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Anfang des 20. Jahrhunderts fesselte der Kölner evangelische Pfarrer Carl Wilhelm Jatho Bewunderer und Kritiker gleichermaßen mit seinen Predigten, die auch Nichtgläubige anzogen. Er predigte eine Religion der Liebe und Versöhnung mit einem zwanglosen, subjektiven Zugang ohne Dogmen und Exklusion. Er verstand es, seine Ausführungen mit kulturellen Referenzen zu bereichern und forcierte „eine Versöhnung der Kulturvölker auf dem Grunde einer undogmatischen Religion“ (Jatho). Die Ablehnung kirchlicher Zwänge und Traditionen führte 1911 angesichts seines steigenden Bekanntheitsgrades zu einem Lehrbeanstandungsverfahren des Evangelischen Oberkirchenrats in Berlin. Zu diesem Zeitpunkt sorgten die Diskussionen über seine Lehre bereits sechs Jahre lang in kirchlichen Zeitungen wie auch in der allgemeinen Presse für Schlagzeilen. Instrumentalisiert von liberalen und konservativen Kräften entwickelte der „Fall Jatho“ eine Eigendynamik, die die evangelische Kirche zum Handeln zwang und schließlich zum Ausschluss Jathos aus dem Pfarrdienst führte.
Am 25.9.1851 in Kassel geboren, genoss Carl Jatho als Sohn des Pfarrers Louis Jacob Victor Oskar Jatho und dessen Frau Louise Sophie, geborene Klingelhöfer, eine klassische Ausbildung und spätestens mit der Übernahme der Pfarrstelle in der lutherischen Gemeinde durch den Vater 1860 auch ein intensives Bibelstudium. Die Familie war dem Humanismus zugeneigt und verkehrte, bezeugt durch die Freundschaft zum Hause Grimm und dem Beethovenschüler Louis Spohr (1784-1859), der dem jungen Jatho Klarinettenunterricht gab, in Kreisen des gehobenen Bildungsbürgertums. Die klassische Bildung des Elternhauses prägte Carl Jatho maßgeblich, der Zeit seines Lebens ein begeisterter Leser war. Bereits als Primaner traf er sich alle acht Tage mit seinen Mitbrüdern des Amicitia-Clubs, um Klassiker, am liebsten William Shakespeare (1564-1616), in verteilten Rollen zu lesen und über aktuelle Ereignisse zu diskutieren.
Nach einem Notabitur 1870 wurde Jatho im Deutsch-Französischen Krieg zum Militärdienst eingezogen. Leicht bedauernd, nicht an Kampfhandlungen teilgenommen zu haben, begann er Ostern 1871 das Theologiestudium in Marburg, wo er 1874 seine erste theologische Prüfung ablegte, nachdem er kurzfristig 1872 an die Leipziger Universität gewechselt war. Jatho war ein eifriger Student, der während seiner theologischen Ausbildung stets das kulturelle Geschehen und den wissenschaftlichen Fortschritt seiner Zeit im Blick behielt. Begeistert ließ er sich in seinen theologischen Ansichten neben Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) und Friedrich von Schiller (1759–1805) auch von Charles Darwin (1809–1882) und Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) inspirieren und orientierte sich früh an einem humanistischen Glaubensbekenntnis und dem deutschen Idealismus.
