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Um 1900 erregte Ernst Haiger mit seinen Jugendstilentwürfen großes Aufsehen. Nachdem er sich historischen Bauformen zuwandte, wurde er in der ersten Hälfte der 20. Jahrhunderts zu einem der gefragtesten Architekten Deutschlands im Bereich der konservativen Bau- und Einrichtungskunst.
Ernst Haiger wurde am 10.6.1874 als jüngstes von fünf Geschwistern in Mülheim an der Ruhr geboren. Sein Vater Philipp Haiger (1836–1911) war Malermeister und Mitinhaber eines Modegeschäfts, in dem seine Mutter Emma, geborene Forst (1836–1906), als Putzmacherin tätig war. Haigers Familie gehörte der protestantischen Konfession an. Bis 1892 besuchte Haiger das Realgymnasium und arbeitete danach für ein Jahr im Mülheimer Bauunternehmen Heinrich Volkenborn GmbH mit. 1894 begann er ein Architekturstudium an der Technischen Hochschule München, wo Friedrich von Thiersch (1852–1951), ein Hauptvertreter des Späthistorismus, sein Lehrer und Förderer wurde. Studienfreunde Haigers, die später Bekanntheit erlangten, waren Wilhelm Kreis und Ludwig Hohlwein (1874–1939).
Mit eigenen Entwürfen trat Haiger erstmals 1896 beim Wettbewerb für das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig in Erscheinung, wo er in die engere Auswahl kam und einen ersten Achtungserfolg erzielte. Nach dem Ende seines Studiums im Jahr 1897 arbeitete er für kurze Zeit im Münchner Büro Martin Dülfers (1859–1942), eines der führenden Jugendstilarchitekten Deutschlands.
Im selben Jahr wurde Haiger erstmals in die Jury der Münchner Glaspalast-Ausstellung berufen. Etwa um diese Zeit begann er eine Bürogemeinschaft mit Henry Helbig (1872–1943), der ebenfalls an der TH München Architektur studiert hatte. 1898 stellten beide im Münchner Glaspalast ein von ihnen entworfenes Musikzimmer aus, das formal an Interieurs der Biedermeierzeit anknüpfte und große Aufmerksamkeit erlangte. Der Raumentwurf, der heute als Pionierwerk des Neobiedermeier in der Architektur anerkannt ist, bedeutete Haigers beruflichen Durchbruch. In der Folge erhielten er und Helbig Aufträge für Einrichtungen, Bauten oder Fassadenentwürfe, unter denen die Häuser Ainmillerstraße 22 und Römerstraße 13 in München zu den Höhepunkten der Jugendstilarchitektur in Süddeutschland zählen. Ebenso wie den Großteil der anderen Entwürfe Helbigs und Haigers um 1900 kennzeichnen beide Häuser eine kräftige Farbigkeit und die Rezeption klassischer oder ägyptischer Bauformen und Motive.

Grundriss der Villa Junghands in Villingen-Schwenningen, 1924 von Ernst Haiger entworfen, Foto: Streck / Schwarzwälder-Bote.
Um 1900 ehelichte Haiger die aus Lodz stammende Emma Richter. Nachdem seine Frau eine Liaison mit seinem Partner Helbig einging, trennte sich Haiger 1903 von seiner Frau und löste auch die Bürogemeinschaft auf. Haiger heiratete danach nicht mehr. Als Architekt wurden nun machte sich Schlossumbauten und der Entwurf anspruchsvoller Villen und Interieurs sein Spezialgebiet. Bei seinen Arbeiten orientierte er sich formal an aristokratischen Wohnformen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, um das Repräsentationsbedürfnis seiner aus gehobenen Bürgertum, Industrie und Adel stammenden Auftraggeber zu erfüllen. Wichtige Werke sind die Villa de Osa am Starnberger See (1908/1909), die Villa Junghans in Villingen-Schwenningen (1924) oder die Villa von Schertel in Wiesbaden (1928).
Auch in seiner Heimat Mülheim erhielt Haiger dank seiner alten, bis in die Schulzeit zurückreichenden Verbindungen mehrere Bauaufträge. Dazu zählen der nicht erhaltene Neubau seines Elternhauses im Notweg (heute Friedrich-Ebert-Straße, 1899), die Villa Denkhaus (heute Haus Remmen) in der Bunsenstraße (1912/1913), der nicht realisierte Entwurf eines Landsitzes für Hugo Stinnes bei Mülheim (1913) und die Anlage einer Gruft für August Thyssen auf Schloss Landsberg (1927/28) bei Kettwig (heute Stadt Essen).

