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Gustav Classens war städtischer Musikdirektor von Bonn und hat während des Zweiten Weltkriegs das Musikleben der Stadt unter schwierigsten Bedingungen aufrecht erhalten. Seine Wiederaufbauarbeit in der Nachkriegszeit gilt als legendär.
Geboren wurde Gustav Xavier Maria August Classens am 12.10.1894 in Aachen als Sohn von August Classens (1849–nach 1902) und seiner Ehefrau Maria Classens, geborene Jessen. Der Vater, ein bekannter Aachener Fotograf, der 1889 mit der Goldene Medaille für Photographie ausgezeichnet worden war, führte in der Hochstraße 19 ein Atelier.
Nach dem Besuch des Realgymnasiums begann Classens 1913 am Kölner Konservatorium ein Musikstudium, wobei er von Otto Klauwell (1851–1917) am Klavier, von Franz Bölsche (1867–1933) und Konrad Ramrath (1880–1972) in Musiktheorie sowie von Ewald Strässer (1869–1935) in Partiturspiel unterrichtet wurde. Unterbrochen wurde sein Studium durch den Ersten Weltkrieg, an dem Classens als Gefreiter teilnahm und 1915 schwer verwundet wurde. 1919 kehrte er zurück ans Konservatorium, diesmal in die Dirigierklasse von Hermann Abendroth (1883–1956). Weitere Lehrer waren Peter Dahm (1877–1947), Klavier, und August von Othegraven (1864–1946), Partiturspiel und Instrumentation. 1923 legte Classens in den Fächern Dirigieren und Klavier die Reifeprüfung ab. Anschließend trat er als Pianist auf und assistierte Abendroth bei den Kölner Gürzenich-Konzerten. Im selben Jahr gründete er, auf Anregung Abendroths, das Kölner Kammerorchester – heute das älteste Kammerorchester Deutschlands –, mit dem er am 30.11.1923 im Kölner Kunstverein am Friesenplatz erstmalig auftrat. 1930 und 1934 gab das Kammerorchester enthusiastisch gefeierte Gastspiele unter der Leitung Abendroths in Bonn.
Erste größere Leitungsaufgaben nahm Classens 1924 bei der Godesberger Kurverwaltung-Konzertgesellschaft als Musikdirektor wahr, wo er auch das Dirigat des Kurorchesters inne hatte. Ein Jahr später übernahm er daneben noch die Funktion des Städtischen Musikdirektors in Witten an der Ruhr. Mit der Bonner Musikszene kam er erstmals in Kontakt, als er 1927 die Bonner Chöre für das große Beethovenfest zum 100. Todestag des Komponisten einstudierte. Daneben sprang er in der Konzertsaison 1926/1927 sowie 1930 vermehrt für den schwerkranken Generalmusikdirektor Max Anton (1877–1939) ein, der 1930 aus Krankheitsgründen um frühzeitige Versetzung in den Ruhestand bitten musste. In der Folge kam es in Bonn zu einem dreijährigen Interregnum, das erst 1933, nur wenige Wochen nach Hitlers „Machtergreifung“, beendet wurde, als der Bonner Musikausschuss den Godesberger Musikdirektor Gustav Classens einstimmig ins vakante Amt des Städtischen Musikdirektors wählte. Am 1.4.1933 fand seine Amtseinführung statt. Daneben 1928–1935 Leiter der Orchesterklassen der Staatlichen Musikhochschule Köln, übernahm Classens zudem 1935–1939 die musikalische Oberleitung der Oper sowie 1936–1941 die Direktion des Städtischen Konservatoriums (ehemals Ziskoven-Konservatorium), das 430 Schüler zählte.
In Bonn trat der frisch gekürte Musikdirektor ein schweres Amt an. Durch die dreijährige Zeit ohne feste Direktion, hatte das Bonner Musikleben stark gelitten. Neben Anton war 1931 auch der für die Oper zuständige Kapellmeister Heinrich Sauer (1870–1955) – ebenfalls aus gesundheitlichen Gründen – in den Ruhestand getreten, so dass für Oper und Konzerte nur Aushilfsdirigenten, in erster Linie Hermann Abendroth, zur Verfügung standen. Classens vordergründige Aufgabe bestand also zunächst im Konsolidieren des Musikbetriebs, erst dann im Ausbauen. Sein hochgestecktes Ziel formulierte er in einem Interview in der später von den Nationalsozialisten verbotenen „Deutschen Reichs-Zeitung“ mit den Worten: Ich möchte alles daransetzen, daß Bonn als Beethovenstadt den Rang gewinnt, den Salzburg als Mozartstadt innehat.
