„Stalin wird einmal die Welt regieren“ - Sowjetunion-Bilder im Saarland nach der Volksabstimmung vom 13. Januar 1935
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1. Einleitung
Im Januar 1935 verfolgte die sowjetische Presse aufmerksam die Ereignisse im Saargebiet.[1] In der wichtigsten sowjetischen Zeitung Pravda („Wahrheit“) erschienen die Berichte der Korrespondenten aus Berlin und Paris, welche die Lage an der Saar vor und nach der Volksabstimmung beleuchteten. Der großen internationalen Bedeutung der Saarabstimmung bewusst, entsandte die Pravda zudem einen Reporter nach Saarbrücken.[2] In der Zeitung Izvestija („Nachrichten“) analysierte der berühmte bolschewistische Funktionär und Publizist Karl B. Radek (1885-1939) die Ergebnisse der Volksabstimmung und ihre möglichen Konsequenzen für das Saargebiet, für Deutschland und Europa. Pravda, Izvestija und Zeitungen aus der Provinz veröffentlichten im Januar 1935 Nachrichtenmeldungen der Telegrafenagentur der Sowjetunion (TASS) über die angespannte Situation an der Saar. Die TASS berief sich dabei auf die Informationen westlicher Nachrichtenagenturen (Havas, Reuters, Associated Press), auf Publikationen amerikanischer, englischer, deutscher (im „Dritten Reich“ und von deutschen Emigranten im Ausland herausgegebenen) und vor allem französischer sowie saarländischer (insbesondere der kommunistischen Arbeiter-Zeitung) Presseorgane.
Im Hinblick auf die Saarabstimmung bezog die UdSSR eine klare Position: Sowohl die Vereinigung des Saargebiets mit Frankreich als auch seine Rückkehr zu Deutschland wurden entschlossen abgelehnt. Man stellte den deutschen Charakter des Saargebietes und die deutsche Identität seiner Bevölkerung zwar nicht in Frage, bevorzugte jedoch angesichts der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland die Status-Quo-Lösung, den Verbleib des Saargebietes unter der Verwaltung des Völkerbundes[3], und einen „späteren Anschluss an ein freies Deutschland“.[4] Die antifaschistische Bewegung an der Saar – in erster Linie die „Einheitsfront“ der Kommunisten und Sozialdemokraten, die sich für diese Lösung im Saarkampf einsetzten – genoss die massive Unterstützung der bolschewistischen Propaganda.[5]
Unmittelbar nach dem 13. Januar betonte die Pravda, dass es keine demokratische und freie Volksabstimmung an der Saar gegeben habe. Unter dem Deckmantel einer Volksabstimmung habe sich dort eine dramatische Farce abgespielt. Um das Saargebiet „heim ins Reich“ zu holen, habe die von den Nationalsozialisten dominierte „Deutsche Front“ die Saareinwohner systematisch betrogen, schikaniert und eingeschüchtert. Man habe gegen die Kommunisten, Sozialdemokraten und weitere Antifaschisten Gewalt eingesetzt. Unter diesen Umständen hätten die Nationalsozialisten ihr Traumergebnis erreichen können: Mehr als 90 Prozent der Stimmberechtigten unterstützten die Vereinigung mit Deutschland. In der UdSSR war man sich einer deutlichen Zustimmung für die „deutsche Lösung“ bewusst und nahm den Sieg des „deutschen Kapitalismus“ über die „saarländischen Bergleute“ am 13.1.1935 daher eher gelassen zum Kenntnis. Es wurde behauptet, dass die Saarbewohner ihre Stimmen für Deutschland und nicht für die nationalsozialistische Diktatur abgegeben hätten.
Im Bezug auf die bevorstehende Eingliederung des Saargebietes ins „Dritte Reich“ rechnete die sowjetische Propaganda mit der sich schon in der zweiten Januarhälfte abzeichnenden Auswanderung der antifaschistisch eingestellten Bevölkerung mit der Verschärfung der Unterdrückung von Werktätigen und mit brutalen Repressionen gegen Kommunisten und andere Gegner des Faschismus. Gleichzeitig pries man die „heldenhafte“ KPD, die ihren „selbstlosen“ Kampf für die kommunistische Zukunft des Saargebietes und Deutschlands trotz des faschistischen Terrors fortsetzten würde.
In der zweiten Januarhälfte 1935 vertrat Moskau die Ansicht, dass die Saarabstimmung keinen Beitrag zum Frieden in Europa geleistet und vielmehr Berlins revanchistische Ambitionen befeuert habe. Die sowjetische Presse informierte ihre Leser und Leserinnen über die zurückhaltenden Reaktionen auf die Volksabstimmung in Frankreich und in weiteren westlichen Ländern, über den frenetischen Übel in Deutschland und über eine besorgte Stimmung in Österreich und Polen, wo man die Revision der existierenden Grenzen befürchtete.
In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre spielte das Saarland keine bemerkenswerte Rolle in der sowjetischen Propaganda, welche sich vor dem Hitler-Stalin-Pakt auf den antifaschistischen Kampf der KPD konzentrierte und einen baldigen unausweichlichen Zusammenbruch der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft sowie die kommunistische Zukunft Deutschlands behauptete. Im Kontext dieser Propaganda muss auch das in Moskau kurz nach der Saarabstimmung herausgegebene Buch „Hubert im Wunderland“ der deutschen kommunistischen Schriftstellerin Maria Osten (1908-1942) betrachtet werden. In diesem Buch erzählte Osten die Geschichte ihres Pflegekindes, deutschen Jungpioniers Hubert L’Hoste (1923–1958), den sie – zusammen mit ihrem Lebenspartner, dem berühmten Pravda-Reporter Michail E. Kol’cov (1898-1940) – aus der saarländischen Gemeinde Oberlinxweiler nach Moskau brachte und somit vom Faschismus rettete. In der „roten Hauptstadt“ der Sowjetunion habe Hubert das glückliche Leben eines sowjetischen Jugendlichen führen können. Das Buch und das Brettspiel für Kinder und Jugendliche „Von der Saar nach Moskau“ machte den jungen Hubert in der ganzen Sowjetunion bekannt.