Bereits beim zweiten kirchlichen Examen Oktober 1875 zeigte sich anhand der eingereichten Predigt eine gewisse Unvereinbarkeit mit der Lehre der evangelischen Kirche. Die letztlich als „im Ganzen gut“ bewertete Arbeit sei nicht hinreichend durch das Evangelium belegt und befasse sich auch mit „Menschengedanken“, eine Kritik, die Jatho an den Fähigkeiten seiner Prüfer zweifeln ließ, wie er in einem Brief an seine Verlobte Johanna Beckey aus Soest schrieb: „wer hat uns denn die Schätze der Offenbarung anders übermittelt als Menschen […]. Es stehen auf Zion auch andere Wächter als Consistorialräthe – der alte Gott wird selbst im Stande sein, seine Kirche zu schützen und sein Reich zu vollenden […].“
Zwischen 1874 und 1876 unterrichtete er im Wechsel an einem Aachener Gymnasium sowie einer Mittelschule und betreute eine Filialgemeinde in Herzogenrath. Ein halbes Jahr nach seiner Ordination in Aachen am 1.6.1875 starb sein Vater, worauf Jatho die Fürsorge für seine Mutter und seine Schwester übernahm. Nach der Hochzeit mit Johanna Beckey am 3.7.1876 ging die Familie nach Bukarest, wo die Deutsche Gemeinde den 24-jährigen Jatho zum Pfarrer gewählt hatte. Dort kamen drei seiner Söhne zur Welt: Max (geboren 1877), Kurt (1881-1902) und Carl Oskar (1884–1971), der später eine kleine Biographie über seine Kindheit und die Erinnerungen an seinen Vater veröffentlichte. Kurz nach seiner Geburt verließen die Jathos Bukarest in Richtung Boppard, weil der Vater an Malaria erkrankt war. Mit der Übernahme der Diasporagemeinde am Rhein konnte Jatho in milderem Klima genesen. Hier wurden zwei weitere Söhne, Otto (starb kurz nach der Geburt) und Heinrich (geboren 1889), geboren.
Nach der Genesungszeit, in der Vikare die anstrengenden Arbeiten der Pfarrarbeit übernommen hatten, trat Jatho nach einstimmiger Wahl am 1.7.1891 seinen Dienst als Pfarrer in Alt-Köln an. Seine Wirkungsstätte wurde die 1894 erbaute Christuskirche. Die Jathos ließen sich mit einem Pflegesohn und zwei aus Afrika stammenden Ziehtöchtern gegenüber der Kirche nieder. Hier in Köln begann seine Karriere als über die Gemeindegrenzen hinaus bekannter Prediger. Er sprach frei, aber sehr strukturiert mit einer lebendigen Sprache, geschmückt mit kulturellen Assoziationen und weltlichen Gleichnissen. Er begeisterte seine Anhänger und beeindruckte selbst seine Kritiker dermaßen, dass auch sie seine Gottesdienste aufsuchten, um die „Macht seiner Diktion“ (Kuttner) authentisch zu erfahren.
Jathos Einfluss blieb nicht unbemerkt, anfangs wurde er von der Kirchenleitung als missionarischer Erfolg gelobt. 1895 erhielt er den Auftrag, als rheinischer Vertreter an der Generalkirchenvisitation in Ostpommern teilzunehmen und im Rahmen des 100-jährigen Jubiläums der Kölner Kirchengemeinde 1902 wurde er in Anerkennung seiner Erfolge, „der Kirche entfremdete Kreise wieder ins Gemeindeleben zu integrieren“ (Wortlaut der Begründung) mit einem preußischen Orden ausgezeichnet. Kurz darauf begannen eifrige Anhänger, seine Predigten zu stenografieren, die 1903 veröffentliche wurden. Im selben Jahr begründete Jatho die „Mittwochsdiskussionsabende“, woraus sich 1905 der „Verein für evangelische Freiheit zu Cöln“ entwickelte, der sich für eine freiere Auffassung des evangelischen Christentums einsetzte, ab 1906 sogar mit eigenem Publikationsorgan, den „Evangelischen Gemeindenachrichten aus Cöln“, im Volksmund „Grüne Blätter“ genannt