Dieses Ziel zu erreichen wurde zusätzlich erschwert durch die seit Januar 1933 veränderte politische Lage aufgrund der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Der Versuch, sich der Einflussnahme der NS-Parteiorganisationen zu erwehren, misslang von vorne herein. Am 11.7.1933 wurde der bestehende Bonner Musikausschuss aufgelöst, Chor und Orchester gleichgeschaltet, indem sie nun dem Kulturdezernenten unterstellt wurden – so, wie es die NS-Reichsmusikkammer in allen größeren Städten durchgesetzt hatte. Jüdische Musiker wurden aus dem Orchester entfernt, ebenso wie später die mit jüdischen Ehefrauen verheirateten „arischen“ Künstler. Dennoch gelang es Classens in gewissem Rahmen, sich durch geschicktes Taktieren Freiräume für sein Orchester zu schaffen. So war es ein ganz offensichtliches Zugeständnis an das neue Regime, die Konzertsaison 1934 mit der Erstaufführung des dem „Führer“ gewidmeten „Deutschen Heldenrequiems“ des erst 19-jährigen NS-Komponisten Gottfried Müller (1914–1993) beginnen zu lassen. Zugleich ging Classens auf Distanz zur fanatischen Nationalsozialistin und glühenden Hitler-Verehrerin Elly Ney, die in Bonn die Organisation der „Volkstümlichen Beethovenfeste“ übernommen hatte. Dass es Classens trotz aller Schwierigkeiten gelang, den künstlerischen Anspruch auf gewohnt hohem Niveau zu halten, belegen die Konzertprogramme dieser Jahre: 1933/1934 sang der Chor zweimal das Elisabeth-Oratorium von Joseph Haas (1879–1960), Bachs Johannes- und Matthäuspassion, Beethovens 9. Sinfonie sowie die Chorfantasie; daneben gab es die 4. Sinfonie von Schumann, Pfitzners Violinkonzert und die lange nicht mehr in Bonn erklungene sinfonische Dichtung „Ein Heldenleben“ von Richard Strauss (1864–1949). Die Spielzeit 1934/1935 brachte unter anderem Bruckners 9. Sinfonie, Bachs Matthäuspassion, Haydns Jahreszeiten, Beethovens Missa solemnis und die 9. Sinfonie, Händels „Samson“, Bachs h moll-Messe und einen ganz dem Andenken Max Regers (1873–1916) gewidmeten Abend mit zwei Bonner Erstaufführungen.
Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs war eine Aufrechterhaltung des Konzertbetriebs nur unter schwierigsten Bedingungen möglich. Gemeinsam mit rund einem Viertel der Orchestermitglieder wurde Classens zum Wehrdienst einberufen, wobei es der Stadt zunächst gelang, eine Freistellung wenigsten am Wochenende zu erwirken, um noch Konzerte durchführen zu können. So gelangten bis 1940 Händels Fest-Oratorium, Bachs Johannespassion, Haydns Schöpfung, Bachs Weihnachtsoratorium und Beethovens Missa solemnis zur Aufführung. Auch Beethovens 9. Sinfonie wurde am 28.1.1940 zu einem umjubelten Ereignis. Danach wurde Classens bis 1943 unwiderruflich eingezogen, und in Bonn mussten der Kölner Generalmusikdirektor Eugen Papst (1886–1956) und der sich im Ruhestand befindliche Heinrich Sauer einspringen.
Trotz drohender Lebensgefahr durch den Luftkrieg, dem Bonn seit dem 22.5.1940 ausgesetzt war, gingen die Konzerte weiter, selbst als am 12.11.1943 bei einem schweren Angriff auf die Stadt die alte Beethovenhalle in Schutt und Asche versank und ein kontinuierlicher Proben- und Aufführungsbetrieb schier unmöglich wurde. Doch wichen Chor und Orchester in den Bürgerverein an der Poppelsdorfer Allee (an der Stelle steht heute das Hotel Bristol), ins Metropol-Theater (heute Buchhandlung Thalia) und in die Universität aus, um für große Chor-Orchester-Konzerte zu proben, die dann in der Kreuzkirche und im Münster stattfanden. Auch das 14. Beethovenfest musste 1944 unter Classens Leitung in die Aula der Universität verlegt werden. Selbst als am 18.10.1944 beim verheerendsten Luftangriff auf Bonn sämtliche Konzert- und Theaterräume zerstört wurden, erlag das Musikleben nicht vollständig. Kaum waren die ersten Trümmer notdürftig beseitigt, spielte man wieder im Saal der Rheinischen Landesklinik an der Kölnstraße, in der Turnhalle der Liebfrauenschule in der Königsstraße, im Akademischen Kunstmuseum und im Museum Alexander Koenig. Trotz eines im Umfang stark reduzierten Notprogramms in der Spielzeit 1943/1944 verdoppelten sich die Abonnementzahlen während des Krieges von 460 auf 970.
