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August Theodor Christlieb war evangelischer Pfarrer, Professor für evangelische Theologie mit dem Schwerpunkt systematische und praktische Theologie an der Universität Bonn und Universitätsprediger.
August Theodor Christlieb wurde am 7.3.1833 in Birkenfeld in der Nähe Pforzheims geboren, wo der Vater Heinrich Christlieb (1797-1873), der 1823 die Pfarrerstochter Amalie Schmoller geheiratet hatte, das Pfarramt innehatte. Wenige Jahre nach der Geburt zog die Familie nach Heidenheim an der Brenz, blieb aber nur kurze Zeit in der Stadt, denn Pfarrer Christlieb, inzwischen dort Dekan geworden, wurde 1845 in gleicher Funktion nach Ludwigsburg versetzt. Der Sohn besuchte Gymnasien in Tübingen sowie in Maulbronn und von 1851-1855 als Mitglied des theologischen Stifts in Tübingen die Universität, an der er Theologie, Philosophie, Geschichte und Literaturwissenschaft studierte. Das erste theologische Examen bestand er im Herbst 1855. Danach arbeitete Christlieb bis 1856 als Hauslehrer in Montpellier. Umfangreiche Reisen in jener Zeit führten ihn bis nach Spanien. Darüber berichtete er im „Morgenblatt für gebildete Leser“. Nach seiner Rückkehr wurde er Vikar bei seinem Vater, machte auch andernorts Vertretungsdienste und schrieb eine umfangreiche Studie über Johannes Scotus Erigena (frühes–spätes 9. Jahrhundert), den irischen Gelehrten am Hofe Karls des Kahlen (823-877), wofür ihn die Universität Tübingen zum Dr. phil. promovierte.
1858 ging Christlieb als Pfarrer nach Islington im Norden Londons in eine Gemeinde, die sich – anders als eine auf dem Territorialprinzip gründende deutsche Parochie – freiwillig um den Gottesdienst ihres Pfarrers versammelte und von kirchlichen Behörden gänzlich unabhängig war. In der britischen Metropole erlebte Christlieb die tiefen sozialen Gegensätze und als deren Folge die Entfremdung vieler Menschen vom christlichen Glauben. Er lernte aber auch das breite diakonische und missionarische Engagement vor allem der „Dissenterkirchen“ und –gemeinden kennen, die sich in ökumenischem Zusammenwirken um die Zweifelnden und „Ungläubigen“ bemühten. Über seine Erfahrungen mit der Arbeit von Kirchen in England berichtete er in deutschen Zeitschriften und hielt dadurch die Verbindung zu seiner Heimat aufrecht. 1862 legte er in Stuttgart das zweite theologische Examen mit Auszeichnung ab.
Von besonderer Bedeutung für sein späteres Wirken wurden seine Kontakte zur „Evangelischen Allianz“, einer 1846 in London gebildeten internationalen und überkonfessionellen Vereinigung von Christen aus vielen reformatorischen Kirchen. Engagiert förderte er deren Anliegen, angesichts einer fortschreitenden Säkularisation die vom Glauben Abgefallenen, aber auch die „Heiden“ in der Welt zu missionieren und die Einheit aller Christen zu suchen. Zu drei Weltkonferenzen der Evangelischen Allianz, 1873 in New York, 1879 in Basel und 1884 in Kopenhagen wurde Christlieb als Referent eingeladen.
Im September 1861 hatte der junge Pfarrer Emily Weitbrecht (1838-1899), die Tochter des Indienmissionars Johann Jakob Weitbrecht (1802-1852), geheiratet. Dem Ehepaar wurden in London, Friedrichshafen und Bonn drei Söhne und zwei Töchter geboren, ein „internationales Kinderhäuflein“, wie der Vater nicht ohne Stolz schrieb.
1865 erhielt Christlieb einen Ruf nach Friedrichshafen und einen weiteren nach St. Petersburg, den er allerdings ablehnte. Seine „Bodensee-Idylle“ dauerte nicht lange, denn 1868 wurde er Professor an der Universität Bonn. Zuvor hatte er den Ruf ans Predigerseminar Wittenberg ebenfalls abschlägig beschieden. Da der neue Bonner Professor noch keine theologische Arbeit veröffentlicht hatte, war er zunächst in der Fakultät nicht stimmberechtigt und wurde es erst, als die Berliner Universität ihm 1870 einen theologischen Ehrendoktor verlieh und der preußische Kultusminister ihm die Habilitation erließ.
Mit Christlieb zog ein neuer, pietistisch-erwecklicher Geist in die traditionell liberale Bonner Fakultät ein. Die akademische Leitlinie des neuen Professors, Christus lieb haben sei besser als alles Wissen und alle Theologie und der christliche Glaube könne glaubhaft nur von „Zeugen“ gepredigt werden, also von jenen, die die Erfahrung der Nähe Gottes selbst gemacht hätten, stieß bei fast allen seiner Kollegen in der Fakultät auf scharfen Widerspruch, denn in letzter Konsequenz schien Christlieb Studium und Wissenschaft überhaupt in Frage zu stellen. Dabei war der Bonner Professor ein ausgezeichneter und anregender Wissenschaftler, der sich als Universitätsprediger auch seelsorgerlich um seine Studenten kümmerte, was damals kaum üblich war.
