Zu den Kapiteln
Schlagworte
Heinrich Carl Breidenstein war der erste Inhaber eines musikwissenschaftlichen Lehrstuhls in Deutschland und eine der wichtigsten Persönlichkeiten im Musikleben des Rheinlands im 19. Jahrhundert.
Geboren wurde Heinrich Carl Breidenstein – der seine beiden Vornamen in späterer Zeit häufig in umgekehrter Reihenfolge setzte, was zu einiger Verwirrung in der Literatur führte – am 28.2.1796 in Steinau (Hessen) als Sohn des Organisten und Mädchenschullehrers Friedrich Ernst Breidenstein (verstorben vor 1812) und dessen Ehefrau Juliane Jakobine Friederike Wagner. Seine erste musikalische Ausbildung erhielt er naturgemäß schon früh durch Vater und Großvater, beides Lehrer und Organisten, bevor er bereits mit 16 Jahren das Hanauer Gymnasium abschloss. Danach nahm ihn sein Onkel, Vorsteher des Pädagogiums von Homburg, zur weiteren Ausbildung zu sich, bevor Breidenstein 1813 als Freiwilliger am Befreiungskrieg gegen Napoleon teilnahm. 1815 nahm er in Berlin zunächst ein Studium der Rechtswissenschaften auf, wandte sich jedoch bald den philosophischen Vorlesungen Friedrich Schleiermachers (1786–1834) zu und hörte zudem ästhetische und historische Vorlesungen. 1816 wechselte er sein Studienfach endgültig und immatrikulierte sich an der Universität Heidelberg für Philosophie bei Friedrich Hegel (1770–1831) und Philologie bei Friedrich Creuzer (1771–1858). Große Bedeutung für sein späteres Leben erlangte vor allem seine Begegnung mit dem berühmten Juristen Anton Friedrich Justus Thibaut (1742–1840), der Breidensteins musikästhetische Anschauungen wesentlich prägen sollte.
1817/1818 Erzieher im Hause des württembergischen Staatsministers, Graf Georg Ernst Levin von Wintzingerode (1752–1834), in Stuttgart, kehrte Breidenstein anschließend zurück nach Heidelberg, wo er eine Stelle als Oberlehrer am „Erziehungs-Institut für Knaben“ des Kirchenrats Friedrich Schwarz (1766–1837) angenommen hatte. Daneben hielt er allem Anschein nach öffentliche Vorträge über Musiktheorie – möglicherweise an der Heidelberger Universität, – nicht jedoch, wie in der Literatur oft fälschlich angegeben, akademische Vorlesungen. Teilweise hielt er sich auch in Darmstadt auf, wo er mit dem Organisten und Enkelschüler Johann Sebastian Bachs (1685–1750), Heinrich Christian Rinck (1770–1846), in Verbindung kam, der ebenfalls starken Einfluss auf den jungen Breidenstein ausübte.
1821 reiste Breidenstein nach Bonn, um sich, versehen mit einem Empfehlungsschreiben des preußischen Gesandten am großherzoglichen Hof von Darmstadt, an der neugegründeten Universität für die Stelle eines Universitätsmusikdirektors zu bewerben. Um auch Vorlesungen halten zu können, beantragte er zudem an der Universität Gießen seine Promotion in absentia mit der unvollendet gebliebenen Schrift „Versuch über das Schöne in der Musik“ und einem Zeugnis seines Lehrers Hegel. Erstaunlicherweise erhielt er bereits einen Monat später, trotz nicht beendeten Studiums, ohne Examen und mit einer nur fragmentarisch ausgearbeiteten Dissertation den Grad eines Doktors der Philosophie. Doch dauerte es noch bis 1823, möglicherweise wegen der Verhandlungen über sein Gehalt, bis Breidenstein endgültig zum akademischen Musikdirektor in Bonn ernannt wurde. In der Zwischenzeit lebte er in Köln, hielt dort zweimal wöchentlich gut besuchte Vorträge über Musiktheorie und trat mit eigenen Kompositionen an die Öffentlichkeit.