Die Publikationen von Jathos Predigten fanden großen Absatz. Der erste, im November 1903 erschienene Band wurde viermal nachgedruckt, die Predigten des zweiten Bandes, seit November 1904 in Einzelheften vertrieben, erschienen 1905 gesammelt unter dem Titel „Persönliche Religion“. Im Sommer 1905 rezensierte die „Rheinische Zeitung“ Jathos Predigten äußerst positiv und die „Kölnische Zeitung“ schrieb begeistert über die von ihm verkündete „neue Religion“. Schon kurz darauf beschwerten sich seine orthodoxen Kölner Amtsbrüder beim Generalsuperintendenten Valentin Umbeck und beschuldigten Jatho der Irrlehre, unter ihnen auch sein Schwager Heinrich Arnold Beckey (1848–1933). Wirklicher Handlungsbedarf entstand, nachdem die konservativen evangelischen Blätter „Reformation“ und das „Kirchliche Monatsblatt“ eine Gegendarstellung der positiven Besprechungen druckten. Jatho müsse als „Irrgeist vom Rhein“ (Reformation) von der Landeskirche gemaßregelt werden. Der Angriff galt nicht zuletzt den sozialdemokratischen Strömungen der Zeit, die Jatho als aufgeklärten Prediger „einer modernen Religion“ (Kölnische Zeitung) feierten. Jathos Religionsverständnis war vielschichtig. Er selbst bezeichnete sich als Pantheisten, vermied es aber, über Gottes- und Jenseitsvorstellungen zu philosophieren. Er vereinte in seinem Glauben auch panentheistische, somit auch naturmystische, monistische und nicht zuletzt neuhumanistische Elemente, weigerte sich aber, sich einem bestimmten Bekenntnisverein anzuschließen. Für ihn standen das Glück und die Verwirklichung des Einzelnen im Vordergrund, wohingegen Dogmen und Traditionen einer subjektiven Glaubensausübung entgegenständen und Exklusion statt Inklusion förderten, weswegen er sich immer mehr einer weltlicheren und humaneren Auslegung der Religion annäherte.
Die nächsten Jahre vergingen mit öffentlichen Diskussionen in der Presse und internen Erklärungen Jathos vor dem Kirchenregiment, ohne jedoch seine Aussagen zu revidieren. Seine Popularität auch außerhalb der evangelischen Kirche und die breite Aufmerksamkeit, die die Pressefehde auf sich zog, schützten ihn lange Zeit vor einschneidenden Sanktionen. Unhaltbar wurde seine Position allerdings, als er das apostolische Glaubensbekenntnis bei der Konfirmation durch ein eigenes ersetzte.
Wieder ignorierte Jatho die nun eindringlicheren Warnungen der Kirchenleitung und hielt 1910 im gewohnten Stil einen Ostervortrag in der Stadthalle von Barmen (heute Stadt Wuppertal) vor den „Freunden evangelischer Freiheit“, woraufhin ein förmliches Lehrbeanstandungsverfahren eingeleitet wurde. Es war das erste und letzte nach dem preußischen sogenannten „Irrlehregesetz“ vom März 1910, in dem ein Anhörungsverfahren vor einem Spruchkollegium die bis dahin disziplinarrechtliche Regelungen ersetzte.
Bei der Verhandlung am 23./24.6.1911 verhielt Jatho sich eher offensiv als einsichtig, als er die Eingangsfrage, ob ihm sein Ordinationsversprechen oder der Inhalt seiner Berufungsurkunde noch bekannt seien, verneinte und sich mit der Argumentation Martin Luthers (1483–1546) verteidigte, indem er sich auf die Bibel und sein eigenes Gewissen berief. Das Spruchkollegium beschloss mit elf zu zwei Stimmen, dass Jathos Lehre hinsichtlich des Bekenntnisses nicht vereinbar mit dem Bekenntnis der Evangelischen Kirche sei und schloss ihn vom Pfarrdienst aus. Ihm wurde allerdings ein Ruhegehalt zugestanden und von seinen Anhängern, die noch bis zum Schuldspruch 45.000 Solidaritätsunterschriften gesammelt hatten, erhielt er eine „Jatho-Spende˝. Bei seiner Rückkehr empfingen ihn jubelnde Kölner und die liberalen unter den rheinischen Pfarrern ergriffen öffentlich Partei für den Ausgeschlossenen. Andere einflussreiche Theologen wie Adolf von Harnack (1851-1930), die Jatho selbst als Inspiration betrachteten, befürworteten seinen Ausschluss zwar nicht, wandten sich aber zu seinem Verdruss öffentlich von seiner Lehre ab. Trotzdem blieb er Mitglied der evangelischen Kirche und predigte außerhalb der preußischen Grenzen wie gewohnt im Talar von der Kanzel. Den Großteil seiner nun folgenden „Saalpredigten“ hielt er aber in weltlichen Hallen deutschlandweit und sogar in der Schweiz vor großem Publikum. Auf einer dieser Vortragsreisen in Halle stieß er sich beim Besteigen einer Kutsche unglücklich am Schienenbein. Die Verletzung führte zu einer Blutvergiftung, an der er am 11.3.1913 in Köln verstarb. Er wurde auf dem Friedhof Melaten beerdigt. Sein Grab wurde mit einem imposanten Grabmal geschmückt, von dem seit einer Beschädigung 1945 nur der Sockel geblieben ist.