Die Villa Junghans in Villingen-Schwenningen, 1924 von Ernst Haiger entworfen, Foto: Streck / Schwarzwälder-Bote.
Neben seinen Auftragsarbeiten verfolgte Haiger auf eigene Initiative seit 1902 ein ambitioniertes Projekt, das von Richard Wagners Festspielhaus in Bayreuth inspiriert war: Die Errichtung eines „Symphoniehauses“ für die Aufführung der Sinfonien Beethovens. Nach seinen Vorstellungen sollte der Monumentalbau eine Weihestätte für das Werk des Komponisten sein, weshalb Haiger seine architektonische Gestaltung an einen klassischen griechischen Tempel anlehnte. Für das Projekt konnte er namhafte Förderer aus Politik und Kultur gewinnen, darunter König Wilhelm II. von Württemberg (1848–1921), Gerhart Hauptmann (1862–1946) und Thomas Mann (1875–1955). Eine Realisierung des Projekts in Stuttgart, nach 1918 in Baden-Baden, wurde jedoch durch die politischen Umstände – der Erste Weltkrieg und die Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre – verhindert. Im „Dritten Reich“ fand das Vorhaben keine politische Unterstützung.
Neben seinen Arbeiten für private Auftraggeber hatte Haiger ab 1905 zwei weitere Betätigungsfelder: Für das Verkaufsprogramm der “Vereinigten Werkstätten für Kunst im Handwerk“ in München entwarf er seit diesem Jahr Möbel und Interieurs, für die „Wiesbadener Gesellschaft für Grabmalkunst“ Grabmäler. Im Ersten Weltkrieg wurde Haiger eingezogen und 1916–1918 in Russland stationiert. In diese Zeit fiel 1917 die Verleihung des Professorentitels durch den bayerischen König. Nach dem Krieg schränkten Inflation und Rezession die finanziellen Möglichkeiten seiner alten Klientel massiv ein und hatten für ihn zur Folge, dass er in den 1920er Jahren nur noch wenige Bauten realisieren konnte und überwiegend innenarchitektonisch tätig war.

Die Villa de Osa am Starnberger See, entworfen von Ernst Haiger 1908/1909, Foto: Roland Fiedler.
Als die Nationalsozialisten stärkste politische Kraft in Deutschland wurden, trat Haiger 1932 der NSDAP bei. Dazu bewogen haben dürfte ihn vor allem beruflicher Opportunismus, da er vermutlich wie andere traditionell bauende Architekten darauf spekuliert hatte, nach einer nationalsozialistischen Machtübernahme staatliche Aufträge zu erhalten.
Dass Haiger im „Dritten Reich“ einige prestigeträchtige Aufträge für öffentliche Bauten oder Einrichtungen erhielt, war vornehmlich seiner langjährigen Verbindung zu Adolf Hitlers (1889-1945) 1934 verstorbenen Lieblingsarchitekten Paul Ludwig Troost zuzuschreiben. Dessen Witwe Gerdy Troost (1904–2003), eine der engsten Vertrauten Hitlers in Kunst- und Architekturfragen, vermittelte Haiger mehrere Aufträge in München, darunter die Einrichtung einzelner Räume im „Führerbau“ (1936/37) und im „Haus der Deutschen Kunst“ (1936/1937). Seine Bauprojekte dieser Zeit, etwa ein „Neues Odeon“ (1938–1942) oder ein „Neues Schauspielhaus“ (1939–1942), kamen jedoch über die Papierform nicht hinaus. Einzige Ausnahme war der von Haiger realisierte Umbau des deutschen Biennale-Pavillons in Venedig (1938), der nach 1945 wiederholt Gegenstand politischer und denkmalpflegerischer Diskussionen wurde.
