]. Die so ein­ge­for­der­te Ver­knüp­fung von Aus­sa­gen, die wie­der­um nur vor dem Ho­ri­zont wei­te­rer Ver­knüp­fun­gen ver­ständ­lich wird, ist das Feld, auf dem Er­kennt­nis­aus­tausch über ver­schie­de­ne, in den Au­gen der sie äu­ßern­den Sub­jek­te wah­re Über­zeu­gun­gen be­zie­hungs­wei­se In­fra­ge­stel­lun­gen sol­cher wah­ren Über­zeu­gun­gen statt­fin­det. Er ist der vom Men­schen her­ge­stell­te Raum, in dem sich Viel­heit zeigt und er­eig­net und in dem sich in dia­lek­tisch ab­lau­fen­den, auf Aus­tausch be­ru­hen­den dy­na­mi­schen Er­kennt­nis­pro­zes­sen die Su­che nach der ei­ge­nen Iden­ti­tät im Rah­men von vor­ge­ge­be­ner Wirk­lich­keit voll­zieht.

Gra­phik Er­kennt­nis­mo­dell
Zu­gleich bleibt ein sol­ches Mo­dell aber on­to­lo­gisch ver­wur­zelt, das hei­ßt der Seins­zu­sam­men­hang, in dem sich der Mensch im­mer schon vor­fin­det, ist per se auch im­mer schon ein Sinn­zu­sam­men­hang – Sein ist gut und sinn­voll, weil es in ers­ter In­stanz von Gott ge­wollt ist. Noch ist es nicht der Mensch, der sei­ne Got­tes­bild­lich­keit so weit vor­an­ge­trie­ben hat, dass die Sinn­ga­be au­to­nom, das hei­ßt al­lein aus dem mensch­li­chen Kon­text her­aus vor­ge­nom­men ist – noch ist der Mensch nicht selbst Gott ge­wor­den wie Nietz­sche es in der „Fröh­li­chen Wis­sen­schaf­t“ pro­phe­zei­te. Den­noch wird in vie­ler­lei Hin­sicht ei­ne an­thro­po­lo­gi­sche Ver­schie­bung ein­ge­lei­tet: Denn der Mensch wird nun nicht mehr als fest­ste­hend im Welt­ge­fü­ge be­stimmt, son­dern als ein Sein, des­sen We­sen pri­mär die Su­che und Aus­rich­tung nach dem Un­end­li­chen ist. Es ist da­mit eo ip­so dy­na­misch an­ge­legt. Die da­zu not­wen­di­ge Fä­hig­keit zur Selbst­tran­szen­denz (die im­mer schon das Ver­lan­gen nach Voll­zug ein­schlie­ßt) aber liegt in der mens als ge­schaf­fe­ner Un­end­lich­keit mit der Be­ru­fung, selbst zu schaf­fen. Die Ver­wur­ze­lung im In­fi­ni­ten wird da­mit auch auf er­kennt­nis­theo­re­ti­scher Ebe­ne ab­ge­si­chert und be­stä­tigt. So­mit ist das cu­sa­ni­sche Prin­zip der Mut­ma­ßung ge­nau kei­ne skep­ti­sche Po­si­ti­on, son­dern ein „An­glei­chungs­stre­ben der mens hu­ma­na an das Wahr­heits­maß der mens di­vina“ [21].