Während Hubert L’Hoste Mitte der 1930er Jahre von der kommunistischen Propaganda instrumentalisiert und zum Symbol der „glücklichen Kindheit“ in der Sowjetunion stilisiert wurde, saß sein Onkel mütterlicherseits, der ehemalige kommunistische Gemeindeabgeordneter in Oberlinxweiler, Karl Sch., im November 1935 in Untersuchungshaft in Saarbrücken. Der 42-jährige pensionierte Eisenbahner und Inhaber eines Vermittlungsbüros in Frankfurt am Main wurde beschuldigt, in einer Saarbrücker Wirtschaft angetrunken „kommunistische Reden“ gehalten, dabei das „einzig richtige“ Herrschaftssystem in der UdSSR gelobt und die kommunistische Weltherrschaft sowie ein „rotes Deutschland“ spätestens in 20 Jahren beschworen zu haben. Am 19.5.1936 wurde er zu fünfeinhalb Monaten Gefängnisstrafe verurteilt. Die Justizakten aus dem Saarland der zweiten Hälfte der 1930er Jahre zeigen, dass an der Saar vor dem Hitler-Stalin-Pakt trotz der radikalen antisowjetischen Propaganda der Nationalsozialisten unterschiedliche – manchmal wie bei dem erwähnten Kommunisten Sch. – sehr positive Vorstellungen über die UdSSR im Umlauf waren.
Diese in der Forschung bislang nicht systematisch untersuchten Sowjetunion-Bilder stehen im Mittelpunkt dieser Fallstudie, die sich in erster Linie auf Justizakten stützt. Diese Quellen und ihre Besonderheiten werden im ersten Teil des Beitrages zusammenfassend charakterisiert. Anschließend wird auf die Faktoren eingegangen, welche die Entwicklung der Sowjetunion-Bilder im Saarland der 1930er Jahre prägten. Im zweiten Teil werden die im Saarland verbreiteten Vorstellungen über die UdSSR ausführlich analysiert.
2. Justizakten und ihre Besonderheiten
Der sowjetische Historiker Iosif M. Lemin (1898-1968) wies 1934 in einer umfangreichen Abhandlung über die Kriegspropaganda in Japan und Deutschland auf die im „Dritten Reich“ staatlich geförderte Denunziation hin. Die Denunziationen, die Lemin scharf verurteilte und die auch in der UdSSR tatsächlich vorhanden und somit für die sowjetischen Leser und Leserinnen keinesfalls überraschend sein sollten, galten zurecht als ein wesentliches Merkmal der nationalsozialistischen Herrschaftspraxis. In einer totalitären Diktatur konnte eine unvorsichtige Bemerkung auf der Straße, in einer Gastwirtschaft oder unter Kollegen das Leben einer Person dramatisch verändern. Die Ermittlungs- und Strafprozessakten aus dem Saarland der zweiten Hälfte der 1930er Jahre veranschaulichen diese Tendenz: Von ihren Mitbürger und Mitbürgerinnen denunzierte Saarländer und Saarländerinnen, die – oft unter dem Einfluss von Alkohol – über Adolf Hitler und weitere hochrangige Staats- und Parteifunktionäre hergezogen, die Regierungspolitik gegeißelt oder mit Juden, der Sowjetunion und anderen Feinden des Nationalsozialismus sympathisiert hatten, wurden festgenommen, wegen eines Vergehens gegen das Gesetz vom 20.12.1934 gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen (Heimtückegesetz) angeklagt und zu einer mehrmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt. Die Ermittler und Richter, welche das Schicksal betroffener Menschen besiegelten, verfügten über einen beträchtlichen Freiraum: Die Person des „Täters“, der Charakter und die Umstände seines Vergehens beeinflussten das Strafmaß.
Bei der „Entlarvung“ und Bekämpfung von Regimegegnern konnten die Gestapo und die nationalsozialistische Justiz auf rachsüchtige Menschen und profitgierige Opportunisten, die sich auf Kosten ihrer Mitbürger und Mitbürgerinnen profilieren wollten, sowie insbesondere auf glühende Nationalsozialisten wie zum Beispiel auf Hans Jo. aus Saarbrücken zählen. Im Frühjahr 1937 verwickelte der Fahrgast Jo. den Straßenbahnführer Karl P. in eine Diskussion über den Bürgerkrieg in Spanien. Im Gespräch gewann Jo. den Eindruck, dass P., der einen Sender aus der Schweiz hörte, „bestellte Sowjetarbeit verrichte“. Der Straßenbahnführer hatte Glück: Das Verfahren gegen ihn wurde aus unbekannten Gründen eingestellt. Das erwähnte Beispiel zeigt, dass die Glaubwürdigkeit von Justizakten nationalsozialistischer Provenienz kritisch hinterfragt und dieser Quellenkomplex sorgfältig analysiert werden muss. Angesichts dieser Besonderheit werden die Ermittlungs- und Strafprozessakten in der vorliegenden Untersuchung als Quellen betrachtet, die zwar nicht immer die tatsächlich stattgefundenen Vorkommnisse korrekt widerspiegeln, jedoch in der Gesellschaft verbreitete Vorstellungen und Entwicklungen veranschaulichen.