Trotz der staatlichen Aufträge stand Haiger als Architekt – verglichen mit Troost oder etwa Albert Speer (1905–1981) im „Dritten Reich“ im zweiten Glied, nicht zuletzt aufgrund seines fortgeschrittenen Alters. So ist die ihm zugedachte, wegen eines Formfehlers letztlich nicht zustande gekommene Verleihung der Goethe-Medaille im Jahr 1944 als Würdigung zurückliegender, weniger aktueller Verdienste zu verstehen; ebenso seine Aufnahme in die sogenannte „Gottbegnadeten-Liste“, die ihn (neben 1040 anderen Künstlern) vom Kriegsdienst freistellte.

Auszug der Ainmillerstraße 22, entworfen von Ernst Haiger und Henry Helbig 1898.
1943 zog Haiger unter dem Eindruck der zunehmenden Luftangriffe auf München nach Wiesbaden, wo im Februar 1945 seine Wohnung durch Bomben zerstört wurde. In der Folge kam er bei Bekannten in Bastheim in der Rhön unter, wo er seine unveröffentlichten Lebenserinnerungen niederschrieb. 1951 kehrte er nach Wiesbaden zurück und war dort weiterhin als Architekt tätig ist. Sein letzter Auftrag war die Neuausstattung der Thyssen-Gruft auf Schloss Landsberg. Noch vor deren Vollendung starb Haiger am 15.3.1952 in Wiesbaden.
Als traditionalistisch bauender Architekt ist Ernst Haiger nach 1945 weitgehend in Vergessenheit geraten. Anders dagegen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, wo Haiger im Bereich der gehobenen Wohnkultur zu den gefragtesten Architekten Deutschlands zählte. Ein volles Auftragsbuch und die Publikation seiner Arbeiten in den renommiertesten Kunstzeitschriften seiner Zeit belegen dies. Kunsthistorische Bedeutung wird heute vor allem Haigers frühen Entwürfen zugemessen, die dem Neobiedermeier wichtige Impulse gaben und dem Jugendstil in Deutschland einzelne Höhepunkte hinzufügten. Weniger spektakulär und „konventioneller“ muten dem heutigen Betrachter dagegen Haigers neohistoristische Arbeiten ab 1903/1904 an. In architektonisch-denkmalpflegerischer Sicht liegt ihre Qualität aber gerade darin, dass sie sich in bauliche Umgebung einfügen und nicht auffallen, sondern gefallen wollen. In diesem Zusammenhang sind Haigers Bauten in erster Linie als Zeugen ihrer Zeit zu sehen, da sich in ihnen geschmackliche Konventionen und architektonische Vorstellungen widerspiegeln, wie sie bei den Spitzen der industriellen Klassengesellschaft des Deutschen Kaiserreichs und noch in der Weimarer Republik verbreitet waren.
Werke
Projekte im Rheinland
Mülheim an der Ruhr, Haus Haiger, Entwurf, 1899.
Mülheim an der Ruhr, Wettbewerb Johanneskirche, 1905.
Mülheim an der Ruhr, Wettbewerb Rathaus, zweite Auswahl, 1910–1911.
Koblenz-Oberwerth, Villa Prentzel, 1911.
Eltville, Landhaus Sierstorpff, Einrichtung, 1911–1912.
Mülheim an der Ruhr, Villa Denkhaus, 1912–1913.
Mülheim an der Ruhr, Projekt für ein Landhaus für Hugo Stinnes, 1913.
Kettwig, Gruftkapelle für August Thyssen auf Schloss Landsberg, 1927–1928.
Bedeutende Projekte außerhalb des Rheinlandes
Leipzig, Wettbewerb Völkerschlachtdenkmal, engere Wahl, 1896–1897.
München, Wettbewerb zu Einfamilienhäusern für die Villenkolonie Pasing, mit Henry Helbig, 1897–1899.
München, Musikzimmer auf der Glaspalast-Ausstellung, mit Henry Helbig, 1898.
Rosenheim, Villa Wittelsbach, mit Henry Helbig, 1898–1899.
München, Haus Ainmillerstr. 22, Entwurf Fassade, mit Henry Helbig, 1899.
München, Café Leopold, Innenausstattung, mit Henry Helbig, 1899.
München, Haus Römerstr. 11, Entwurf Fassade, mit Henry Helbig, 1899–1900.
München, Haus Römerstr. 13, Entwurf Fassade, mit Henry Helbig, um 1899–1901.
München, Palais Freyberg, Umbau, mit Henry Helbig, 1901–1902, 1906.
Dresden, Villa Boehm, 1906.
Augsburg Herrenhaus Schwabhof, Umbau, 1907.