Nicht nur der „Fall Jatho“ hat Aufsehen erregt, auch die Person selbst beeindruckte seine Zeitgenossen. Heute findet seine Anschauung immer noch Anhänger, auch innerhalb der evangelischen Kirche. 1985 wurde in Köln-Rondorf eine Straße nach dem außergewöhnlichen Prediger benannt.
Quellen
Ungedruckt
Aktenstücke (A) zum Falle Jatho, hg. von dem Verein für evangelische Freiheit zu Köln, Beilage zu Nr. 47 des Evangelischen Gemeindeblattes für Rheinland und Westfalen, 1907
Aktenstücke zum Falle Jatho (B), I-VII, Köln o.J. (1911).
Gedruckt
Jatho und Harnack. Ihr Briefwechsel. Mit einem Geleitwort v. Martin Rade, Tübingen 1911.
Briefe, hg. v. Carl Oskar Jatho, Jena 1913.
Werke
Persönliche Religion. Predigten von Carl Jatho, Pfarrer in Köln. Nach Stenogramm gedruckt, 3. Auflage, Köln 1905.
Predigten von Carl Jatho, Pfarrer in Köln. Nach Stenogramm gedruckt, sechste Auflage, Köln 1911.
Fröhlicher Glaube. Ein Andachtsbüchlein, 4. Auflage, Köln 1911.
Zur Freiheit seid Ihr berufen! Die sechszehn Saalpredigten, hg. v. Carl Oskar Jatho, Jena 1913.
Die vier letzten Saalpredigten, Köln 1913.
Der ewig kommende Gott, Jena 1913.
Literatur
Gruch, Jochen (Bearb.), Die evangelischen Pfarrerinnen und Pfarrer im Rheinland von der Reformation bis zur Gegenwart, Band 2, Bonn 2011, Nr. 6085, S. 461f.
Hohlwein, Hans, Jatho, Carl, in: Neue Deutsche Biographie 10 (1974), S. 367 [Online].
Jacobs, Manfred, Jatho, Carl Wilhelm (1851–1913), in: Theologische Realenzyklopädie 16 (1987), S. 525–548.
Keller, Dietrich, Carl Jatho. Prediger der Liebe und der Lebensfreude, in: Monatshefte für evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 28 (1979), S. 217–238.
Koch, Herbert, Nie und nimmer protestantisch, in: Zeitzeichen 8/3 (2007), S. 48-49.
Kuttner, Siegfried, Als die Welt nach Köln schaute. Ein Carl-Jatho-Lesebuch, Köln 2003.
Kuttner, Siegfried, Pfarrer Carl Jatho, in: Monatshefte für evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 52 (2003), S. 212–224.
Schneider, Thomas Martin, Der Fall Jatho. Irrlehrer oder Opfer?, in: Conrad, Joachim [u.a.] (Hg.), Evangelisch am Rhein. Werden und Wesen einer Landeskirche. Düsseldorf 2007, S. 182–184.
Schneider, Thomas Martin, Der Fall Jatho: Opfer oder Irrlehrer?, in: Kerygma und Dogma 54 (2008) 2, S. 78–97.
Wildermuth, Bernd. Carl Jatho, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 2 (1990), Sp. 1579–1580.
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Schwaffertz, Maike, Carl Wilhelm Jatho, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/carl-wilhelm-jatho/DE-2086/lido/612de10584af09.09018117 (abgerufen am 09.12.2024)