3. Einflussfaktoren
Nach der Oktoberrevolution in Russland 1917 setzten sich zahlreiche westliche kommunistische und antisowjetisch eingestellte Autoren mit dem bolschewistischen Experiment auseinander. Die ambivalente Entwicklung der UdSSR und die Innen- und Außenpolitik der sowjetischen Führung wurden in der im Saargebiet verbreiteten internationalen und auch lokalen Presse kontrovers diskutiert. Die nationalsozialistische Propaganda warnte vorm „jüdischen Bolschewismus“, der die Sowjetunion verwüstet habe und nach der Weltherrschaft strebe. Hingegen stellten die Kommunisten die UdSSR in ihrer Druck- und Mundpropaganda als blühenden „Arbeiter- und Bauernstaat“ dar, in dem das Klassensystem abgeschafft worden sei und die Werktätigen ein würdiges wohlhabendes und fröhliches Leben führen würden. Anhand dieser widersprüchlichen und oft verzerrten Berichterstattung konstruierten die Einwohner des Saargebietes ihre Vorstellungen über das fremde Land. Ihre Sowjetunion-Bilder wurden darüber hinaus durch Berichte russischer Emigranten und einzelner Reichsdeutscher beeinflusst, welche sich an der Saar niedergelassen beziehungsweise die UdSSR besucht hatte. Man kann zudem davon ausgehen, dass die im späteren Kaiserreich – vor allem während des Ersten Weltkriegs – vorangetriebene diffamierende antirussische Propaganda ihre Spuren auch im Saargebiet hinterlassen hat.
4. Russen an der Saar
Hitlers „Machtergreifung“ am 30.1.1933 führte zu einer radikalen Verschlechterung der deutsch-sowjetischen Beziehungen. Während die sowjetische Geheimpolizei NKVD nach tatsächlichen und angeblichen deutschen Spionen und Agenten in der UdSSR suchte und sich dabei insbesondere mit den Russlanddeutschen beschäftigte, erfasste die Gestapo die russischen Emigranten beziehungsweise „sowjetrussischen Staatsangehörigen“ im „Dritten Reich“ und registrierte insbesondere ihre „Rassenzugehörigkeit“.
Im saarländischen Amtsbezirk Merzig-Land geriet Ende 1936 auf diese Weise Michael Ja. aus der Gemeinde Bachem ins Blickfeld der Staatspolizeistelle Saarbrücken. Der 1899 in der Ukraine geborene russisch-orthodox getaufte Landwirt und spätere Fabrikarbeiter Ja. war im Ersten Weltkrieg in die zaristische Armee einberufen und von der kaiserlichen Armee gefangen genommen worden. Der junge Soldat gehörte zu einem aus russischen Kriegsgefangenen zusammengestellten Arbeitskommando, das nach Bachem gebracht worden war. In dieser Gemeinde hatte sich Ja. eine neue Existenz aufgebaut. Mit der Saarländerin Anna Sch. verheiratet, blieb er lange Zeit staatenlos und stellte nach der Saarabstimmung einen Einbürgerungsantrag. Seine Einbürgerung verzögerte sich trotz seiner nichtjüdischen Herkunft. Erst Mitte Juli 1939 – kurz vor dem Hitler-Stalin-Pakt – wurde Ja. „in den deutschen Staatsverband eingebürgert“, wobei der Amtsbürgermeister von Merzig-Land zufrieden feststellen konnte, dass es in seinem Amtsbezirk „keine Ausländer mehr“ gebe. Nach mehreren Jahren an der Saar schien Ja. seine Bindung an die alte Heimat verloren zu haben. Die Oktoberrevolution und die Etablierung der bolschewistischen Herrschaft dort hatte er schon nicht mehr erlebt.
Im Gegensatz zu Ja. hatten die ehemaligen Bürger des Zarenreiches B., G. und M. am russischen Bürgerkrieg teilgenommen, Russland erst nach der Niederlage der antibolschewistischen „weißen Bewegung“ verlassen und sich in Güdingen in der Nähe von Saarbrücken angesiedelt. Auch an der Saar sind sie glücklich nicht geworden: Mitte 1935 waren die Emigranten arbeitslos. Unzufrieden mit ihrem Leben und offensichtlich antibolschewistisch eingestellt, hörten sie Mitte Juni und Anfang Juli 1935 die Reden des ebenfalls arbeitslosen, aus der schlesischen Stadt Frankenstein (heute Ząbkowice Śląskie in Polen) stammenden Maschinensetzers Alfred K. (Jahrgang 1878). K. beschränkte sich dabei nicht nur auf die schonungslose Kritik der Regierungspolitik, sondern griff den „Tschechoslowaken“ Adolf Hitler (1889-1945) und den „Lettländer“ Alfred Rosenberg (1893-1946) persönlich an. Nazideutschland und die stalinistische Sowjetunion wurden gleichgesetzt: „Russland ist ein armer Bolschewismus. Deutschland ist ein kapitalistischer Bolschewismus“. Von seinen russischen Gesprächspartnern denunziert, landete K. Anfang Juli 1935 hinter Gittern. Sein weiteres Schicksal ist unbekannt.