Bad Bellingen, Schloss Rheinweiler, Umbau, 1908.
München, Ausstellung „München 1908“, Herrentoilettezimmer, 1908.
Berg-Kempfenhausen, Villa de Osa, 1908–1909.
Tübingen, Villa Reiss, 1910.
Lubie, Schloss Ober Lubie, Umbau, 1910–1911.
Babenhausen, Schloss Babenhausen, Einrichtung von fünf Räumen, 1911.
Schöntal, Schloss Aschhausen, Erweiterung, 1912–1914.
Saarbrücken-Brebach, Gemeindehaus der evangelischen Gemeinde, 1913.
Tannheim, Gruftkapelle der Grafen von Schaesberg, 1913.
München, Villa Kannengießer, 1921–1922.
Berg-Kempfenhausen, Seehaus für Villa de Osa, 1922.
Seeshaupt, Ateliergebäude für Walter Firle, um 1922.
Teplitz-Schönau, Villa Stein, 1924.
Villingen-Schwenningen, Villa Junghans, 1924.
Wiesbaden, Villa von Schertel, 1928.
Wiesbaden ,Haus Henkell, Inneneinrichtung, um 1930.
Weimar, Wettbewerb Gauforum, 1936.
Bastheim, Jagdhaus Henkell, 1936.
München, Einrichtung von Kasino und Bar im „Führerbau“, 1936–1937.
München, Einrichtung von „Bierstüberl“ und Bar im „Haus der Deutschen Kunst“, 1936–1937.
München, Gästehaus der Stadt München „Haus Tannhof“, Einrichtung, um 1936–1937.
Venedig, Deutscher Pavillon für die Biennale, Umbau, 1938.
München, Neues Odeon, Entwurf, 1938–1942.
München, Neues Schauspielhaus, Entwurf, 1939–1942.
Wiesbaden, Haus Henkell, Inneneinrichtung, 1948–1952.
Wiesbaden, Ratskeller, Inneneinrichtung, 1951.
Schriften
Über die künstlerischen Aufgaben in der Architektur, in: Deutsche Bauzeitung 37. Jg., 1903, S. 150; ebd., 38. Jg., 1904, S. 289 f.
Der Tempel, das apollinische Kunstwerk der Zukunft, in: Die Musik 24 (1906/07), S. 350–356 (und Beilagen).
Tempel und Symphonie, Jena 1910.
Literatur
Bucciarelli, Piergiacomo, L'abitare eclettico di E.H. alle soglie del moderno, Opus [Chieti] 7, (2003), S. 439-452.
Bucciarelli, Piergiacomo, Ernst Haiger – Der Antimodernist, in: Baumeister, 111 (2014), Heft 6, S. 28–34.
Grolmann, Wilhelm von, Ernst Haiger. Grabmonumente und Reihengrabsteine, Berlin 1907.
Haiger (jun.), Ernst, Haiger, Ernst, in: Allgemeines Künstlerlexikon, Bd. 68, Berlin [u. a.] 2010, S. 20–21.
Hassler, Uta/Kainz, Korbinian Stilfragen und Staatsrepräsentation, in: Lehnerer, Alex/Ciriacidis, Savvas (Hg.), Bungalow Germania. Deutscher Pavillon – 14. Internationale Architektur-Ausstellung. La Biennale Venezia 2014. Ostfildern 2014, S. 89–123.
Heyden, Thomas, Biedermeier als Erzieher. Studien zum Neubiedermeier in Raumkunst und Architektur 1896–1910, Weimar 1994.
Schober, Gerhard, Frühe Villen und Landhäuser am Starnberger See, Waakirchen-Schaftlach 1998.
Sörgel, Herman, Ernst Haiger, München 1930.
Eine umfangreiche Monographie des Autors über Ernst Haiger befindet sich derzeit in Vorbereitung.

Der Deutsche Biennale-Pavillon in Venedig nach seinem Umbau durch Ernst Haiger, der ursprüngliche Pavillon wurde 1909 von Daniele Donghi entworfen, um 1938.
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Nüßlein, Timo, Ernst Haiger, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/ernst-haiger/DE-2086/lido/58f753a39e79f6.14980384 (abgerufen am 11.02.2025)
Veröffentlicht am 19.04.2017, zuletzt geändert am 15.03.2023