1823 siedelte er ganz nach Bonn über und legte am 25. Oktober, unmittelbar nach seiner Ernennung, der Fakultät sein Habilitationsgesuch für das Fach Musikwissenschaft vor. Mit Hinweis auf seine hochgelobte Dissertation verzichtete die Universität auf eine neuerliche Habilitationsschrift und nahm Breidenstein als Dozenten auf. Seine Antrittsvorlesung hielt er am 1.5.1824 über „De natura cantus ecclesiastici eiusque emendandi modis“. Nach kaum fünf Monaten beantragte Breidenstein seine Ernennung zum außerordentlichen Professor, die ihm zuvor vom preußischen Kultusministerium ausdrücklich zugesagt worden war, sofern er sich in seinem neuen Amt bewähren würde. Doch hatte sich die Stimmung an der Universität gegen ihn gewandt, da Breidenstein, der von Beginn an großen Einfluss auf das Musikleben Bonns ausübte, sich mit der Studentenschaft überworfen hatte, die in ausdrücklicher Opposition zu dessen Singverein einen eigenen „Bonner Musikverein“ gründeten. Erst 1826 befürwortete die Fakultät auf Intervention Johann Jacob Noeggeraths (1788–1877) Breidensteins Ernennung. Dass er kaum ein Jahr später seine ganze musikalische Arbeit in Bonn fallen ließ und stattdessen um seine Beurlaubung bat, ist ein Ausdruck seines unsteten Charakters.
Breidenstein zog nach Berlin, hielt wieder gut bezahlte öffentliche Vorträge und gab Privatunterricht, um seine finanzielle Situation zu verbessern. Als er nach anderthalb Jahren 1828 nach Bonn zurückkehrte, musste er feststellen, dass ihm sein überstürztes Fernbleiben keine Freunde gemacht hatte. Während des Karnevals wurde er in Scherzannoncen in der Presse öffentlich verspottet und ein beißender Witz in Form einer fiktiven Examensfrage nach dem musikalischsten und unmusikalischsten Stein machte die Runde: ersteres sei der Basalt (Bass-Alt), letzteres der Breidenstein.
Zudem hatte sich während seiner Absenz im städtischen Musikleben Peter Grabeler (1796–1830) als ernstzunehmende Konkurrenz etabliert. Für Breidenstein begann nun eine recht bittere Zeit, war doch seine musikwissenschaftliche Professur nicht mit einem Gehalt verbunden und reichte seine Besoldung als akademischer Musikdirektor trotz Nebeneinnahmen kaum zum Leben. Durch mehrfache Erkrankungen geriet er in eine solche finanzielle Schieflage, dass er sich, trotz verschiedener außerplanmäßiger Zuwendungen der Universität, verschulden musste. 1831 veröffentlichte er im Auftrag des Kultusministeriums eine „Praktische Singschule, enthaltend geordnete Uebungen für Stimmbildung, Takt und Notentreffen, nebst einer Auswahl mehrstimmiger Gesänge für weibliche Stimmen“ in fünf Heften.
Trotz seiner misslichen Lage gelang Breidenstein, der sich in Bonn seit 1823 durch eine Vielzahl Konzerte auch als Dirigent etabliert hatte, in jenen Jahren das Kunststück, das vollkommen zersplitterte Bonner Musikleben und die vielen konkurrierenden Musikvereinigungen durch die Gründung des „Musikverein(s) bei der Lese- und Erholungsgesellschaft“ unter seiner Leitung zu vereinen. Dennoch konnte er in der Folge nicht alle divergierenden Interessen ausgleichen oder gar eine eigene Konzeption durchsetzen, was die neue Vereinigung bereits nach nur einem Jahr wieder auseinander fallen ließ. Selbst sein letzter noch verbliebener Unterstützer, Universitäts-Kurator Philipp Joseph von Rehfues (1779–1843), musste resigniert feststellen, daß bisher alle Anstrengungen des Herrn Breidenstein vergebens gewesen sind, auf die musikalischen Strebungen sowohl in den Kreisen der Studenten als des übrigen städtischen Publikums einen leitenden Einfluß von Bedeutung und Dauer zu gewinnen.
