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Andreas Bräm war ein evangelischer Pfarrer in Neukirchen (heute Stadt Neukirchen-Vluyn). Er gründete den „Neukirchener Erziehungsverein“ und war einer der Väter der „Inneren Mission“, des heutigen Diakonischen Werkes im Rheinland.
Rheinländer in der heutigen Bedeutung des Wortes war Andreas Bräm nicht, obwohl er am Rhein, in der Stadt Basel, am 30.4.1797 geboren wurde. Die Familie stammt aus der inneren Schweiz, sie besaß Heimatrecht im Ort Dällikon im Kanton Zürich. Der Großvater, ein Zimmermann, wanderte nach Basel aus und gründete dort eine Familie. Der Vater Andreas (1766-1816) heiratete 1796 die Baslerin Maria Barbara Tschudi, die als Magd bei der Basler Patrizierfamilie Thurneyssen gearbeitet hatte. Die Verbindung zu ihr blieb auch nach der Heirat erhalten, die Familie zahlte dem ältesten Sohn Andreas später einen Teil der Ausbildung. Von zwei weiteren Söhnen der Bräms starb Caspar als kleines Kind, Johann Georg wurde Landwirt.
Als die Basler „Hintersassen“ – also jene Bürger, die in der Stadt wohnten, aber nicht ihr Heimatrecht besaßen – sich selbständig machen durften, fing der Vater eine Kattundruckerei in der Wohnstube an. Es waren einfache Verhältnisse, in denen der Knabe aufwuchs. Den ersten Unterricht erhielt er zu Hause. Mit acht Jahren ging er auf das Gymnasium, mit 14 auf das „Philotechnische Institut“, eine private Realschule, für die die Thurneyssens zahlten. 1814 begann Andreas Bräm ein Studium der Theologie in Basel, nur kurz unterbrochen durch den frühen Tod des Vaters.
Wirkliches Interesse an seinem Fach scheint der junge Student nicht gehabt zu haben. Erst nach einem Bekehrungserlebnis, vermutlich im September 1818, ging er das Studium ernsthafter an. Zum Wintersemester 1819/1820 wechselte er nach Tübingen, vielleicht, weil die dortige Universität wohl am wenigsten „von dem Geist des Rationalismus beherrscht war“, wie viele meinten. Dort geriet er in einen Kreis pietistischer Studenten, die auch nach ihrem Examen viele Jahre in einer „Zirkular-Korrespondenz“ untereinander Verbindung hielten. Dazu gehörte etwa Ludwig Hofacker (1798-1828), der bekannteste Vertreter der württembergischen Erweckung, Matthias Perthes (1789-1859), ein Enkel von Matthias Claudius (1740-1815), Angehörige der Basler Familie Burckhardt oder Emil Krummacher (1798-1886) aus der Pfarrerdynastie der Krummacher.
Durch deren Vermittlung konnte Bräm 1821 eine Stelle als Hauslehrer in Krefeld finden. Seine drei Jahre dort wurden nur unterbrochen von kleinen Reisen mit seinen beiden Zöglingen ins benachbarte bergische und märkische Land. Im Hause eines Krefelder Freundes lernte er seine spätere Frau Johanne Wilhelmine Henriette Rappard (1798-1875), die Tochter des Neukirchener Pfarrers Christoph Heinrich Rappard (1764-1843), kennen. Er heiratete sie 1826, nachdem er das theologische Examen in Basel bestanden hatte. 1828 wurde der einzige Sohn Johann Balthasar Wilhelm geboren, der - sehr zum Leidwesen der Eltern – später Schauspieler wurde.
An eine Pfarrstelle war zunächst nicht zu denken, und so arbeitete Bräm als Lehrer an der Basler Schule für höhere Töchter und am Basler Seminar für Missionare. Zu seinen Schülerinnen gehörten unter anderen mehrere Schwestern des Historikers Jacob Burckhardt (1818-1897). Ehrenamtlich betreute Bräm eine protestantische Gemeinde im benachbarten Elsass. Als eine besondere Leistung Bräms muss die Gründung eines „Vereins der Freunde Israels“ erwähnt werden, der heute noch unter dem Namen „Stiftung für Kirche und Judentum“ in Basel besteht und sich damals vor allem um bettelnde jüdische Kinder, aber auch um die Anerkennung des jüdischen Volkes als „christliches Brudervolk“ kümmerte. Es ging nicht um die Mission unter den Juden, denn in der Endzeit, die Bräm erwartete, würden die Juden selbst erkennen, dass Jesus Christus der von ihnen erwartete Messias sei.