An anderer Stelle zog sich Christlieb gleichfalls Unmut zu. Wie Johann Hinrich Wichern (1808-1881) forderte er, dass das Evangelium wieder stärker auf die Straßen und Märkte getragen und angeboten werden müsse. Die Kirche müsse evangelisieren und eine missionarische Struktur entwickeln. Als 1875 der amerikanische Laienprediger Robert Pearsall Smith (1827-1898) nach Deutschland kam und vor vielen Tausenden predigte, sogar viele seiner Zuhörer dazu brachte, sich durch Reue und Buße „von Christus retten“ zu lassen, gehörte auch Christlieb zu seinem Publikum. 1877 ließ sich der Bonner Professor sogar zum Vorsitzenden einer „Freien Evangelischen Vereinigung“ wählen, die in Köln als Verband westdeutscher erweckter Christen und evangelischer Gemeinschaften sowie einiger weniger landeskirchlicher Pfarrer entstand. Im Sinne der englischen Allianz-Bewegung und der heutigen Ökumene strebte man danach, die Gemeinschaft unterschiedlicher Christen und Kirchen zu fördern und die missionarische Kraft des Christentums insgesamt zu stärken.
Die preußische Kirche sah diese „Westdeutsche Allianz“ und das Engagement Christliebs kritisch, befürchtete sie doch, durch gemeinsame Veranstaltungen mit „Sektierern“ könnten diese an Zulauf gewinnen. Christlieb bemühte sich, diese Kritik zu entkräften. In dem von ihm maßgeblich mitformulierten Statut der Westdeutschen Allianz heißt es, dass alle ihre Mitglieder einander gleichberechtigt begegnen sollten und die Gläubigen einer Gemeinschaft nicht „zu einer anderen Denomination“ herübergezogen werden dürften, weil dann faktisch „die rechte Wirksamkeit der evangelischen Gnadenmittel in der anderen Kirche in Zweifel gezogen wird“. Dennoch, wer im deutschen Kaiserreich ökumenisch tätig sein wollte, konnte kaum mit Zustimmung der offiziellen Kirche rechnen. Und wer gar als Theologie-Professor sich mit Baptisten, Methodisten, Presbyterianern, freien evangelischen Gemeinden und anderen „Sektierern“ an einen Tisch setzte, galt für die Kirche beinahe als „Verräter“.
1882 löste der Roman „Die Studiengenossen“ der Autorin Anna von Weling (1837-1900), einer Verehrerin Christliebs, einen Skandal um Christlieb aus. In ihm wurden die Verhältnisse an der Bonner Theologischen Fakultät deutlich beschrieben und einige ihrer Mitglieder sogar als liberale Leugner kirchlicher Lehren an den Pranger gestellt. Man verdächtigte Christlieb wohl zu Recht als Informanten. Es kam zu scharfen Konflikten mit allen seinen Bonner Kollegen, die ihm – wie zuvor die evangelische Kirche - seine Beziehungen zu außerkirchlichen Gruppen und Gemeinden und „Separatismus“ vorwarfen. Doch der Bonner Theologe ließ sich davon wenig beeindrucken. Sein Einsatz für Evangelisation und Mission war ihm wichtiger als seine Bindung an die offizielle Kirche. An ihr kritisierte er, dass sie die Zweifelnden, Ungläubigen und Gleichgültigen nicht anspreche. Um die Entfremdeten wieder zu gewinnen, müsse sie auf Bekehrung und „persönliche Wiedergeburt“ jedes einzelnen Zuhörers dringen. So hatte der Bonner Professor es in England kennen gelernt.
1884 war Christlieb die treibende Kraft hinter dem „Deutschen Evangelisationsverein“, einer Gründung ohne Bindung an eine kirchliche Behörde. Der Verein wollte evangelistische Verkündigung betreiben und dafür auch geeignete Laien einsetzen. Er nannte sich „deutsch“, um im Zeitalter eines wachsenden Nationalismus dem Vorwurf zu begegnen, seine Initiative hätte einen anglo-amerikanischen Anstrich. Für den Verein erwarb Christlieb 1886 ein „Missionshaus“ in Bonn, das sogenannte Johanneum. Dort sollten Laien für ihren Dienst der Verkündigung ausgebildet werden. 1893 wurde das Haus nach Elberfeld (heute Stadt Wuppertal) verlegt. Es befindet sich noch heute in der Stadt und wird weiterhin von einem Verein getragen. Die Behörde vermutete auch hier „Separatismus“ und konnte nicht verstehen, dass Christlieb das Johanneum nicht an die Kirche band. Eben das war jedoch nicht möglich, weil der Bonner Professor auf englische Spendengelder angewiesen war, die ihm aber nur zuflossen, wenn er das Haus vom „Staatskirchentum“ entfernt hielt.
