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Hildegard Hamm-Brücher gehörte seit Mitte der 1950er Jahren zu den bekanntesten bundesdeutschen Politikerpersönlichkeiten, was nicht zuletzt an ihrer herausragenden Rolle in einer Zeit lag, in der Politikerinnen in der Bundesrepublik allgemein und in ihrer Wahlheimat Bayern speziell noch als etwas Außergewöhnliches angesehen wurden. Mit ihrem Engagement für Bildungsreformen und Frauenemanzipation, später auch eine Parlamentsreform und die Aufarbeitung der NS-Zeit löste sie sowohl bei der politischen Konkurrenz als auch in ihrer eigenen Partei, der FDP, bis ins hohe Alter heftige Diskussionen aus, galt aber gleichzeitig über viele Jahrzehnte allgemein als „Grande Dame des Liberalismus“.
Hildegard Brücher wurde am 11.5.1921 in Essen geboren. Ihr Vater Paul Brücher (1883-1931) stammte aus einem westfälischen Bauerngeschlecht und leitete schließlich als Jurist eine Berliner Tochtergesellschaft der Essener Th. Goldschmidt AG, welche heute Teil von Evonik Industries ist. Die Mutter Lilly (1892-1932) kam aus der ehemals jüdischen, dann zum Protestantismus konvertierten Dresdner Brauerfamilie Pick: sie bestimmte die konfessionelle Ausrichtung der insgesamt fünf Kinder, zu der zunächst auch der Dahlemer Pfarrer Martin Niemöller (1892-1984), bald darauf führendes Mitglied der „Bekennenden Kirche“, beitrug. Als beide Eltern kurz nacheinander Anfang der 1930er Jahre verstarben, wurde die Großmutter mütterlicherseits, Else Pick (1871-1942), für Hamm-Brücher zur Erziehungsberechtigten, was auch einen Wechsel vom Dahlemer „Gertrauden-Lyceum“ zum „Mädchengymnasium“ in Dresden-Neustadt mit sich brachte.
Starken Einfluss auf ihren Bildungsweg hatte die Tatsache, dass Hamm-Brücher seit den Nürnberger Rassegesetzen von 1935 als „Halbjüdin“ galt. Dem damit verbundenen Druck suchte sie sich durch weitere Schulwechsel, zunächst an das bekannte Internat in Salem und dann an das Konstanzer Mädchengymnasium zu entziehen, wo sie Ostern 1939 das Abitur ablegte. Wegen der Möglichkeiten, die Pflicht-Zeit im Reichsarbeitsdienst durch ein kriegswichtiges Fach zu verkürzen, nahm sie 1940 in München ein Chemiestudium auf. Kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges wurde sie mit einer Untersuchung über „Hefemutterlaugen bei der Ergosterin-Gewinnung“ von Heinrich Wieland (1877-1957), Träger des Nobelpreises für Chemie seit 1927, promoviert. Wieland hielt auch wiederholt seine schützende Hand über seine „halbjüdische“ Schülerin, zu deren weiterem Bekanntenkreis Mitglieder der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ gehörten, was Hamm-Brücher langfristig ebenso prägte wie der Selbstmord naher Verwandter aus Angst vor der Verschleppung in ein Konzentrationslager.
1945 erhielt sie eine Anstellung als Redakteurin bei der von der amerikanischen Besatzungsmacht herausgegebenen „Neuen Zeitung“, in der die politische Umerziehung ein Schwerpunkt war. Entscheidend für ihren weiteren Lebensweg wurde ein Jahr später eine Begegnung mit dem württembergisch-badischen Kultminister und späteren Bundespräsident Theodor Heuss (1884-1963, Bundespräsident 1949-1959), der sie von einer Politik auf der Basis einer süddeutsch-demokratischen Spielart des Liberalismus überzeugte. Bereits 1948 kandidierte Hamm-Brücher auf der FDP-Liste zum Münchner Stadtparlament und wurde Deutschlands jüngste Stadträtin. 1950 wiederholte sie diesen Erfolg mit der Wahl zur jüngsten bayrischen Landtagsabgeordneten, nachdem ihr zuvor die USA ein Stipendium für ein Aufbaustudium in Politikwissenschaft an der Harvard University gewährt hatten.