Während der Schlesier K. für seine Äußerungen ins Gefängnis gesperrt wurde, ließ die saarländische Justiz den staatenlosen Landarbeiter Ignatz Usch. Ende 1935 überraschend frei. Der in Litauen geborene 42-jährige Usch. geriet in der Anfangsphase des Ersten Weltkriegs in deutsche Gefangenschaft. An der Saar tauchte Usch. jedoch erst 1932 auf und fand Anstellung bei einem Landwirt in Kirkel-Neuhäusel. Der Staatspolizei fiel er 1935 durch seine systematischen „abfälligen Bemerkungen“ über Hitler („Mörder“, „Lump“, „Vagabund“) und die Reichsregierung auf, die Usch. in der Regel im angetrunkenen Zustand machte. Anfang August 1935 bemerkte er in einer Wirtschaft zum Beispiel, dass die Lage in Frankreich, wo er bis zu seiner Übersiedlung ins Saargebiet gewohnt habe, besser als in Deutschland sei. An die Zukunft der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland glaubte Usch. nicht: „Russland macht Deutschland kaputt“. Der Alkohol befreite ihn zudem von der Angst vor der deutschen Justiz: „Wenn sie mich einsperren, behalten sie mich 14 Tage, dann lassen sie mich laufen.“
Zunächst sah es danach aus, dass seine betrunkenen Eskapaden ohne Konsequenzen blieben. Erst zwei Wochen später erstattete der Zeuge Sch. – selbst stark betrunken – eine Anzeige gegen Usch. Die Tatsache, dass ein Alkoholiker einen anderen Alkoholiker und dazu noch mit einer erheblichen Verspätung denunzierte, beeinflusste höchstwahrscheinlich die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Saarbrücken, das Verfahren gegen Ignatz Usch. Einzustellen.
In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre sammelte die Gestapo die Informationen nicht nur über „russische Emigranten“, sondern auch über „Reichsdeutsche“, die aus der Sowjetunion zurückkamen. Als potenzielle sowjetische Agenten oder vom Bolschewismus geprägte Menschen galten die „Russlandreisenden“ und die sogenannten „Russlandrückkehrer“ als besonders suspekt. Zu diesen „Russlandrückkehrern“ zählten etwa Wilhelm H., der 1935 auf der Grube Jägersfreude bei Saarbrücken beschäftigt war, und der in Ottweiler geborene Bergmann Kurt A.
Der aus Mariendorf bei Aachen stammende Steiger H. hatte in Frankreich und in der Sowjetunion, wo er sich zwischen 1930 und 1932 aufgehalten hatte, umfangreiche Lebenserfahrungen gesammelt. An der Saar fühlte er sich nicht wohl: In einer Gastwirtschaft habe der Steiger sich im August 1935 sehr abwertend über die Saarländer geäußert, die, hätten sie nicht gegen den Status-Quo gestimmt, „heute […] zu fressen und zu saufen“ hätten. Diese „Saarraben“ und „Idioten“ hätten sich für den Status-Quo entscheiden müssen, denn sie hätten nach dem 30.1.1933 mit ihren eigenen Augen sehen können, wie prekär die Situation im von der Weltwirtschaftskrise gezeichneten Deutschland tatsächlich gewesen sei. 1935 bedauerte der von der sowjetischen Propaganda beeinflusste H. seine Rückkehr nach Deutschland: In diesem Land würden die Proletarier ausgebeutet, während es den Arbeitern in Lothringen besser gehe. In der UdSSR habe er gut gelebt und sei mit seiner Frau sogar in einem Strandbad gewesen. Im Falle H. zeigte die Staatsanwaltschaft eine eher ungewöhnliche Milde: Eine Strafverfolgung wurde nicht angeordnet, da Wilhelm H. seine Äußerungen nur im „engen Kreise“ gemacht habe.
Im Gegensatz zu Wilhelm H. wurde das KPD-Mitglied Kurt A. wenige Wochen nach seiner Rückkehr aus der Sowjetunion (Ende 1937, Anfang 1938) „wegen Vorbereitung zum Hochverrat“ in einem Rückwandererheim in Mettmann bei Düsseldorf von der Gestapo festgenommen. Sein Leidensweg führte ihn in die Konzentrationslager Buchenwald und Sachsenhausen, in die berüchtigten Gefängnisse Berlin-Moabit und Hameln sowie ins Konzentrationslager Hamburg-Neugamme. Dort kam er am 1.3.1942 ums Leben.
5. „Heil Moskau“
Die ausgewerteten Justizakten aus der zweiten Hälfte der 1930er Jahre enthalten Informationen über zahlreiche ehemalige KPD-Mitglieder und kommunistisch gesinnte Menschen, die dem Kommunismus nicht abgeschworen hatten, ihre Zugehörigkeit zur kommunistischen Partei stolz hervorhoben, die kommunistischen Parolen „Rot Front“ und „Heil Moskau“ riefen und die stalinistische Sowjetunion in ihren Reden priesen. Mit Gefängnisstrafen für ihre „kommunistischen Aktionen“ belegt, verkörperten diese Opfer der nationalsozialistischen Diktatur in Augen der bolschewistischen Propaganda den erbitterten kommunistischen Widerstand gegen die faschistische Herrschaft. Als Beispiel kann das Mitglied der KPD und der Internationalen Roten Hilfe, Bauarbeiter Arnold M. (Jahrgang 1893) aus Völklingen, genannt werden. Laut den Ermittlungsakten habe M. die UdSSR im Mai 1935 für einen „Idealstaat“ gehalten, in dem die Macht den Arbeitern und Bauern gehöre. Die Kinder hätten dort „ohne Religion eine bessere Erziehung als in Deutschland mit Religion“. Das „Dritte Reich“ sei hingegen ein „kapitalistischer Staat“, in dem unter anderem an der Saar eine Verstaatlichung der Industrie vonnöten sei. M. wurde im Juli 1935 zu vier Wochen Gefängnis verurteilt.