Schließlich geht auf Christlieb die Gründung des „Gnadauer Gemeinschaftsverbandes“ zurück, die 1888 erfolgte, benannt nach dem Ort Gnadau in der Nähe Magdeburgs. Dorthin lud der Bonner Professor alle pietistisch-erwecklichen Gemeinschaften zur Gründung eines Dachverbandes ein. Auf sein Drängen hin verpflichteten sich die Teilnehmer, „in der Kirche, mit der Kirche, aber nicht unter der Kirche“ zu wirken. Diese Formel konnte die Kirche akzeptieren. Vielleicht hoffte Christlieb, mit dem am Rande der Kirche stehenden, aber doch prinzipiell überkonfessionellen Verband autonome Kirchenbildungen des „Methodismus“ in Deutschland überflüssig zu machen.
Der Blick des charismatischen Predigers ging über die engen, nationalen Grenzen der deutschen Landeskirchen weit hinaus. Diese erlebte er als eine Institution mit häufig verknöcherten Strukturen, unfähig zu lebendiger Verkündigung des Evangeliums. Seine Parochie sei die ganze Welt, sagte er. Ob er zeitweise sogar mit dem Austritt aus der Kirche und der Gründung einer freikirchlichen Gemeinde liebäugelte, wie er sie am Beginn seiner Laufbahn in Islington erlebt hatte, ist umstritten. Jedenfalls blieb er zeitlebens Mitglied der evangelischen Gemeinde Bonn, die er auch auf Synoden vertrat.
Theodor Christlieb starb am 15.8.1889 an einem Nierenkrebsleiden. Er wurde auf dem Alten Friedhof in Bonn begraben. Das Marmor-Medaillon (1889) seines Grabmals stammt von dem Bildhauer Albert Küppers.
Werke
Leben und Lehre des Johannes Scotus Erigena, Gotha 1860, (erweiterte Druckfassung der philosophischen Dissertation von 1857; aufgrund dieses Werkes erhielt er am 7.5.1870 die theologische Ehrendoktorwürde der Berliner Universität).
Moderne Zweifel am christlichen Glauben für ernstlich Suchende erörtert, 2. Auflage, Bonn 1870.
Der gegenwärtige Stand der evangelischen Heidenmission. Eine Weltüberschau, 1879.
Protestant Foreign Missions, 1880.
Homiletik. Vorlesungen, hg. von Theodor Haarbeck, Basel 1893.
Literatur
Busch, Wilhelm, Die von Herzen dir nachfolgen. Gestalten des rheinisch-westfälischen Pietismus, Neukirchen-Vluyn 1997.
Faulenbach, Heiner, August Theodor Christlieb, in: Faulenbach, Heiner, Das Album Professorum der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn 1818-1933, Bonn 1995, S. 123-128.
Goeters, Gerhard J.F., Theodor Christlieb, in: Bonner Gelehrte. Beiträge zur Geschichte der Wissenschaften in Bonn. Evangelische Theologie, Bonn 1968, S. 103-120.
Jung, August, Vom Kampf der Väter. Schwärmerische Begegnungen im ausgehenden 19. Jahrhundert, Witten 1995.
Pagel, Arno, Theodor Christlieb. Ein Lebensbild, Berlin 1960.
Pagel, Arno, Professor Theodor Christlieb. Alfred Christlieb. Die Lebensgeschichte zweier Männer, die Christus und die Brüder liebten, Bad Liebenzell 1983.
Schirrmacher, Thomas, Theodor Christlieb und seine Missionstheologie, Wuppertal 1985.
Voigt, Karl-Heinz, „Die Neuevangelisierung der längst Entchristlichten“ – Eine Forderung von Professor Christlieb von 1888. Evangelisation in Landeskirchen, Freikirchen und Gemeinschaftsbewegung, in: Mohr, Rudolf (Hg.), „Alles ist euer, ihr aber seid Christi“. Festschrift für Dietrich Meyer, Köln 2000, S. 433-458.
Voigt, Karl-Heinz, Theodor Christlieb und die Evangelische Allianz. Evangelische Allianz zur Disziplinierung der „Außerkirchlichen“, in. Monatshefte für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 52 (2003). S. 181-211.
Voigt, Karl-Heinz, Theodor Christlieb: (1833-1889), die Methodisten, die Gemeinschaftsbewegung und die Evangelische Allianz, Göttingen 2008.
Online
Achelis, Ernst Christian, Christlieb, Theodor, in: Allgemeine Deutsche Biographie 47 (1903), S. 483-486. [Online]
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Wittmütz, Volkmar, August Theodor Christlieb, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/august-theodor-christlieb-/DE-2086/lido/57c68c0597a240.24728789 (abgerufen am 09.12.2024)