Der Zusammenbruch des „Dritten Reichs“ war bekannter Maßen total. Dennoch fand in Bonn bereits am 16.12.1945 die erste Nachkriegsaufführung unter Classens Leitung mit Beethovens „Missa solemnis“ in der Bonner St. Marienkirche in der Adolfstraße statt. Die Wiederaufbauarbeit, die Classens leistete, war legendär. Nur dadurch gelang es ihm, schon in der Spielzeit 1946/1647 zwölf Sinfoniekonzerte im Metropol sowie vier Chor-Orchester-Konzerte in verschiedenen Kirchen aufzuführen. Gegeben wurden 1946 Bachs Johannespassion, Bruckners Te Deum und f-moll Messe, Beethovens 9. Sinfonie, Haydns Schöpfung und Brahms Deutsches Requiem; 1947 Bachs Matthäuspassion, Händels Samson und Suters Laudi di S. Francesco. 1948 folgten Bachs h-moll Messe sowie die Matthäuspassion, Bruckners Te Deum und Verdis Requiem. Selbst die Beethovenfeste konnten nach nur einjähriger Unterbrechung 1946 unter Classens Leitung wiederaufgenommen werden.
Trotz Classens unbestrittener Verdienste entschied sich der Musikausschuss 1948/1949 zu einem Wechsel an der Musikspitze, was seinerzeit große Diskussionen auslöste und die Musikfreunde in zwei Lager spaltete. Am 30.5.1949 gab Classens beim Beethovenfest sein Abschiedskonzert nach 16 Jahren als Bonner Musikdirektor. Sein Nachfolger wurde Otto Volkmann (1888–1968).
1948–1960 wirkte Classens als Leiter der Orchesterklassen sowie als Lehrer für Partiturspiel und Instrumentation in der Direktions-, Chorleiter- und Kirchenmusikabteilung der Staatlichen Musikhochschule Köln. 1952–1966 unterrichtete er zudem als Musiklehrer an der Otto-Kühne Schule in Bonn-Bad Godesberg. Daneben leitete er fast 40 Jahre lang die Bonner Bach-Gemeinschaft (heute Bach-Chor Bonn), die er 1949 selbst gegründet hatte. Am 18.6.1977 verstarb Gustav Classens in Bonn.
Literatur
Fellerer, Karl Gustav (Hg.), Rheinische Musiker, 5. Folge, Köln 1967, S. 31.
Henseler, Theodor Anton, Der Bonner Städtische Gesangverein. Vorgeschichte, Gründung und Chronik 1852–1952, in: Bonner Geschichtsblätter 7 (1953), S. 186-189.
Heyer, Helmut, Kultur in Bonn im Dritten Reich, Bonn 2002.
Niesen, Josef Niesen, Bonner Personenlexikon, 3. Auflage, Bonn 2011, S. 91-92.
Rey, Manfred van/Herttrich, Ernst/Schlee, Thomas Daniel (Hg.), Die Beethovenfeste in Bonn 1845–2003, 2 Bände, Bonn 2003.
Schloßmacher, Norbert (Hg.), 100 Jahre Beethovenorchester Bonn, Bonn 2007.
Stadt Bonn (Hg.), 75 Jahre Orchester der Beethovenhalle, vormals Städtisches Orchester Bonn (1907–1982), Bonn 1982.
Wagner, Herbert, Die Bonner Bachgemeinschaft und die Programme ihrer Konzerte in der Zeit von 1949-1971 unter der Leitung von Gustav Classens, in: Bonner Geschichtsblätter 24 (1971), S. 143-174.
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Niesen, Josef, Gustav Classens, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/gustav-classens-/DE-2086/lido/5ccbff62359c82.14257115 (abgerufen am 01.12.2024)