Anlässlich eines längeren Besuchs in Neukirchen im Sommer 1834 vertrat Bräm seinen Schwiegervater auf der Kanzel. Seine Predigt beeindruckte seine Hörer so sehr, dass das Neukirchener Presbyterium ihn bat, er möge Pfarrer bei ihnen werden. Ein Jahr später konnte seine Wahl stattfinden, nachdem der preußische König seine Zustimmung erklärt und Bräm als Ausländer eine besondere Prüfung bestanden hatte.
Seine Gemeinde umfasste etwa 2.000 Seelen und bestand meist aus verstreut lebenden bäuerlichen Familien mit ihrem Gesinde und Tagelöhnern. Bräm stürzte sich in die Arbeit, hielt zusätzliche Bibelstunden in den Außenbezirken, drängte zum Bau eines neuen Schulhauses, das mit zwei Klassenräumen 1839 eingeweiht wurde, engagierte sich im Kampf gegen den übermäßigen Branntweingenuss – damals ein großes Problem – und trat der gerade ins Leben gerufenen „Bibel- und Missionsgesellschaft“ in Moers bei, einem der zahlreichen Vereine, die die Rheinische Mission in Barmen (heute Stadt Wuppertal) unterstützten. Die Mission scheint ihm besonders wichtig gewesen zu sein, er veranstaltete Missionsfeste in seiner Gemeinde, reiste zu den Missionsfesten ins Wuppertal und bemühte sich 1842 um eine frei gewordene Pfarrstelle in Unterbarmen, dem Sitz der Rheinischen Mission, wurde aber nicht gewählt.
Die Armut weiter Teile der Bevölkerung seiner Landgemeinde, der Tagelöhner und Hausweber, blieb Bräm nicht verborgen. Häufige Besuche in Barmen, Elberfeld (heute Stadt Wuppertal) und Langenberg (heute Stadt Velbert), wo er an den Treffen eines „Kränzchens“ örtlicher Honoratioren teilnahm, öffneten ihm die Augen auch für die Ausbeutung der Arbeiter. Vor allem ging es ihm um die verwahrlosten Kinder. Ein Weg aus deren Armut sei – so Bräm – ihre Erziehung und Bildung, die „Hausstube“ einer intakten Familie und der Schulbesuch. Deshalb bemühte sich Bräm, für verwahrloste Kinder Pflegefamilien zu finden. 1845 konnte er 14 Kinder auf diese Weise „unterbringen“.
Diese zusätzlichen Belastungen überstiegen die Kräfte einer Familie und des Pfarrers. Deshalb gründete Bräm mit der Hilfe des Neukirchener Bürgermeisters Gustav Haarbeck (1806-1892) und einiger anderer Bürger einen „Verein für die Erziehung armer und verwahrloster Kinder“, um die Pflegefamilien zu unterstützen. 1851 betreute der Verein bereits 71 Kinder in 38 Familien, 1854 waren es 150 Kinder in 92 Familien. Ein „Agent“ des Vereins bereiste die gesamte Rheinprovinz, um Kontakte zu Gemeinden und Synoden zu knüpfen und Spenden zu sammeln. Und bei Erziehungsproblemen wurde ebenfalls geholfen, wobei wesentliche Anregungen dazu Bräms Erziehungslehre entstammten, die dieser weitgehend der Bibel entnommen hatte. So war er von der Vorbildfunktion der Eltern überzeugt; dazu legte er ihnen die eigene Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle und die Liebe zu den Kindern, aber auch die Zucht und Ordnung im Haushalt nahe.
Doch es gab auch Widerstände gegen den Erziehungsverein. Zum Beispiel protestierte der Bürgermeister einer benachbarten Gemeinde dagegen, dass so viele arme Kinder gerade bei ihm untergebracht würden. Ein anderer Einwand richtete sich gegen die Unterbringung der Kinder in Familien anstatt in einer Anstalt. Bräm hat sich auf dieses Entweder-Oder nicht eingelassen, sondern das Waisenhaus als manchmal notwendige Ergänzung zur Pflegefamilie bezeichnet und sich damit zum Schema einer Fürsorgeerziehung bekannt, wie sie noch heute praktiziert wird. Seine eigene Familie wurde die provisorische Aufnahmestelle für neu ankommende Kinder, die oft erst einfache Dinge lernen mussten, etwa am Tisch zu sitzen oder sich zu waschen, bevor sie in die Pflegefamilien gegeben wurden.
Es gab auch Rückschläge. Einige Kinder waren trotz aller Fürsorge nicht in den Familien zu halten. Der Verein zog die Konsequenz, achtete darauf, dass die Verwahrlosung nicht zu groß war und dass keine Kinder über 14 Jahren mehr aufgenommen wurden. Dass Zweigvereine in Ruhrort (heute Stadt Duisburg), Wesel, Neuwied und an anderen Orten entstanden, zeigt andererseits, dass die Idee der vereinsunterstützten Familienpflege im Rheinland und bald auch darüber hinaus Anhänger fand.