Zu allem Überfluss erschien im selben Jahr (1834) der dritte Band des Briefwechsels zwischen Zelter (1758–1832) und Goethe (1749–1832), in dem Zelter sich recht unerfreulich über Breidenstein äußerte. Das Bekanntwerden des Briefs und seine öffentliche Demütigung ließ Breidenstein ein Hilfeersuchen an Rehfues richten, das ergänzt wurde durch eine Note des Historikers Karl Dietrich Hüllmann, in der es heißt: ... Breidenstein befindet sich in gänzlicher ökonomischer Zerrüttung und ist der Verzweiflung nahe. Daraufhin erteilte das Ministerium Breidenstein den Auftrag, für 150 Taler jährlich den Theologiestudenten Orgelunterricht zu erteilen.
1838 änderte sich die Lage in der Bonner Musikszene noch einmal vollständig, als der Altphilologe Friedrich Heimsoeth (1814–1877) aus Anlass einer Gedenkfeier zum Tode von Ferdinand Ries mit der Aufführung von Händels „Messias“ und einem eigenen Singverein in Erscheinung trat. Dummerweise fand nur vier Tage später eine Aufführung von Mendelssohns „Paulus“ durch Breidenstein und seinen Musikverein statt. Nun traten also gleich zwei Chorvereinigungen mit großen Oratorien hervor, die in ihrer musikalischen Auffassung nicht gegensätzlicher hätten sein können. Auf der einen Seite der ambitionierte Laie und streng konservative Cäcilianer Heimsoeth, auf der anderen Seite der fortschrittliche Musikprofessor Breidenstein, der sich vehement für die Neuerer der Musik wie Franz Liszt (1811-1886) oder Hektor Berlioz (1803-1869) einsetzte. In den Folgejahren wuchs aus der Gegnerschaft der musikalischen Kontrahenten eine intime Feindschaft, die öffentlich durch wechselseitige abfällige Bemerkungen in der Presse ausgetragen wurde. Namentlich Heimsoeth ging zu massiven publizistischen Pöbeleien in der „Kölnischen Zeitung“ über, teils durch anonym erschienene Artikel, zu denen er sich erst später bekannte. Breidenstein ist es dabei hoch anzurechnen, dass er trotz aller Schmähungen immer wieder versuchte, das Bonner Musikleben unter seiner Leitung zu vereinen und auf ein höheres Niveau zu bringen.
Ganz besonders stark setzte Breidenstein sich für die Errichtung eines Beethoven-Monuments ein, das am 12.8.1845 in Anwesenheit des preußischen Königs und anderer hoher Würdenträger mit einer großen Inaugurationsfeier eingeweiht wurde. Mehr als zehn Jahre engagierte er sich, zum Teil als Vorsitzender des Denkmal-Komitées, mit Eifer für diese Idee, sammelte Spendengelder und gewann Franz Liszt als Hauptsponsor, was ihm von konservativer Seite wiederum viel Kritik einbrachte. Auch bei den späteren Hauptfeierlichkeiten, dem ersten Bonner Beethovenfest, trat er als Dirigent und Organisator in Erscheinung. Da das Fest aufgrund verschiedener Umstände in einem Desaster endete, brachte auch dies Breidenstein nur Häme, Spott, Undank und Verleumdungen ein, weshalb er sich resignierend aus der Öffentlichkeit zurückzog, was ihn nicht davor schütze, für die ganze Bonner Misere mit den zerstrittenen Musikvereinigungen, die sich in rascher Folge bildeten und wieder untergingen, in mehreren Artikeln in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ verantwortlich gemacht zu werden.