Im bayrischen Landtag, dem sie von 1950 bis 1966 und dann von 1970 bis 1976 angehörte, erregte die „Zugereiste“ Aufsehen, sowohl durch ihr weltgewandt-elegantes Auftreten als auch ihre dezidiert linksliberale Positionierung, die sich vor allem an der konservativen Schulpolitik der CSU rieb. Dies hinderte sie aber nicht daran, eine persönliche Beziehung mit dem CSU-Politiker Erwin Hamm (1909-2008) einzugehen, den sie 1956 heiratete und mit dem sie einen Sohn – geboren 1954 – und eine fünf Jahre jüngere Tochter hatte.
Hamm-Brüchers selbstbewusstes und zum Teil auch eigenwilliges Auftreten fanden aber nicht nur beim politischen Gegner, sondern zeitweise auch in den eigenen Reihen eine zwiespältige Aufnahme: 1962 versuchten konservative FDP-Kreise in Oberbayern ihren Wiedereinzug in den Landtag durch eine schlechte Listenplatzierung zu verhindern. Die Aktion erwies sich als Bumerang, denn Hamm-Brücher bekam die Unterstützung führender Liberaler wie des früheren Landes- und Bundesvorsitzenden Thomas Dehler (1897-1967) und einer überparteilichen Wählerinitiative und wurde von den bayrischen Wählern mit großem Abstand an die Spitze der FDP-Kandidaten und in den Landtag gewählt. Nicht zum einzigen Mal erwies sie sich als „liberale Wahllokomotive“ in Bayern, was 1964 zu ihrem Einzug in den FDP-Bundesvorstand führte, in dem sie - mit einer Unterbrechung zwischen 1976 und 1984 - bis 1991, zeitweise als stellvertretende Parteivorsitzende, blieb. Anfang 1967 schaffte sie es sogar aus einer außerparlamentarischen Position heraus, mittels eines Volksbegehrens so viel politischen Druck aufzubauen, dass ein Jahr später die „christliche Gemeinschaftsschule“, eine alte liberale Forderung, auch in Bayern zur Regelschule wurde.
Auch wegen der fortgesetzten Querelen in ihrem bayrischen Landesverband, der 1966 trotz ihrer Kandidatur den Einzug in den Landtag verfehlte, nahm Hamm-Brücher 1967 den Ruf auf den Staatssekretärsposten im hessischen Kultusministerium an, obwohl das Land von der SPD mit absoluter Mehrheit regiert wurde. Ministerpräsident Georg August Zinn (1901-1976, Ministerpräsident 1950-1969) suchte die bildungspolitische Kompetenz seiner Regierung durch das Renommee von Hamm-Brücher, die inzwischen als anerkannte Bildungsexpertin galt, zu erhöhen. Diese, die seit langem zu den Befürwortern eines sozial-liberalen Bündnisses zählte, wechselte jedoch schon 1969 nach Bildung der SPD-FDP-Koalition auf Bundesebene in gleicher Funktion in das Bundesbildungsministerium.
Nach einem erneuten Zwischenspiel als liberale Fraktionsvorsitzende in Bayern wurde Hamm-Brücher bei der Bundestagswahl 1976 erstmals in das Bonner Parlament gewählt. Außenminister Hans-Dietrich Genscher (1927-2016, Außenminister 1974-1992) ernannte sie bald darauf zur Staatsministerin im Auswärtigen Amt, wo sie die erste Frau in dieser Funktion war. Sie verantwortete dabei die auswärtige Kulturpolitik, deren Etat in den sechs Jahren ihrer Amtszeit um 50 Prozent stieg.
Ihre innerparteiliche Positionierung wurde erneut im Zuge der koalitionspolitischen Wende deutlich, die die FDP 1982 vollzog: Hamm-Brücher stand loyal zum bisherigen Zusammengehen mit der Sozialdemokratie und lehnte das von ihrer Fraktion mehrheitlich unterstützte Konstruktive Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Helmut Schmidt (1918-2015, Bundeskanzler 1974-1982) ab, was sie auch in einer vielbeachteten und heftig diskutierten Bundestagsrede bei diesem Anlass zum Ausdruck brachte. Nach der Bildung des Kabinetts von Helmut Kohl (geboren 1930, Bundeskanzler 1982-1998) wurde sie durch den weiterhin amtierenden Außenminister Genscher nicht erneut zur Staatsministerin berufen, sondern blieb seitdem „einfache“ Abgeordnete.
