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Franz Vonessen verweigerte als leitender Stadtarzt des Kölner Gesundheitsamtes in der NS-Zeit als Katholik die Mitgliedschaft in NS- Organisationen. Als er auch die Mitwirkung an gesetzlich verordneten Zwangsterilisationen verweigerte, wurde er 1937 in den Ruhestand versetzt. Nach dem Krieg war er als Leiter des Kölner Gesundheitsamtes am Wiederaufbau des Gesundheitswesens maßgeblich beteiligt.
Franz Vonessen – katholischer Urenkel eines konvertierten Essener Juden – wurde am 10.11.1892 als drittjüngstes von zehn Kindern einer katholischen Kaufmannsfamilie in (Essen-) Rellinghausen geboren. Nach dem Besuch der Volksschule in Essen und des humanistischen Gymnasiums in Steele begann er 1911 mit dem Medizinstudium in Freiburg. 1915 wurde er Unterarzt in Trier, Rosbach und Bonn sowie 1919 Assistenzarzt im Kölner St. Vinzenz-Krankenhaus. 1920 heiratete er die Lehrerin Hedwig Küppers. Aus der Ehe gingen später fünf Töchter und ein Sohn hevor.
Nach Tätigkeit als Arzt in rheinischen Krankenanstalten war er von 1921 bis 1935 Stadtarzt am Kölner Gesundheitsamt. Nach rastlosem Einsatz vor allem im Interesse der ärmeren Bevölkerung und fachpublizistischem Engagement wurde er 1934 mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ konfrontiert. Dass er kein NSDAP-Mitglied und politisch „unzuverlässig“ war, war längst bekannt. Außerdem waren seine Kinder der „Hitlerjugend“ ferngeblieben. Oberbürgermeister Dr. Günter Riesen (1892-1951, Amtszeit 1933-1936) hatte ihm bereits im Dezember 1933 mitgeteilt, er habe beim Preußischen Innenministerium seine Versetzung in ein Amt von geringerem Rang beantragt. Vonessen schrieb dem Oberbürgermeister und später dem Innenminister, dieses Vorgehen berühre ihn, der nach besten Kräften seine Pflicht erfüllt habe, sehr schmerzlich. Vom Recht auf Versetzung in den Ruhestand wollte er keinen Gebrauch machen. Daraufhin wies ihm der Beigeordnete für Gesundheitswesen der Stadt Köln Dr. Karl Coerper (1886-1960, Amtszeit 1926-1945) eine Stelle auf der anderen Rheinseite zu. Vonessen brauchte anderthalb Stunden, um sie von seiner Wohnung im Stadtteil Braunsfeld aus mit der Straßenbahn zu erreichen.
Bedrohlich wurde für ihn die Verpflichtung, bei Zwangssterilisationen mitzuwirken. Bereits 1933 hatte die nationalsozialistische Regierung mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ die Grundlage für ihre Politik der Eugenik und „Rassenhygiene“ geschaffen. Obwohl die Erblichkeit der gesetzlich definierten „Erbkrankheiten“ – zum Beispiel Schwachsinn, Schizophrenie, Blindheit – selbst unter den Befürwortern des Gesetzes durchaus umstritten war, wurden in der NS-Zeit schließlich 400.000 Männer und Frauen gegen ihren Willen unfruchtbar gemacht und seelisch dauerhaft geschädigt.
1935 wurde Dr. Vonessen von Dr. Coerper vor die Entscheidung gestellt, sich zur Beantragung solcher gesetzlich geforderten Zwangssterilisationen bereit zu finden oder den Dienst zu quittieren. Unter Hinweis auf seine weltanschaulichen und religiösen Grundsätze lehnte Vonessen die Erfüllung des Gesetzes ab und wurde daraufhin von der Stadtverwaltung in Pension geschickt. Oberbürgermeister Dr. Karl Georg Schmidt (1904-1940, Amtszeit 1936-1940) sprach ihm für die „in langjähriger Amtszeit geleisteten treuen Dienste aufrichtigen Dank und Anerkennung aus. Heil Hitler!“
Eine lebensgefährliche schwere Hirnhautentzündung warf den populären Arzt Monate lang aufs Krankenbett. Während er krank daniederlag, beteiligten sich einige seiner Kollegen an der Erfüllung der NS-Gesetze, so etwa Karl Pesch (1889-1941), Oberarzt am Kölner „Hygiene-Institut“, außerordentlicher Professor und Direktor des Kölner Museums für Volkshygiene. Im Gesundheitsamt stellte er die Anträge auf „Unfruchtbarmachung“. Die Operationen wurden in der Chirurgischen Universitätsklinik „Lindenburg“ und der mit ihr verbundenen Universitäts-Frauenklinik sowie im Evangelischen Krankenhaus Weyertal durchgeführt.
Vonessen musste diese Praktiken nicht mit verantworten. Nach seiner Genesung baute er im Herbst 1937 mühsam – er wurde von den Reichsversicherungskassen nicht zugelassen – eine Privatpraxis auf. Selbst NSDAP-Mitglieder fanden sich hier ein, meist freilich nur solche, die sich innerlich von der Partei gelöst hatten. Auch jüdische Mitbürger kamen zu ihm, besonders nach der Reichspogromnacht. Viele baten um Atteste, die eine Auswanderung erleichtern konnten. Das Belgische Konsulat ernannte ihn zum Vertrauensarzt.