Die Tatsache, dass sich der Fall M. in der Anfangsphase der nationalsozialistischen Herrschaft im Saarland ereignete, erklärt das relativ milde Gerichtsurteil gegen den Bauarbeiter. Im Gegensatz zu M. musste der Mitte April 1937 verurteilte Arbeiter Gustav Adolf Sch. aus Saarbrücken (Jahrgang 1881) acht Monate hinter Gittern verbringen. Das Damoklesschwert der Gestapo schwebte bereits seit November 1936 über ihm: Der Arbeiter wurde von der Gestapo beobachtet, weil er sich mit „Immer noch Rot Front“ verabschiede. Der überzeugte Antifaschist Sch., der sich 1919 der SPD angeschlossen hatte, ließ sich von der antibolschewistischen Propaganda der NSDAP über die dramatische Situation in der Sowjetunion nicht beirren. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft Saarbrücken bemerkte der angetrunkene Arbeiter in einer Gastwirtschaft am 16.1.1937: „In Deutschland können die Kinder verhungern, während in Russland zu fressen genug ist. Die fanatischen Nationalsozialisten glauben das nicht, weil sie keine andere Zeitung zu lesen bekommen und daher nicht sagen können, wie die Verhältnisse in Russland sind“. Noch mehr als die „unzulässigen Äußerungen“ über den bolschewistischen Staat empörte die Ermittler allerdings seine Einschätzung der Lage im Saarland: Zwei Jahre nach der „geschobenen“ Abstimmung seien die meisten Saarländer vom NS-Staat enttäuscht und würden heute mehrheitlich (80 Prozent) für den Status-Quo stimmen. Hätten sie dies aber bereits 1935 getan, ginge es ihnen jetzt bestimmt besser. Die Arbeiter müssten nicht – wie in Sibirien (!) – für einen Stundenlohn von 60 Pfennigen schuften. Nach diesem Vorfall blieb Sch. lediglich vier Tage auf freiem Fuß. Am 20. Januar wurde er festgenommen.
Nach dem 30.1.1933 verurteilte die sowjetische Presse im Geiste des proletarischen Internationalismus entschlossen den Rassismus und Antisemitismus im „Dritten Reich“. Sie hob gleichzeitig die in der UdSSR gewährleistete Gleichberechtigung der Völker hervor, berichtete über die Bekämpfung des Antisemitismus in der Sowjetunion und entrüstete sich über einzelne antisemitisch eingestellte Kommunisten.
An der Saar wurde die nationalsozialistische Judenverfolgung von ehemaligen Kommunisten 1935 unterschiedlich wahrgenommen: Manche von ihnen – wie etwa der 28-jährige Hüttenarbeiter Theodor M. aus Düppenweiler – lehnten die antijüdische Politik kategorisch ab ; andere – wie zum Beispiel der 24-jährige Bergmann Richard B. aus Marpingen – machten keinen Hehl aus ihrem glühenden Judenhass und geißelten den „Juden“ Adolf Hitler und die „Judenregierungen“ in Berlin und in Rom.
Bestrebt unter der nationalsozialistischen Diktatur zu überleben, passten sich mehrere ehemalige Sozialdemokraten und Kommunisten der neuen politischen Wirklichkeit an, verheimlichten ihre antifaschistischen Überzeugungen oder engagierten sich sogar in der nationalsozialistischen Bewegung. So wechselte beispielsweise der Handelsvertreter Matthias G. aus Keuchingen vor der Saarabstimmung von der SPD zur KPD und dann zur „Deutschen Front“. Seinen Lebensunterhalt verdiente G. Ende 1935 mit dem Verkauf von Bildern des „Führers“ und weiterer Regierungsmitglieder. Seine Liebe zum Alkohol wurde ihm beinahe zum Verhängnis. Während der Ermittlungen gegen G. wurde festgestellt, dass der Handelsvertreter am 5. Dezember in einer Gastwirtschaft in Saarhölzbach erfolglos versucht habe, die Bilder zu verkaufen, und sich – enttäuscht und betrunken – negativ über die Regierungspolitik geäußert habe. Seiner Wut und seinen angestauten Emotionen ließ er freien Lauf, indem er „Heil Moskau“ geschrien, Ortsfunktionäre der NSDAP beleidigt und die Einwohner der Gemeinde Saarhölzbach zu Kommunisten erklärt habe. Für die Staatsanwaltschaft war Mathias G. eher ein verzweifelter Opportunist und Alkoholiker und kein gefährlicher Kommunist und Unruhestifter. In seinem Fall sah man von der Strafverfolgung ab.
6. „... da sind’s die Juden und hier sind’s die anderen Henkersknechte“
Viele Saarländer konstruierten ihre Sowjetunion-Bilder in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre unter dem entscheidenden Einfluss der antisowjetischen nationalsozialistischen Propaganda. Glühende Antifaschisten und verfolgte Regimegegner gingen mit dieser Propaganda selektiv um: Die UdSSR erschien ihnen allein als Erzfeind des verhassten nationalsozialistischen Regimes sympathisch. Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang die Geschichten des Saarbrücker Obdachlosen Johann Ju. und des Bonner Schachtmeisters Franz P.
Die Ermittlungsakten gegen den vorbestraften Ju. zeigen, dass der 33-Jährige 1935 vom Zusammenbruch des Nationalsozialismus träumte und von der Sowjetunion die Erlösung erwartete: Auf die Tür seiner Gefängniszelle in Saarbrücken habe er „Sowjetsterne“ gemalt. Ju. sei überzeugt gewesen, dass die Bedingungen in einem sowjetischen Gefängnis deutlich besser als in einem deutschen Strafanstalt wären, und habe sich zudem über „Agenten“ gefreut, welche die Sowjetunion in die SS und SA eingeschleust habe, „um diese Formationen politisch zu unterhöhlen“. Ende Oktober 1935 wurde er zu einer Gefängnisstrafe von insgesamt zehn Monaten verurteilt. Mit dem Leben hinter Gittern im Saarland war der Obdachlose Ju. deutlich besser vertraut als mit der tatsächlichen Situation in der Sowjetunion.