Fortan galt sie als prinzipielle Kritikerin des FDP-Kurses in der Bundespolitik, wurde aber dennoch noch zweimal auf der bayrischen Landesliste in den Bundestag gewählt. Dort legte sie nun einen Schwerpunkt ihres Wirkens auf eine Reform des Parlaments, die die Stellung des einzelnen Abgeordneten vor allem gegenüber den Fraktionen stärken sollte; auf sie ging 1984 die „Interfraktionellen Initiative Parlamentsreform“ zurück, von deren Ergebnissen sie sich aber enttäuscht zeigte, da der „dritten Weg zwischen Honoratioren- und Parteienparlamentarismus“ nicht so leicht zu finden war.
Außerparlamentarisch machte sie sich vor allem für die Aufarbeitung der NS-Zeit, das Wachhalten der Erinnerung an den Widerstand gegen Adolf Hitler (1889-1945) und die Förderung des demokratischen gesellschaftlichen Engagements stark. Ein wichtiges Instrument war dabei neben ihrer regen publizistischen Arbeit die von Hamm-Brücher 1964 ins Leben gerufene, überparteiliche „Theodor-Heuss-Stiftung“. Diese zeichnet seitdem jedes Jahr Bespiele für „vorbildliches demokratisches Handeln“ aus und weist eine große Reihe bekannter Preisträger aus dem In- und Ausland auf. Der Stiftungsname ist kein Zufall gewesen, denn dem Gedenken an den ersten Bundespräsidenten widmete sie sich ebenfalls intensiv und sah sich selbst in gewisser Weise als seine politische Erbin.
Insofern war es eigentlich nur konsequent, dass sich Hamm-Brücher gut drei Jahre nach ihrem offiziellen Abschied aus der Politik im Frühjahr 1994 als Kandidatin der FDP für die Bundespräsidentenwahl aufstellen ließ. Angesichts ihrer Gegenkandidaten, der späteren Bundespräsidenten Johannes Rau (1931-2006, Bundespräsident 1999-2004)) und Roman Herzog (1934-2017, Bundespräsident 1994-1999), waren ihre Aussichten von vornherein gering, immerhin erhielt sie jedoch in den ersten beiden Wahlgängen wesentlich mehr Stimmen, als die FDP in der Bundesversammlung vertreten war. Dass ihre Partei sie für den dritten Wahlgang nicht mehr antreten ließ, um durch die Wahl des christdemokratischen Kandidaten Herzog den Fortbestand der Bonner Koalition mit der CDU/CSU zu sichern, führte allerdings mittelfristig zu Misshelligkeiten zwischen ihr und der FDP.
Diese brachen dann 2002 offen aus, als Hamm-Brücher aus Verärgerung über den Kurs, den der nordrhein-westfälische Landesvorsitzende Jürgen Möllemann (1945-2003) verfolgte und der als antisemitisch interpretiert werden konnte, ihren Austritt aus der FDP erklärte. Die hessischen Grünen beriefen sie später in die Bundesversammlungen von 2010 und 2012; einer Partei gehörte sie nicht mehr an, wiewohl es bei ihrem Tod Gerüchte über einen beabsichtigten Wiedereintritt in die FDP gab. Nach eigener Auffassung verstand sie sich in den letzten Jahren als „freischaffende Liberale“. Wie schon früher schadeten diese parteipolitischen Querelen nicht ihrem öffentlich Ansehen; bis in die letzten Lebensjahre blieb sie eine gefragte Gesprächspartnerin für Interviews und Talkshows.
Vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Bundesverdienstkreuz, der Buber-Rosenzweig-Medaille und mehreren Ehrendoktortiteln, starb Hildegard Hamm-Brücher am 7.12.2016 in der bayrischen Landeshauptstadt. Die Beerdigung fand in der dortigen St. Lukaskirche in Anwesenheit von Bundespräsidenten Joachim Gauck (geboren 1940, Bundespräsident 2012-2017) und unter großer Anteilnahme der Bevölkerung sowie von ehemaligen Weggefährten und Konkurrenten aus der Politik statt. Ihre letzte Ruhestätte bekam die Münchner Ehrenbürgerin im Familiengrab auf dem Waldfriedhof im Stadtteil Großhadern.
Werke (Auswahl)
Auf Kosten unserer Kinder? Bramsche/Osnabrück 1965.
Aufbruch ins Jahr 2000 oder Erziehung im technischen Zeitalter, Reinbek 1967.
Gegen Unfreiheit in der demokratischen Gesellschaft. Aufsätze-Debatten-Kontroversen, München 1968.
Vorkämpfer für Gerechtigkeit und Demokratie in Bayern und Bonn. Reden, Aufsätze, Dokumente, Bonn o. J. [1974].
Der Politiker und sein Gewissen. Eine Streitschrift für mehr Freiheit, München 1983.
(Zusammen mit Hermann Rudolph) Theodor Heuss. Eine Bildbiographie, Stuttgart 1983.
Gerechtigkeit erhöht ein Volk. Theodor Heuss und die deutsche Demokratie, München 1984.
Politik als Frauenberuf – kein Heldinnen- oder Märtyrerepos, in: Funcke, Liselotte (Hg.), Frei zu sein, um andere frei zu machen, Berlin/Herford 1984, S. 15-24.
Der freie Volksvertreter. Eine Legende? München 1990.
Freiheit ist mehr als ein Wort. Eine Lebensbilanz, Köln 1996.
Erinnern für die Zukunft. Ein zeitgeschichtliches Nachlesebuch 1991-2001, München 2001.
Ich bin so frei. Hildegard Hamm-Brücher im Gespräch mit Sandra Maischberger, München 2003.
Und dennoch ... Nachdenken über Zeitgeschichte - Erinnern für die Zukunft, München 2011.
Literatur
Noack, Paul (Hg.), Hildegard Hamm-Brücher. Mut zur Politik, weil ich die Menschen liebe, München 1981.
Salentin, Ursula, Hildegard Hamm-Brücher. Der Lebensweg einer eigenwilligen Demokratin, Freiburg 1987.
Schilling, Helmuth von, Wag zu sein wie Daniel. Hildegard Hamm-Brücher: eine Einzelkämpferin als Vorbild? Krefeld 1987.
Hildegard Hamm-Brücher. Eine Präsidentin für alle, München 1994.
Grunenberg, Nina, Hildegard Hamm-Brücher (*1921), in: Sarkowicz, Hans (Hg.), Sie prägten Deutschland. Eine Geschichte der Bundesrepublik in politischen Porträts, München 1999, S. 199-212.
Leutheusser-Schnarrenberger, Sabine, Hildegard Hamm-Brücher. Ein Leben für Freiheit und Demokratie, in: Schwaetzer, Irmgard (Hg.), Die liberale Frauenbewegung – Lebensbilder, Berlin 2007, S. 167-182.
Weber, Klaus, Der Linksliberalismus in der Bundesrepublik um 1969. Konjunktur und Profile, Frankfurt/M. [u. a.] 2012.
Eder, Jacob S., Liberale Flügelkämpfe. Hildegard Hamm-Brücher im Diskurs über den Liberalismus in der frühen Bundesrepublik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 64 (2016), S. 291-325.
Online
Hildegard Hamm-Brücher beim „Haus der bayrischen Geschichte“. [online]
Interview mit dem „Süddeutsche Zeitung Magazin“. [online]
Würdigung des „Bayrischen Rundfunks“ zum 95. Geburtstag. [online]
Nachrufe online
in der „Süddeutschen Zeitung“. [online]
der FAZ. [online]
der ZEIT. [online]
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Frölich, Jürgen, Hildegard Hamm-Brücher, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/hildegard-hamm-bruecher/DE-2086/lido/5bc5b487a9da51.87691882 (abgerufen am 09.12.2024)