Bei den Nationalsozialisten geriet er nun immer mehr in Misskredit, und die Krankenkasse kündigte ihm die Mitgliedschaft für die gesamte Familie. Als ab Herbst 1941 Juden die Emigration versagt wurde, verhalf Vonessen manchen zu einem Versteck oder versorgte sie mit Lebensmitteln und Lebensmittelkarten der eigenen Familie. Nach Fliegerangriffen Untergetauchten verhalf er zu solchen Karten, indem er sie als fliegergeschädigt unter falschen Namen anmeldete. Die britischen Luftangriffe legten verstärkt ab dem 30./31.5.1942 („Tausend-Bomber-Angriff“) weite Teile Kölns in Schutt und Asche, darunter auch seine im ersten Stock eines Mietshauses gelegene Arztpraxis. Bei den Luftangriffen im Oktober 1944 wurden auch seine neue Praxis und sein Privathaus im bisher verschonten Stadtteil Braunsfeld zerstört. Die Familie überlebte im Luftschutzkeller.
Nachdem er den Bombenkrieg mit Ehefrau und drei Töchtern – der Sohn war Soldat an der Ostfront – zuerst in Köln und dann bei Verwandten im ebenfalls schwer zerstörten Pforzheim überlebt hatte, übernahm er auf Bitten der US-Besatzungsmacht im Mai 1945 die Leitung des Kölner Gesundheitsamtes. Die Familie lebte in zwei Zimmern eines Krankenhauses und setzte den Rest ihres Privathauses notdürftig wieder in Stand.
Vonessen organisierte den Aufbau des zerstörten Gesundheitswesens. Vom Gesundheitsamt waren beim Einzug der Amerikaner noch ein Arzt (früher 32 Ärzte), neun Beamte und Angestellte (früher 95) und neun Fürsorgerinnen (früher 60) übrig geblieben. Auf Anordnung der Militärregierung mussten allerdings 19 frühere NSDAP-Mitglieder wieder ausscheiden, sodass nur noch drei Angestellte des Gesundheitsamts und acht Fürsorgerinnen unter Leitung eines Medizinalrats übrig blieben, der dann aus Altersgründen von Dr. Vonessen abgelöst wurde.
Die städtischen Krankenhäuser waren bis auf ein kleines in Worringen kaum arbeitsfähig. Es fehlte an Betten und Ärzten, Krankentransportwagen und Röntgeneinrichtungen. Der Gesundheitszustand der Menschen machte Vonessen große Sorge; er registrierte Kreislauferkrankungen, Unterernährung und die Zunahme der Tuberkulose. Im Oktober 1945 schilderte er in einem Vortrag die bescheidenen Fortschritte in der ärztlichen Versorgung, der Säuglingsfürsorge, der Kindergartenarbeit, der Ärztlichen Untersuchung und Überwachung der Schulkinder, der Familienfürsorge, der Tuberkulosefürsorge und der Fürsorgestelle für Körperbehinderte. Ohne auf die organisierten Krankenmorde in den „Euthanasie“-Anstalten einzugehen, stellte er fest: „Auch die Fürsorge für Nervöse und Geisteskranke weist bereits wieder 500 Betreute auf.“ Im Blick auf das Elend der von Hungerkrankheiten und Kriegsverletzungen Gezeichneten bemerkte er: „Man kann nach alledem nur sagen, daß wir auch auf gesundheitlichem Gebiet ein Trümmerfeld vor uns sehen, und mit Bitterkeit und Zähneknirschen erinnern wir uns: Auch dies verdanken wir dem Führer!“ Die Mittäter und Mitläufer, auch in den eigenen Reihen, erwähnte er – entsprechend dem vergangenheitspolitischen Schweigen jener Jahre – nicht. Viele von ihnen machten in der Folgezeit Karriere. Der ehemalige Gesundheitsamtsleiter Coerper wurde 1946 Berater beim Evangelischen Hilfswerk in NRW. Ferdinand Claußen (1899-1971), ehemals Direktor des „Instituts für Erbbiologie und Rassenhygiene“ wurde 1948 Chefarzt im Kreiskrankenhaus Waldbröl. Dozent Dr. Wolf Bauermeister (1907-1975), der das „Erbgesundheitsgesetz“ mangels deutschen Lebensraums nach wie vor für notwendig hielt, wurde außerordentlicher Professor.
Vonessen blieb in der Gesundheitspolitik und Gesundheitsfürsorge tätig. Die Sorge um qualifiziertes Pflegepersonal lag ihm dabei besonders am Herzen. Unter seiner Leitung entstanden in der Nachkriegszeit zwölf von den Krankenhäusern unterhaltene Krankenpflegeschulen, vier Säuglingspflegeschulen, drei Schulen für medizinisch-technische Assistentinnen, eine Diätschule, eine Hebammenschule für Ordensschwestern, zwei Wochenpflegeschulen sowie eine Krankengymnastik- und eine Massageschule. Um angesichts der starken Bettenbelegung lebensgefährlich Erkrankter oder Verletzter die nötige Pflege zu sichern, stimmten alle Krankenanstalten kurz vor Ende seiner Amtszeit dem Plan zu, das Stadtgebiet in Notfall-Aufnahmebereiche einzuteilen.