Für den nicht vorbestraften Schachtmeisters Franz P. (Jahrgang 1872) brach hingegen am 13.10.1936 eine Welt zusammen. P., angestellt bei einer Zweibrücker Firma, die den Bahnbau zwischen Ottweiler und Kusel ausführte, wurde an diesem Tag festgenommen und im März 1937 zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Ihm wurde vorgeworfen, die Lage der Arbeiter in der Sowjetunion (Mitbestimmungsrecht, staatliche Unterstützung) vor der ihm unterstellten Arbeiterkolonne gepriesen und die Berichte über den Terror in der stalinistischen UdSSR bestritten zu haben.
Bei der strafrechtlichen Beurteilung des Falles P. durfte auch die in den Ermittlungsakten hervorgehobene Zugehörigkeit des Angeklagten zur im „Dritten Reich“ verfolgten Bewegung der „Bibelforscher“ eine wesentliche Rolle gespielt haben. Als „eifriger Bibelforscher“ hätte P. allein aufgrund seiner religiösen Überzeugungen mit der militant atheistischen Sowjetunion kaum sympathisieren können. Über diese Entwicklungen in der UdSSR wusste er entweder nichts oder blendete diese wegen seiner tiefen Ablehnung des Nationalsozialismus vorsätzlich aus.
Ähnlich wie Franz P. konnte ein weiterer Bibelforscher, Franz. F. aus Kaiserslautern, nicht mit der Nachsicht der Justiz rechnen. Der 1891 geborene F. vertrieb Kruzifixe und weitere religiöse Gegenstände und kam auf diese Weise im August 1936 nach Riegelsberg. In einer Gastwirtschaft nahm er an einem Gespräch über die Situation in Spanien teil und schloss dabei nicht aus, dass Deutschland eine düstere Epoche bolschewistischer Herrschaft erwarte. Im Gegensatz zu P. war sich F. der antireligiösen Politik in der Sowjetunion und der antireligiösen Ausrichtung spanischer Republikaner bewusst. Im Laufe der Ermittlungen wies Franz F. beharrlich auf seine antibolschewistische Einstellung hin. Die nationalsozialistische Justiz ließ sich aber davon nicht beeindrucken. F. wurde mit acht Monaten Gefängnis bestraft.
Die gleiche Strafe musste der Elektriker Theodor S. aus Engelfangen Anfang März 1936 über sich ergehen lassen. Vor der Saarabstimmung profilierte sich S. (Jahrgang 1896) als Gegner der „Rückgliederung“. Im Januar 1935 gehörte S. zu den Auswanderern aus dem Saargebiet, über die die sowjetische Presse berichtete. Sechs Tage nach der Abstimmung war er nach Frankreich emigriert, kehrte jedoch im Mai 1935 zurück – eine Entscheidung, die er bald bereute. Die Adventszeit verbrachte der Elektriker in Untersuchungshaft. Laut Ermittlungsakten habe er am 17.10.1935 in einer Gastwirtschaft die nationalsozialistische Wirtschaftspolitik scharf kritisiert und für die Verschlechterung der Lage der Arbeiter verantwortlich gemacht. Außerdem habe S. seine Überzeugung geäußert, dass die Fortsetzung dieser Politik das Ende des Nationalsozialismus beschleunigen und den Sieg des Bolschewismus in Deutschland begünstigen werde. Die Situation in Deutschland und in Europa werde dadurch aber nicht besser. Die Tatsache, dass S. nicht betrunken war und die Entwicklungen in Europa nüchtern analysierte, verschlechterte seine Lage zusätzlich.
Sowohl der „Bibelforscher“ Franz F. als auch der „marxistische Separatist“ Theodor S. waren überzeugte Gegner des Bolschewismus, welche die Situation in Deutschland und die internationale Politik reflektierten, zu einem aus nationalsozialistischer Sicht unzulässigen Ergebnis kamen und dafür bestraft wurden. Im Fall der 1902 geborenen Büroangestellten Viktoria K. wurde hingegen im Mai 1936 keine Strafverfolgung angeordnet und im Fall des Hüttenarbeiters Franz L. (Jahrgang 1886) beließ es die Justiz im Mai 1937 bei einer „eindringlichen Verwarnung“. Die „Ausfälle“ dieser Saarbrücker schienen den Ermittlern offensichtlich nicht so gefährlich zu sein: K. habe der nationalsozialistischen Propaganda misstraut und die Ansicht vertreten, die Lage in Deutschland sei noch schlechter als in der UdSSR. L. habe keinen Unterschied zwischen der bolschewistischen und nationalsozialistischen Landwirtschaftspolitik gesehen: Die Bauern hätten in beiden Ländern alles abgeben müssen und würden schlecht bezahlt. In der UdSSR sei die Lage sogar geordneter als in Deutschland. Die Berichte über das Elend der Jugend oder die Hungersnot in der Sowjetunion seien erfunden.