Dass das mensch­li­che Fra­gen und Stre­ben nach Wis­sen ganz nach so­kra­ti­schem Vor­bild im­mer schon durch Wis­sen und Nicht­wis­sen ge­kenn­zeich­net ist (und so­mit me­tho­disch dia­lek­tisch und dia­lo­gisch ar­bei­tet), lässt Cu­sa­nus auch die Mög­lich­keit ei­ner ge­wuss­ten (i.e. als ge­si­chert wahr­ge­nom­me­nen) An­nä­he­rung an Wahr­heit – auch im (in­ter)re­li­giö­sen Kon­text: Der Les­sing­s­che Re­la­ti­vis­mus, in dem sich die bes­te Re­li­gi­on prak­tisch er­wei­sen muss, wä­re für den Cu­sa­ner we­der den­ke­risch ak­zep­ta­bel noch po­li­tisch er­folgs­ver­spre­chend ge­we­sen. Aber Cu­sa­nu­s  ver­mag es, die tra­di­tio­nel­len an­tik-christ­li­chen Vor­ga­ben, die das Ra­tio­na­le als end­li­ches, dia­lek­tisch und ana­ly­tisch ar­bei­ten­des Er­kennt­nis­ver­mö­gen im in­tui­tiv oder syn­the­tisch er­fas­sen­den In­tel­lek­tua­len (dem gött­li­chen lo­gos oder nous we­sens­ver­wand­ten) wur­zeln las­sen, wei­ter zu deu­ten: Mit sei­nen struk­tu­rel­len Zu­ord­nun­gen er­öff­net er ei­nen Spiel­raum, der für ver­schie­de­ne Ri­ten und gro­ßzü­gi­ge Aus­le­gun­gen als Aus­drucks­wei­sen des mensch­li­chen Stre­bens nach Wahr­heit Raum lässt, oh­ne sich von den ei­ge­nen Glau­bens­wahr­hei­ten zu ver­ab­schie­den. Da­mit weist er ar­gu­men­ta­tiv phi­lo­so­phi­sche und theo­lo­gi­sche Grund­sät­ze als mög­li­che Lö­sun­gen für die po­li­tisch-prak­ti­schen Her­aus­for­de­run­gen sei­ner Zeit aus.

Siglen

[de civ.] Au­gus­ti­nus, Der Got­tes­staat. De ci­vi­ta­te Dei (Au­re­li­us Au­gus­ti­nus' Wer­ke, Band 2), Pa­der­born 1979.[Me­ta­phy­sik] A­ris­to­te­les, M­e­ta­phy­sik.
[de int.]  Cu­sa­nus, Ni­ko­laus, De in­ter­pre­ta­tio­ne.
[de con.]  Cu­sa­nus, Ni­ko­laus, De co­niec­tu­ris, in: Ga­bri­el, Leo (Hg.), Phi­lo­so­phisch-Theo­lo­gi­sche Schrif­ten, Band 2, Wien 1966, S. 1-209.[doct. ign.]  Cu­sa­nus, Ni­ko­laus, De doc­ta igno­ran­tia, in: Ga­bri­el, Leo (Hg.), Phi­lo­so­phisch-Theo­lo­gi­sche Schrif­ten, Band 1, Wien 1964, S. 191-517.
[non-ali­ud]  Cu­sa­nus, Ni­ko­laus, De non-ali­ud, in: Ga­bri­el, Leo (Hg.), Phi­lo­so­phisch-Theo­lo­gi­sche­Schrif­ten, Band 2, Wien 1966, S. 443-565.
[pac. fid.]  Cu­sa­nus, Ni­ko­laus, De pace fidei, in: Ga­bri­el, Leo (Hg.), Phi­lo­so­phisch-Theo­lo­gi­sche Schrif­ten, Band 3, , S. 705-797.
[ven. sap.] Cu­sa­nus, Ni­ko­laus, De ve­na­tio­ne sa­pi­en­tiae, in: Ga­bri­el, Leo (Hg.), Phi­lo­so­phisch-Theo­lo­gi­sche Schrif­ten, Band 1, Wien 1964, S. 1-189.
[vis. De.]  Cu­sa­nus, Ni­ko­laus, De vi­sio­ne Dei, in: Ga­bri­el, Leo (Hg.), Phi­lo­so­phisch-Theo­lo­gi­sche Schrif­ten, Band 3, Wien 1967, S. 93-219.