Gegen Ende des Jahres 1848 schloss sich Bräm der „Inneren Mission“ an, jener Bewegung, die durch eine Rede Johann Hinrich Wicherns (1808-1881) auf dem ersten Kirchentag der Evangelischen Kirche in Wittenberg entstanden war und sowohl die Vereinigung aller bereits bestehenden als auch die Gründung neuer evangelischer sozialer Vereine und Initiativen erstrebte. Bräm war mit Wichern auch verwandtschaftlich verbunden, Wicherns Schwester Therese (1814-1879) war mit Bräms Vetter Joseph Baumgartner (1809-1873) verheiratet. Folglich war Bräm bei der Konstituierung des rheinischen „Provinzial-Ausschusses“ der Inneren Mission in Bonn 1849 führend beteiligt. Aus seiner Erfahrung mit schwachsinnigen Kindern forderte er die Errichtung einer eigenen Anstalt für diese Gruppe. 1859 wurde die Anstalt Hephata in Mönchengladbach speziell für sie errichtet.
Bemerkenswert ist Bräms Öffentlichkeitsarbeit für seinen Verein und für die Innere Mission generell. Immer wieder schrieb er Aufsätze für evangelische Blätter und gab selbst derartige Blätter heraus, zum Beispiel das „Correspondenz-Blatt“ seines Vereins, das von 1856 bis 1914 erschien. Er reiste viel, hielt Vorträge und kam häufig mit Spendengeldern zurück. Dazu betätigte er sich literarisch, etwa mit einer Beschreibung Palästinas (1834), das er nicht aus eigener Anschauung, sondern nur durch geographische Studien kannte, mit „Blicken in die Weltgeschichte und ihren Plan“ (1835), wo er seine Eschatologie entwickelte, mit didaktischen Werken zur Auslegung der Schrift und zur biblischen Geschichte, wobei ihn besonders das Volk Israel beschäftigte, oder mit einem publizierten Vortrag zur „Bedeutung des Orients für die Christenheit unserer Tage“ (1867).
Es war nicht leicht, für diese Veröffentlichungen immer einen Verlag zu finden. So gründete der Erziehungsverein 1888 einen eigenen, bis heute bestehenden Verlag. Dessen erfolgreichste Publikation wurde der Neukirchener Kalender mit Bibelsprüchen für jeden Tag, der in verschiedenen Formen bis heute erscheint.
Bräms Bemühungen um ein auskömmliches Leben der Fabrikarbeiter waren von wenig Erfolg gekrönt. Vergeblich forderte er höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen und kürzere Arbeitszeiten. Selbst in der „Inneren Mission“ hat man ihn nicht verstanden, wenn man meinte, dass eine kürzere Arbeitszeit nur zu Trunksucht und sittlichen Verfehlungen führen würde. Nach einer schweren Krankheit trat Bräm 1872 in den Ruhestand. 1880 erlebte er noch die Einweihung einer „Anstalt für ältere verwahrloste oder in Gefahr der Verwahrlosung stehende Mädchen“ in Moers, die er seit langem gefordert hatte und der er den Namen „Elim“ gab. Er starb am 11.1.1882 und wurde in Neukirchen neben seiner Frau begraben, die fast sieben Jahre vor ihm gestorben war. In Neukirchen-Vluyn erinnert eine Straße an ihn.
Werke
Weth, Rudolf (Hg.), Andreas Bräm. Prediger, Seelsorger, Pädagoge und Gründer des Erziehungsvereins. 1797-1882. Eine Auswahl aus seinen Schriften, Neukirchen-Vluyn 1982.
Literatur
Jülicher, Manfred, 150 Jahre Erziehungsverein im Kirchenkreis Moers, Teil 1, in: Monatshefte für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 57 (2008), S. 165-184.
Lohbeck, Elsbeth, Andreas Bräm – ein vergessener Vorkämpfer für die Lösung der sozialen Frage im 19. Jahrhundert, in: Monatshefte für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 32 (1983), S. 105-120.
Lohbeck, Elsbeth, Andreas Bräm – ein Wegbereiter der Diakonie im Rheinland und Gründer des Neukirchener Erziehungsvereins, Köln 1989.
Pott, Gottfried (Hg.), Blätter zur Erinnerung an den Entschlafenen (Andreas Bräm) für seine Freunde, Moers o.J (1882).
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Wittmütz, Volkmar, Andreas Bräm, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/andreas-braem/DE-2086/lido/57c58675f3c182.88696779 (abgerufen am 05.12.2024)