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Im frühen 20. Jahrhundert waren die Naturwissenschaften fast ausnahmslos eine Männerdomäne. Die Beiträge der Frauen, die den Einschränkungen ihrer Zeit trotzten, sind jedoch von großer Bedeutung. Zu diesen bemerkenswerten Frauen zählt die Chemikerin Ida Noddack. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Walter Noddack (1893-1960) und dem Chemiker Otto Berg (1874-1939) entdeckte sie 1925 das nach ihrer rheinischen Heimat benannte Element Rhenium. Sie war zudem eine der ersten Wissenschaftler, die die Möglichkeit der Kernspaltung erkannten.
Die Familie Tacke lebte um die Jahrhundertwende auf Gut Wohlgemut in Wesel-Lackhausen, wo Ida als dritte Tochter am 25.2.1896 geboren wurde. Ihre Eltern waren der katholische Lackfabrikant Adalbert Tacke (1857-nach 1926) und die Bocholterin Hedwig Danner (1869-1920). Idas Interesse für Technik und Naturwissenschaft dürfte durch den elterlichen Betrieb geweckt worden sein.
Nach dem Besuch einer Privatschule für höhere Töchter und dem Abschluss des Abiturs in Aachen begann Ida Tacke 1915 an der Technischen Hochschule in Berlin-Charlottenburg als einzige Frau ein Studium der Ingenieurwissenschaften. Daneben war sie Mitglied in einer Damenverbindung und besuchte Vorträge von Frauenrechtlerinnen. In die Vorlesung eines Philosophieprofessors, der Frauen in Vorlesungen nicht duldete, schmuggelte sie sich als Mann verkleidet. Nach dem Abschluss des Ingenieur-Diploms 1919 folgten zwei Jahre später die Dissertation und der Doktortitel in Chemie. Ihre erste Anstellung fand Ida Tacke im Chemielabor der Berliner Turbinenfabrik der AEG.
Ida Tacke und Walter Noddack (1893-1960) lernten sich 1922 kennen. Er war Schüler des Nobelpreisträgers Walther Nernst (1864-1941) und hatte in Berlin Chemie, Physik und Mathematik studiert. Nach seiner Promotion 1921 wurde er als Assistent an der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt angestellt. Ida Tacke kündigte bei der AEG und arbeitete fortan unbezahlt mit Walter zusammen. 1926 heiratete das Paar. Eine Rückkehr nach Wesel schloss Ida Noddack aus – sehr zur Enttäuschung des Vaters, der gehofft hatte, seiner Tochter die heimische Lackfabrik übergeben zu können.
Obwohl man das Periodensystem im 19. Jahrhundert nach und nach gefüllt hatte, blieben einige Positionen ungeklärt, darunter die Elemente 43 und 75. Gemeinsam mit Otto Berg (1874-1939), Chemiker und Spezialist für Röntgenstrahlung, machten die Noddacks sich daran, diese Lücken zu füllen. Nach mühsamer Anreicherung und Analyse des Röntgenspektrums verkündeten die Forscher 1925 die Entdeckung von Element 75. Die Proben gaben eine schwache radioaktive Strahlung ab, was als Beweis für die Existenz eines weiteren Elements gedeutet wurde. Sie vermuteten dahinter Element 43. In Anlehnung an Idas Herkunft wurde Element 75 auf den Namen Rhenium getauft. Walters Familie stammte aus dem ostpreußischen Masuren, entsprechend erhielt das Element 43 den Namen Masurium. Der Erfolg wurde bald angezweifelt, was eine Untersuchung neuer Proben erforderlich machte. Eine Reproduktion der Ergebnisse gelang allerdings nur für das Element 75. Versuche, die Existenz des Elements 43 durch Reproduktion nachzuweisen, scheiterten. Ungeachtet der Ablehnung ihrer Kollegen, beharrte Ida Noddack auf der Korrektheit ihrer Ergebnisse. Sie sollte Recht behalten. Doch erst zwölf Jahre später, im Jahr 1937, wurde Element 43 an der Universität Palermo künstlich erzeugt und unter dem Namen Technetium bekannt.
Dennoch brachte die Entdeckung des Elements Rhenium mehrere Auszeichnungen und Patente mit sich, zum Beispiel für die Flugzeug- und Raketentechnik. Zwischen 1932 und 1937 wurde das Ehepaar mehrmals für den Nobelpreis nominiert. Verliehen wurde er ihnen allerdings nie – möglicherweise auch angesichts der politischen Entwicklungen in Deutschland. Zu den weiteren Errungenschaften der Noddacks zählen Erkenntnisse über den Kohlenstoffkreislauf, die Photochemie des menschlichen Auges und die Auflösung von Nierensteinen. Auch gelang es ihnen Spuren seltener Elemente in Meteoriten nachzuweisen, womit sie zu den ersten Forschern der Kosmochemie zählen.