1957 ging er, inzwischen auch als Vorsitzender des Gesundheitsausschusses des Deutschen Städtetages bekannt, in Pension. Oberbürgermeister Theo Burauen würdigte seine Weigerung, „sich dem Zwang der Diktatur“ und des Erbgesundheitsgesetzes zu beugen. Oberstadtdirektor Max Adenauer (1910-2004, Amtszeit 1953-1965) lobte Tatkraft, Fleiß, Bescheidenheit, Selbstlosigkeit, Frömmigkeit und Nächstenliebe des Jubilars, vor allem auch seine Weigerung, „Befehle auszuführen, die kein gesitteter und sittlich hoch stehender Mensch ausführen konnte“. Ironie der Geschichte: Medizinalrat Dr. Dr. Walther Auer , der damals eben jene Befehle eifrig befolgt hatte, war inzwischen Obermedizinalrat im Gesundheitsamt! Im Dezember 1957 erhielt Vonessen anlässlich seines Ausscheidens aus dem öffentlichen Dienst, ähnlich wie zuvor sein Vorgänger Dr. Coerper (!), den Verdienstorden 1. Klasse der Bundesrepublik Deutschland, acht Jahre später noch das große Verdienstkreuz des Verdienstordens.
Dr. Franz Vonessen starb am 11.4.1970 in Köln. Er wurde auf dem Friedhof Melaten begraben.
Werke (Auswahl)
Die Stellung des Arztes zum Landaufenthalt (Familienpflege) für Kinder, in: Klinische Wochenschrift 4 (1925), Heft 48, S. 1-10.
Tuberkulosefürsorge in der Großstadt, in: Klinische Wochenschrift 38 (1925), Nr. 7, S. 289-300.
Neuzeitliche Aufgaben eines städtischen Gesundheitswesens, in: Kommunalpolitische Blätter 17 (1926), Heft 8, S. 161-165.
Beiträge im „Lexikon der Pädagogik der Gegenwart“, hg. v. Deutschen Institut für wissenschaftliche Pädagogik, Münster in Westfalen, Band 1, 1930: Bad und Schulbad (Sp. 179-180); Gesundheitsamt (Sp. 1017); Gesundheitslehre (Sp. 1021); Hygiene (Sp. 1202-1203); Impfung (Sp. 1208). - Band 2, 1931: Krankheiten und Erziehung und Schule (Sp. 94-95); Schularzt, Schulärztin (Sp. 794-797); Schulhygiene (Sp. 849).
Die ersten Auswirkungen der Sparmaßnahmen auf die Einrichtungen der Gesundheitsfürsorge und der Gesundheitszustand in deutschen Stadt- und Landkreisen, Archiv für Soziale Hygiene und Demographie, Band 7, 1932, Heft 4, S. 1-5.
Sparmöglichkeiten im Krankenhaus: Minderung der Arzneikosten, in: Zeitschrift für das gesamte Krankenhauswesen, 1932, Heft 4.
Das Krankenhaus als Mittelpunkt der Gesundheitsfürsorge, in: Zeitschrift für das gesamte Krankenhauswesen, 1934, Heft 11, S. 245-250.
Zur Auswahl für die Heil- und Erholungsfürsorge, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift, 1935, Nr. 3-5, S. 1-20.
Neuordnung des Gesundheitswesens, in: Caritas. Zeitschrift für Caritaswissenschaft und Caritasarbeit, 1935, Heft 8, S. 38-57.
Welche Möglichkeiten bietet das Gesetz zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens für die Mitarbeit der freien Wohlfahrtspflege?, in: Caritas. Zeitschrift für Caritaswissenschaft und Caritasarbeit, 1936, Heft 1, S. 1- 29.
Zur Frage „Entlastung der Krankenschwester von ärztlichen Verrichtungen“, in: „Das Krankenhaus“, Zeitschrift für das gesamte Krankenhauswesen, 1955, Heft 10, S. I-IV. C. Krankenhausverwaltung und -betriebsführung, in: Das öffentliche Gesundheitswesen, hg. v. J. Daniles [u.a.], Band 2, Stuttgart 1964, S. 361-397.
Literatur
Schmidt, Klaus, Das gefährdete Leben. Der Kölner Arzt und Gesundheitspolitiker Franz Vonessen (1892-1970), Köln 2004.
Schmidt, Klaus, Der Kölner Arzt und Gesundheitspolitiker Franz Vonessen (1892-1970), in: Deres, Thomas (Hg.), Krank – gesund. 2000 Jahre Krankheit und Gesundheit in Köln, Köln 2005, S. 296-297.
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Schmidt, Klaus, Franz Vonessen, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/franz-vonessen/DE-2086/lido/57c9389eda8a84.52218603 (abgerufen am 05.06.2023)