Zu den Kapiteln
Als Erbin ihres 1951 verstorbenen Ehemanns Fritz Thyssen galt Amélie Thyssen im Stahlboom der 1950er Jahre als die reichste Frau Westdeutschlands. Überraschend stiftete sie 1960 die Hälfte ihres industriellen Vermögens für einen gemeinnützigen Zweck: Mit ihrer Tochter Anita (1909-1990) errichtete sie die erste große private Stiftung zur Wissenschaftsförderung in der Bundesrepublik – die dem Andenken an ihren Mann gewidmete „Fritz Thyssen Stiftung“. Um den Stiftungsakt zu würdigen, überreichte Bundeskanzler Konrad Adenauer ihr 1960 als erster Frau in der Geschichte der Bonner Republik das Große Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband.
Amélie Thyssen wurde am 11.12.1877 als Tochter des Kaufmanns Louis Zurhelle (1850-1932) und seiner Frau Anna Maria Soherr (1853-1932) in Aachen geboren. Über die Erziehung und Schulbildung ist wenig bekannt. Offenbar besuchte sie keine öffentliche Schule, sondern wurde von Hauslehrern unterrichtet. Sie lernte Französisch und Englisch und entwickelte musische Interessen. Mit 19 begegnete sie auf einer Abendgesellschaft Fritz Thyssen, einem Sohn des Montanindustriellen August Thyssen (1842-1926). Im Jahr darauf verlobten sie sich. Dass die Hochzeit erst im Januar 1900 gefeiert wurde, lag an dem hinhaltenden, doch schließlich überwundenen Widerstand August Thyssens. Die Tochter Anita, ihr einziges Kind, kam 1909 in Bonn zur Welt.
In einem herrschaftlichen Anwesen, das Fritz Thyssen 1910/11 bei Mülheim im englischen Landhausstil errichten ließ, entfaltete das Ehepaar einen glanzvollen Lebensstil. Amélie übernahm auch auf Schloss Landsberg, dem Wohnsitz des Schwiegervaters, repräsentative Verpflichtungen. In einer betont partnerschaftlichen Beziehung baute das Paar eine Kunstkollektion auf (heute zum Teil im Bayerischen Nationalmuseum) und unternahm ausgedehnte Reisen, unter anderem nach Indien und Ceylon (1908), Ägypten (1927/28) und Südamerika (1930). Im Katholizismus verankert, unterstützten sie kirchliche Einrichtungen vielfach finanziell, zum Beispiel durch die Stiftung eines Taufbrunnens für die Mülheimer Marienkirche (1934). Die industrielle Unternehmensführung und das rein Geschäftliche blieben indes die Domäne des Ehemannes. Insoweit folgte das Paar einem Leitbild des bürgerlichen Patriarchalismus.

Amélie Thyssen mit Bundeskanzler Adenauer nach der Verleihung des Großen Verdienstkreuzes mit Stern und Schulterband, 7.8.1960. (Thyssenkrupp Corporate Archives, Duisburg)
In der Endphase der Weimarer Republik und in den Anfangsjahren des NS-Regimes teilte Amélie Thyssen den Hitler-Enthusiasmus ihres Mannes, der die NSDAP finanziell förderte und ihr im Mai 1933 beitrat. Ihre eigene Parteimitgliedschaft ist deutlich früher dokumentiert, ab dem 1.3.1931, doch übernahm sie keinerlei Funktion in der Partei oder ihren Gliederungen. Ein Gruppenfoto der Begegnung Hitlers mit Industriellen aus der Zeit um 1933 zeigt, wie sie sich bei Hitler einhakte. Sie unterstützte ihren Mann jedoch auch bei der allmählichen Distanzierung vom NS-Regime, die bei Kriegsbeginn zum offenen Bruch führte. Am 2.9.1939 flohen beide in die Schweiz. Als Emissäre den abtrünnigen Großindustriellen zur Rückkehr zu bewegen suchten, bestärkte Amélie ihren Mann in der ablehnenden Haltung. Im März 1940 siedelten sie nach Frankreich über und planten die Weiterreise nach Argentinien. Dort verfügten sie über ansehnlichen Besitz. Zudem wohnte ihre Tochter, die seit der Heirat mit einem ungarischen Grafen (1936) den Namen Gräfin Zichy-Thyssen trug, inzwischen dort. Doch nach der Niederlage Frankreichs im Mai 1940 verhinderte die mit dem NS-Regime kollaborierende Vichy-Regierung die Ausreise. Im Dezember 1940 ließ sie die Eheleute verhaften und lieferte sie an das Deutsche Reich aus, wo eine lange Zeit der Gefangenschaft begann.