Die Beispiele K. und L. spiegeln das Misstrauen einzelner von ihrer eigenen Situation enttäuschten Bürgerinnen und Bürger gegenüber dem nationalsozialistischen Staat und seiner Propaganda wider. Oberflächlich über die Entwicklung der UdSSR informiert und sich für dieses Land vermutlich nicht besonders interessierend, äußerten sie ihren Unmut über die verzerrende nationalsozialistische Propaganda, welche die deutsche Bevölkerung durch die Horrorberichte über die Sowjetunion von den Missständen im „Dritten Reich“ abzulenken versuchte. Der Verzicht auf die strafrechtliche Verfolgung von Viktoria K. und Franz L. kann auf das Zusammenspiel von mehreren für diese Saarbrücker günstigen Faktoren zurückgeführt werden: Die Verurteilung der weiblichen Büroangestellten L., die nicht viel von internationalen Politik verstand und ihre Bemerkungen eher unreflektiert und emotionell gemacht habe, schien unzweckmäßig zu sein. L. wiederum habe kein Gespräch über die Sowjetunion eingeleitet. Er sei in das Gespräch verwickelt und zudem erst mehrere Monate nach dem Vorfall denunziert worden. Die gut informierten „Bibelforscher“ F. und Elektriker S. mit ihren Überlegungen über das Ende des Nationalsozialismus und die bolschewistische Herrschaft in Europa, ebenso der 34-jährige Hilfsarbeiter Johann P. aus Niederwürzbach, waren für die nationalsozialistische Justiz deutlich gefährlichere „Täter“. P. erschien im August 1936 in einer Gaststätte, bemerkte „leicht angetrunken“, dass es in Spanien, Indien und Russland – überall auf der Welt – „viel besser“ als in Deutschland sei, und beleidigte zudem die Regierungsmitglieder. Dieser Umstand verschlechterte seine Situation zusätzlich. P. wurde zu sieben Monaten Gefängnis verurteilt.
Am 19.3.1935 verkündete das Sondergericht in Saarbrücken ein bemerkenswertes Urteil: Der Angeklagte Peter H. wurde des Vergehens gegen Paragraph 2 des „Heimtückegesetzes“ schuldig gesprochen und „anstelle einer an sich verwirkten Gefängnisstrafe von sechs Wochen zu 300 Reichsmark Geldstrafe“ verurteilt. Mit diesem Urteilsspruch wurde das Verfahren gegen den Geschäftsführer einer in Saarbrücken bekannten Bekleidungsfirma abgeschlossen, der erfolgreich seine Kontakte und guten Beziehungen eingesetzt hatte, um einer Haftstrafe zu entgehen.
Die Strafsache gegen H. verdient angesichts der Person und des Weltbildes des Angeklagten besondere Aufmerksamkeit: Der 1886 geborene Peter H. gehörte vor der Saarabstimmung zum Wehrverband „Stahlhelm“ und zeigte offen seine völkische und antisemitische Gesinnung. H. hatte das nationalsozialistische Feindbild des „jüdischen Bolschewismus“ verinnerlicht und stellte Anfang September 1935 den „jüdischen Charakter“ der bolschewistischen Diktatur in der UdSSR nicht in Frage. Die Gleichschaltung des Stahlhelms, Mordaktionen im Zusammenhang mit dem sogenannten Röhm-Putsch und weitere nationalsozialistische Verbrechen erschreckten H. jedoch zutiefst und bewegten ihn zu einer Bemerkung über die Sowjetunion und Deutschland: „[...] was ist das schon anders; da sind’s die Juden und hier sind’s die anderen Henkersknechte. Wieviel Morde sind schon vorgekommen nach der Machtergreifung und wieviel Leute werden heute noch gequält in den Konzentrationslagern“.
7. Deutschland und die Sowjetunion vor und nach dem Hitler-Stalin-Pakt: Einblicke aus Sulzbach
Am 23.8.1939 unterzeichneten die Sowjetunion und Nazideutschland in Moskau einen Nichtangriffspakt und teilten im geheimen Zusatzprotokoll die Einflusszonen in Osteuropa auf. Mit dem Hitler-Stalin-Pakt begann eine kurzfristige Epoche der Scheinfreundschaft zwischen der UdSSR und Deutschland, die nicht wenige kommunistisch gesinnte Reichsbürger in ihrer Überzeugung bestärkte, Stalin werde die neue Situation nutzen, um die bolschewistische Herrschaft in Deutschland bald zu etablieren.
Die sensationellen Nachrichten über die rasante Verbesserung der deutsch-sowjetischen Beziehungen erreichten den 32-jährigen Kaufmann August Sch. im KZ Sachsenhausen. Der aus der saarländischen Gemeinde Sulzbach stammende K. wurde noch Anfang Mai 1939 von der Gestapo verhaftet und im November des Jahres zwecks „Umschulung“ nach Sachsenhausen überführt. Ende April 1939 missbilligte er unvorsichtig in der Bahnhofswirtschaft in Tholey den „dummen“ antisowjetischen Kurs der Reichsregierung: Offensichtlich auf die erfolgreiche Russland-Politik Otto von Bismarcks und auf die engen deutsch-sowjetischen Kontakte in der Weimarer Zeit anspielend, hob K. hervor, dass Deutschland seine außenpolitischen Ziele in einem Bündnis mit der UdSSR besser erreichen könne.
Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, die Auflösung des polnischen Staates durch Deutschland und die Sowjetunion, die wohlwollende sowjetische Neutralität im deutschen Krieg im Westen und auch die intensive deutsch-sowjetische Zusammenarbeit nach dem Hitler-Stalin-Pakt bestätigten die Analyse des Kaufmanns K. aus Sulzbach. Seine Freilassung kam jedoch trotz der Moskauer Augustvereinbarungen nicht in Frage. Erst 1942 durfte er das Konzentrationslager Sachsenhausen verlassen und wurde in die Wehrmacht einberufen. Als Wehrmachtssoldat sah K., wie sich die Prognose des saarländischen Kommunisten Paul R. (Jahrgang 1905) aus seiner Heimatgemeinde Sulzbach bewahrheitete: In einem Lokal äußerte R. im August 1941 – mehr als ein Jahr vor der entscheidenden Schlacht von Stalingrad – seine Vermutung, dass die deutsche Armee ihren Zusammenbruch an der Wolga erleben werde. Wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ im Oktober 1941 zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt, starb er kurze Zeit später im Saarbrücker Gefängnis Lerchesflur.