Quellen

Au­gus­ti­nus, Der Got­tes­staat. De ci­vi­ta­te Dei, (Au­re­li­us Au­gus­ti­nus' Wer­ke, Band 2), Pa­der­born 1979.
Aris­to­te­les, M­e­ta­phy­sik.
Aris­to­te­les, De in­ter­pre­ta­tio­ne.

Literatur

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Bol­be­ritz 1989: Bol­be­ritz, Paul, Phi­lo­so­phi­scher Got­tes­be­griff bei Ni­ko­laus Cu­sa­nus in sei­nem Werk: „De non Ali­ud“, Leip­zig 1989.
Bre­de 1985: Bre­de, Rü­di­ger, Aus­sa­ge und Dis­cours. Un­ter­su­chun­gen zur Dis­cours-Theo­rie bei Mi­chel Fou­cault,, Frank­furt/Main 1985.
Cu­sa­nus, Ni­ko­laus, De co­niec­tu­ris, in: Ga­bri­el, Leo (Hg.), Phi­lo­so­phisch-Theo­lo­gi­sche Schrif­ten, Band 2, Wien 1966, S. 1-209.
Cu­sa­nus, Ni­ko­laus, De doc­ta igno­ran­tia, in: Ga­bri­el, Leo (Hg.), Phi­lo­so­phisch-Theo­lo­gi­sche Schrif­ten,  Band 1, Wien 1964, S. 191-517.
Cu­sa­nus, Ni­ko­laus, De non-ali­ud, in: Ga­bri­el, Leo (Hg.), Phi­lo­so­phisch-Theo­lo­gi­sche Schrif­ten, Band 2, Wien 1966, S. 443-565.
Cu­sa­nus, Ni­ko­laus, De pace fidei, in: Ga­bri­el, Leo (Hg.), Phi­lo­so­phisch-Theo­lo­gi­sche Schrif­ten, Band 3, S. 705-797.
Cu­sa­nus, Ni­ko­laus, De ve­na­tio­ne sa­pi­en­tiae, in: Ga­bri­el, Leo (Hg.), Phi­lo­so­phisch-Theo­lo­gi­sche Schrif­ten, Band 1, Wien 1964, S. 1-189.
Cu­sa­nus, Ni­ko­laus, De vi­sio­ne Dei, in: Ga­bri­el, Leo (Hg.), Phi­lo­so­phisch-Theo­lo­gi­sche Schrif­ten, Band 3, Wien 1967, S. 93-219.
Hei­deg­ger 1992 (1982): Hei­deg­ger, Mar­tin, Par­men­ides, Frank­furt/Main 1992 (1982).
Eck­hart 1958: Meis­ter Eck­hart, Pre­dig­ten, Nr. 1-24, Band 1 von Deut­sche Wer­ke, Stutt­gart 1958.
Roth 2000: Roth, Ul­li, Su­chen­de Ver­nunft. Der Glau­bens­be­griff des Ni­ko­laus Cu­sa­nus, Müns­ter 2000. 
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Schnei­der 1970: Schnei­der, Ger­hard, Gott – das Nichtan­de­re. Un­ter­su­chun­gen zum me­ta­phy­si­schen Grun­de bei Ni­ko­laus von Ku­es, Müns­ter 1970.
Thie­mel 2000: Thie­mel, Mar­kus, Co­in­ci­den­tia. Be­griff, Ide­en­ge­schich­te und Funk­ti­on bei Ni­ko­laus von Ku­es, Aa­chen 2000.

Bibliotheksraum des St. Nikolaus-Hospitals, Foto: Achim Bednorz. (St. Nikolaus-Hospital/Cusanusstift, Bernkastel-Kues)

 
Zitationshinweis

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Gottlöber, Susan, Nikolaus Cusanus - philosophische Grundgedanken, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/nikolaus-cusanus---philosophische-grundgedanken/DE-2086/lido/57d1225a917845.06989268 (abgerufen am 10.12.2024)