Seit Januar 1941 in einem Sanatorium in Neubabelsberg interniert, wurden Fritz und Amélie Thyssen im Mai 1943 in ein Sonderlager des KZ Sachsenhausen verlegt. In der Hektik der letzten drei Kriegsmonate folgten weitere Stationen, die über das KZ Buchenwald und das KZ Dachau schließlich nach Südtirol führten. Dort befreiten US-amerikanische Truppen die beiden mit weiteren prominenten Sonderhäftlingen im Mai 1945. In den Jahren der Haft wirkte Amélie Thyssen zunehmend als Stütze ihres Mannes, der als fast schon greisenhaft beschrieben wird. Die Haft ging mit Enteignung und Ausbürgerung einher; völlige Ungewissheit über das weitere Schicksal kam bedrohlich hinzu. Als Sonderhäftlinge hatten beide jedoch weitaus bessere Lebensbedingungen als gewöhnliche KZ-Insassen. Der prominente Name bot einen gewissen Schutz, und es mag sein, dass sie zeitweise auch als Faustpfand für den Fall von Verhandlungen mit den Westalliierten in Betracht gezogen wurden.
Während für Amélie Thyssen die Zeit der Gefangenschaft im Mai 1945 endete, internierte die amerikanische Militärregierung ihren Ehemann bis Januar 1947. Dann begann sein Entnazifizierungsverfahren, das im Oktober 1948 mit dem Urteilsspruch „minderbelastet“ zu Ende ging. Auch in dieser Zeit leistete Amélie ihrem Mann, der körperlich und geistig stark abbaute, fortwährend Beistand. Ihr eigenes Entnazifizierungsverfahren verlief im Herbst 1948 sehr zügig – mit dem für sie optimalen Ergebnis der Einstufung in die Gruppe der „Entlasteten“. Die Spruchkammer ging davon aus, dass sie nur nominell Mitglied der NSDAP gewesen sei und hielt ihr zugute, ihren Mann beim Bruch mit dem NS-Regime bestärkt zu haben. Im folgenden Jahr siedelte das Ehepaar zur Tochter Anita nach Argentinien über, wo Fritz Thyssen 1951 an einem Herzversagen starb.
Die Witwe kehrte alsbald nach Europa zurück, logierte anfangs zumeist in Schweizer Hotels und wählte 1955 das Schlossgut Puchhof in Niederbayern als ständigen Wohnsitz. Sie verstand sich nun als Treuhänderin ihres verstorbenen Mannes und als Hüterin der Familientradition – fest entschlossen, dem Namen Thyssen zu neuem Glanz zu verhelfen. Die Ausgangslage war indes höchst kompliziert. Amélie und Anita erbten das Vermögen Fritz Thyssens zu gleichen Teilen, doch war der industrielle Besitz von den Alliierten beschlagnahmt und wurde nur mit strengen Entflechtungsauflagen freigegeben. Ohne eigene Erfahrung in Fragen der Unternehmensführung, war sie zudem auf verlässliche Berater und Bevollmächtigte angewiesen. Dabei zeigte sie eine glückliche Hand. Ihren engsten Beraterkreis bildeten der Kölner Bankier Robert Pferdmenges, die Vermögensverwalter Robert Ellscheid (1900-1985) und Kurt Birrenbach (1907-1987) sowie Hans-Günther Sohl (1906-1989), der zu den Spitzenmanagern der Stahlindustrie an Rhein und Ruhr zählte. Dessen Machtkampf mit Fritz-Aurel Goergen (1909-1986) entschied sie 1957 kraft ihrer Position als Großaktionärin zu Sohls Gunsten.
Dem Beraterkreis gelang es, die Eigentumsrechte der Familie mit einer Serie von Rück- und Neuverflechtungen so zu kombinieren, dass bis 1957 zwei Großkonzerne entstanden: die Phoenix-Rheinrohr AG, deren Aktienmehrheit bei Amélie lag, und die August Thyssen-Hütte AG mit Anita als Hauptaktionärin. Bei all diesen Transaktionen spielte die Zustimmung Amélies eine entscheidende Rolle, während sich die Tochter mit einem nachgeordneten Part begnügte. Nachdrücklich unterstützte Amélie auch den nächsten und größten Expansionsschritt: die Fusion der beiden Großkonzerne. Im Streit zwischen Ellscheid und Sohl um die Form des Zusammenschlusses entschied sie, dass die August Thyssen Hütte (ATH) die Führung übernehmen solle. So wollte Sohl die Firmengröße der ATH verdoppeln und an die Spitze der europäischen Stahlproduktion gelangen. Den Fusionsantrag stellte er im Oktober 1958 bei der Hohen Behörde der Montanunion in Luxemburg. Die Genehmigung folgte erst 1963 nach der Überwindung zahlreicher Hürden.