8. Fazit
Die Volksabstimmung am 13.1.1935 markierte eine tiefe Zäsur in der saarländischen Geschichte. Die Saarabstimmung wurde im Ausland breit rezipiert und als eines der wichtigsten Ereignisse des Januar 1935 wahrgenommen. In der UdSSR wurde die Abstimmung an der Saar als Farce dargestellt und ihre Folgen wurden ausführlich analysiert. Die bolschewistische Propaganda betrachtete den Saar-Kampf als Teil des von der KPD angeführten antifaschistischen Kampfes in Deutschland.
Nach der Vereinigung des Saargebietes mit dem „Dritten Reich“ wurden verschiedene Sowjetunion-Bilder an der Saar verbreitet. Diese durch eigene Erfahrungen mit dem bolschewistischen Staat beziehungsweise mit russischen Emigranten und Menschen, die dieses Land besuchten, durch die Berichterstattung über die UdSSR vor und nach 1935 sowie durch die kommunistische und nationalsozialistische Propaganda geprägten Vorstellungen spiegeln sowohl die Wahrnehmung der Sowjetunion als auch des „Dritten Reiches“, seiner Propaganda, seiner Innen- und Außenpolitik wider. So waren einzelne – vor allem kommunistisch gesinnte – Bürgerinnen und Bürger von der Sowjetunion und von der sozialistischen Umgestaltung in diesem Land fasziniert und sahen die UdSSR als Vorbild für Deutschland. Manche Einwohner des Saarlandes wünschten sich vor dem Hitler-Stalin-Pakt die Normalisierung der zerrütteten deutsch-sowjetischen Beziehungen. Andere Saarländer glaubten nicht an die nationalsozialistische antisowjetische Hetzpropaganda, welche die UdSSR absichtlich diffamierte. Manche Regimegegner gingen davon aus, dass Moskau die Hitler-Diktatur beseitigen werde, und neigten unter diesen Umständen zur Verklärung des bolschewistischen Staates. Vom Nationalsozialismus enttäuschte Gegner des Kommunismus sahen keinen Unterschied zwischen der nationalsozialistischen und der bolschewistischen Gewaltherrschaft.
Die an der Saar verbreiteten Vorstellungen über die Sowjetunion lassen sich ansatzweise anhand überlieferter Justizakten rekonstruieren. Diese Justizakten sind eine wichtige Quelle für die Erforschung der Stimmung der Bevölkerung, von Selbst-, Fremd- und Feindbildern sowie der zwischenmenschlichen Beziehungen im Saarland in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre.
Literatur
Bies, Luitwin, Klassenkampf an der Saar 1919-1945, Frankfurt am Main 1978.
von zur Mühlen, Patrik, „Schlagt Hitler an der Saar!“ Abstimmungskampf, Emigration und Widerstand im Saargebiet 1933-1935, Bonn 1979.
Stiftung Demokratie Saarland (Hg.), 13. Januar 1935. Der Kampf um die Saar – 70 Jahre danach. Dokumentation einer Veranstaltungsreihe, Saarbrücken 2005.
- 1: Zur Saarabstimmung vgl. exemplarisch Stiftung Demokratie Saarland (Hg.), 13. Januar 1935. Der Kampf um die Saar; von zur Mühlen, „Schlagt Hitler an der Saar!.
- 2: Vgl. etwa Kond., Fašisty gotovjat putč? (Po telefonu ot special'nogo korrespondenta „Pravdy“), in: Pravda v. 12.1.1935, S. 5; Kond., Mužestvo antifašistov (Po telegrafu ot special'nogo korrespondenta „Pravdy“), in: Pravda v. 15.1.1935, S. 5; Kond., Saar – tol'ko načalo „ispravlenija germanskich granic“. Očered' za Ėlzas-Lotaringiej, Memelem, Pol'skim Koridorom, Bogemiej i Tirolem, - zajavljaet „Germanskij front“ (Po telegrafu ot special'nogo korrespondenta „Pravdy“), in: Pravda v. 16.1.1935, S. 8.
- 3: Vgl. K. Radek, Saarskie rešenija, in: Izvestija v. 16.1.1935, S. 2.
- 4: Die Einheitsfront des Saargebietes, Volksfront gegen Hitler! Für Status Quo und späteren Anschluß an ein freies Deutschland – 28.11.1934, in: Arbeiter-Zeitung v. 28.11.1934, zitiert nach: Bies, Klassenkampf, S. 196-197.
- 5: Vgl. exemplarisch Pered golosovaniem v Saare. Remi, 150-tysjačnaja antifašistskaja demonstracija v Saarbrjukene. (Po telegrafu ot parižskogo korrespondenta „Pravdy“), in: Pravda v. 8.1.1935, S. 5. Vgl. auch die Nachrichtenmeldungen in der Zeitungen Zvjazda („Stern“, Minsk) und Vostočno-Sibirskaja pravda („Ostsibirische Wahrheit“, Irkutsk) v. 9.1.1935 (S. 1, 4).
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Friedman, Alexander, „Stalin wird einmal die Welt regieren“ - Sowjetunion-Bilder im Saarland nach der Volksabstimmung vom 13. Januar 1935, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/stalin-wird-einmal-die-welt-regieren---sowjetunion-bilder-im-saarland-nach-der-volksabstimmung-vom-13.-januar-1935/DE-2086/lido/6037915cb4e9f9.40705290 (abgerufen am 10.12.2024)