Zu einer letzten großen Auseinandersetzung zwischen dem mittlerweile ganz zurückgezogen lebenden Breidenstein und dem Kreis um Heimsoeth kam es im Vorfeld zu einer Feier zu Beethovens 100. Geburtstag. Im Mittelpunkt standen diesmal der Dirigent Joseph von Wasielewski (1822–1896) und der Historiker Heinrich von Sybel, Sprachrohr der konservativen Bonner Gesellschaft. Heimsoeth hatte es zunächst geschafft, Wasielewski als städtischen Musikdirektor zu etablieren; jetzt versuchte man unter Federführung von Sybels, Breidenstein an der Universität abzusetzen und Wasielewski zum Universitätsmusikdirektor zu ernennen. Ein 1875 unter Ausschaltung der Fakultät unmittelbar beim Senat gestellter Antrag auf Zwangspensionierung Breidensteins – mit dem zusätzlichen Antrag, Wasielewski auf die freiwerdende Stelle zu berufen – wurde zwar nach Anhörung Breidensteins abgelehnt, doch hatte die Aufregung dem fast 80-Jährigen so zugesetzt, dass er Ende Mai 1876 von sich aus sein Abschiedsgesuch einreichen musste.
Am 12.7.1876 verstarb Heinrich Carl Breidenstein an den Folgen eines Schlaganfalls in Bonn.
Seine eigenen kompositorischen Arbeiten, vorzugsweise Orgelstücke, Lieder und Männerchöre, blieben leider vollkommen ohne Bedeutung. Seine Lehrtätigkeit an der Universität war dagegen von großer Wichtigkeit, denn mit ihm wurde zum ersten Mal in der neueren deutschen Universitätsgeschichte ein musikwissenschaftlicher Lehrstuhl besetzt. Trotz alle seiner Anstrengungen und seiner heute unbestrittenen Verdienste wurde Breidenstein zu einer tragischen Figur im Musikleben der Stadt Bonn. Dennoch war er eine der wichtigsten Persönlichkeiten im musikalischen Rheinland des 19. Jahrhunderts.
Schriften
Praktische Singschule, 6 Hefte, Bonn 1831.
Festgabe zu der am 12ten August 1845 stattfindenden Inauguration des Beethoven-Monuments, Bonn 1845.
Breidenstein, H. K., Festgabe zu der am 12ten August 1845 stattfindenden Inauguration des Beethoven-Monuments, Bonn 1845, Faksimile-Druck, Bonn 1983.
Werke (Auswahl)
1820 - Selig sind die Toten, Motette.
1825 - Wenn ich ihn nur habe, Motette (nach einem Gedicht von Novalis).
1834 - Romanzen und Lieder für Alt und Klavier.
1845 - Festkantate zur Einweihung des Beethoven-Monuments für gemischten Chor und Orchester.
1855 - Variationen über „Ein feste Burg“ für Orgel, ohne Jahr, Requiem im alten Stil.
Literatur
Henseler, Theodor Anton, Das musikalische Bonn im 19. Jahrhundert, Bonn 1959.
Kross, Siegfried, Heinrich Carl Breidenstein 1796–1876, in: 150 Jahre Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn, Geschichtswissenschaften, Bonn 1968, S. 432–448.
Niesen, Josef, Breidenstein, Heinrich Carl, in: Niesen, Josef, Bonner Personenlexikon, 3. Auflage, Bonn 2011, S. 67.
Online
Eitner, Robert, Breidenstein, Heinrich Carl, in: Allgemeine Deutsche Biographie 47, Leipzig 1903, S. 217-218. [Online]
Kahl, Willi, Breidenstein, Heinrich Carl, in: Neue Deutsche Biographie, Band 2, Berlin 1955, S. 572. [Online]
Bitte geben Sie beim Zitieren dieses Beitrags die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Niesen, Josef, Heinrich Carl Breidenstein, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/heinrich-carl-breidenstein-/DE-2086/lido/57c588431ae9d4.80451080 (abgerufen am 10.12.2024)