Die Idee einer großen Stiftung auf der Basis von ATH-Aktien war in diesen Prozess der Unternehmenskonzentration eingewoben. Den Beratern ging es dabei vor allem um eine Erbfallvorsorge. Anita und ihre beide Söhne Federico (1937-2014) und Claudio (geb.1942) waren die voraussichtlichen Erben Amélies. Sie lebten im fernen Argentinien und waren eher an der Veräußerung als an der Bewahrung des Besitzes an der Ruhr interessiert. Hingegen konnten die vor dem Erbfall gestifteten Aktien an das Unternehmen gebunden werden, indem die vier engsten Berater Sitz und Stimme im Kuratorium der Stiftung erhielten. Amélie teilte die Sorge um die Absicherung des Thyssen-Konzerns und verfuhr daher ganz nach Plan: Sie tauschte ihren in der Phoenix-Rheinrohr AG platzierten Aktienbesitz im Verhältnis 1:1 gegen junge (im Zuge einer Kapitalerhöhung ausgegebene) Aktien der ATH mit einem Nominalwert von 144 Millionen DM. Rund die Hälfte, nominal 75 Millionen, brachte sie in die Stiftung ein. Anita steuerte ATH-Aktien mit einem Nominalwert von 25 Millionen DM bei. Der gemeinnützige Zweck der Wissenschaftsförderung ging vor allem auf den Rat Birrenbachs zurück, der sich um den Rückstand der deutschen Wissenschaft in der Welt sorgte.
Als Amélies Berater die Gründung und Dotierung der gemeinnützigen Stiftung im Juli 1960 vor der Presse und im Scheinwerferlicht des Fernsehens verkündeten, hatte das Stiftungskapital einen Kurswert von nahezu 400 Millionen.[1] Bundeskanzler Adenauer, ein alter Freund der Familie Thyssen, der sich auch förderlich in die Fusion und den Stiftungsplan eingeschaltet hatte, ließ es sich nicht nehmen, ihr im Schloß Puchhof persönlich den zweithöchsten Orden der Bundesrepublik zu überreichen. Die beiden präsentierten sich den Kameras mit eingehaktem Arm und demonstrierten so ihr vertrautes Verhältnis.

Porträtfoto Amelie Thyssens im Visum für die USA, erteilt am 20.7.1940 vom US-Konsulat in Nizza, mit Unterschrift und Stempel. (Stiftung zur Industriegeschichte Thyssen, Duisburg)
Anders als oft behauptet, spielte die Absicht, Erbschaftssteuern zu sparen, in Amélies Motivation keinerlei Rolle. Vom NS-Regime ausgebürgert und seither staatenlos, hatte sie bei der Übersiedlung in die Bundesrepublik eine so günstige Kondition aushandeln lassen, dass das Thema Erbschaftssteuer seither für sie unerheblich war. Viel wichtiger, letztlich sogar entscheidend, war das Motiv, ihrem Mann mit der nach ihm benannten Stiftung ein würdiges Denkmal zu setzen. Ihr lag sehr daran, dass nicht das von einem Ghostwriter Fritz Thyssens 1941 eigenmächtig publizierte Buch „I paid Hitler“, sondern die gemeinnützige Stiftung die Erinnerung an Fritz Thyssen künftig prägen sollte.
Amélie Thyssen starb am 25.8.1965 im Schloss Puchhof, wo sie die mit ihrem Mann gesammelten, in der NS-Zeit verstreuten Kunstwerke wieder zusammengeführt hatte.
Quellen
Vereinzelte tagebuchähnliche Aufzeichnungen, Korrespondenz und Presseausschnitte in den thyssenkrupp Corporate Archives, Duisburg.
Literatur
Bähr, Johannes, Thyssen in der Adenauerzeit. Konzernbildung und Familienkapitalismus, Paderborn 2015.
Derix, Simone, Die Thyssens. Familie und Vermögen, Paderborn 2017.
Eglau, Hans Otto, Fritz Thyssen. Hitlers Gönner und Geisel, Berlin 2003.
Gramlich, Johannes, Die Thyssens als Kunstsammler. Investition und symbolisches Kapital (1900-1970), Paderborn 2015.
Hockerts, Hans Günter, Ein Erbe für die Wissenschaft. Die Fritz Thyssen Stiftung in der Bonner Republik, 2. Aufl., Paderborn 2021.
Online
Hockerts, Hans Günter, Thyssen, Amélie, in: Neue Deutsche Biographie 26 (2016), S. 245-246 [Online].

Amélie Thyssen vor einem Gemälde ihres Mannes, 1965, Foto: Bernd König. (Thyssenkrupp Corporate Archives, Duisburg)
Bitte geben Sie beim Zitieren dieses Beitrags die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Hockerts, Hans Günter, Amélie Thyssen, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/am%25C3%25A9lie-thyssen/DE-2086/lido/67067729b88d63.11647862 (abgerufen am 09.02.2025)
Veröffentlicht am 11.10.2024, zuletzt geändert am 13.12.2024