1934 sorgte Ida Noddacks Antwort auf Experimente des italienischen Physikers Enrico Fermi (1901-1954) für Aufsehen. Fermi hatte gut 60 Elemente mit Neutronen beschossen und eine große Zahl an Umwandlungsprodukten gewonnen. Experimentiert hatte er auch mit Uran, das damals noch keinen rechten Nachbarn im Periodensystem hatte. Das gewonnene Produkt deutete Fermi als ein Transuran, ein Element mit einer höheren Ordnungszahl als Uran und schwerer als das Ausgangselement. Ida Noddack widersprach dem und mutmaßte, dass bei der Beschießung schwerer Kerne mit Neutronen diese Kerne in mehrere größere Bruchstücke zerfallen – kurzum, dass Fermis Experimente auf eine Kernspaltung hinwiesen.
Führende Wissenschaftler taten diesen Ansatz als unzulässig ab. Der Zerfall schwerer Kerne in kleinere und leichtere Bruchstücke galt als ausgeschlossen und widersprach dem damaligen Wissensstand über die Physik des Atomkerns. Stattdessen wurde die Hypothese der Transurane weiterverfolgt und brachte Fermi 1938 den Nobelpreis ein. Sie endete schließlich in einer Sackgasse, als sich herausstellte, dass Fermis Experiment falsch interpretiert worden war. Das erste Transuran mit der Ordnungszahl 93, Neptunium, wurde zwei Jahre später durch amerikanische Forscher synthetisiert. Zu den Wissenschaftlern, die Idas Noddacks Theorie ablehnten, gehörte auch Otto Hahn (1879-1968). Gemeinsam mit dem Chemiker Fritz Straßmann (1902-1980) und der Kernphysikerin Lise Meitner (1878-1968) setzte er Fermis Forschungsarbeiten fort. 1944 sollte Hahn für die Entdeckung der Kernspaltung der Nobelpreis für Chemie verliehen werden. Erst 1966, kurz vor seinem Tod, erkannte er die frühe Erkenntnis seiner Kollegin Ida Noddack über die Kernspaltung in einem Radiointerview an.

Porträt Walter Noddack, undatiert. (Archive Walter and Ida Noddack-Tacke/ University Archives, KU Leuven)
1933 kamen die Nationalsozialisten an die Macht. Einfluss hatte dies auch auf die Naturwissenschaften. Versuche, die Forschungszweige gemäß nationalsozialistischer Ideologien zu vereinnahmen, führten zur Entwicklung der sogenannten ‚Deutschen Chemie‘. Deren Grundannahme besagte, dass die einheitlichen Gesetze der Naturwissenschaften im Einklang mit der behaupteten Rangordnung der ‚Rassen‘ stünden. In diesen ideologisch vergifteten Verhältnissen zogen die Noddacks 1935 nach Freiburg im Breisgau, wo Walter eine Professur am Institut für Physikalische Chemie übernahm. Diese Position hatte zuvor Georg von Hevesy (1885-1966) innegehabt, ein ungarischer Chemiker jüdischer Abstimmung, der im Jahr zuvor nach Dänemark geflüchtet war. Manche Angestellte der Universität begegneten den Noddacks mit Ablehnung und Vorbehalten. Ida Noddack trug als Frau entgegen der NS-Weltansicht berufliche und wissenschaftliche Verantwortung. In einem Staat, der den Mutterkult zelebrierte, blieb den Noddacks zudem der Kinderwunsch unerfüllt. Einen ‚Ersatz‘ fand Ida Noddack wohl in den Kindern des befreundeten Chemikers Ludwig Holleck (1904-1976). Die beiden Ehepaare blieben zeitlebens befreundet.
Das Verhältnis der Noddacks zum Nationalsozialismus war ambivalent. Ludwig Hollecks Mitgliedschaften in der NSDAP und im NS-Dozentenbund scheinen die Freundschaft nicht beeinträchtigt zu haben. 1942 wurde Walter an die von den Nationalsozialisten gegründete sogenannte Reichsuniversität in Straßburg versetzt. Dort waren die meisten Professoren NSDAP-Mitglied. Walter trat der Partei jedoch nicht bei und weigerte sich, einen Ariernachweis zu führen. Im Entnazifizierungsprozess 1946 wurde er von den Alliierten entlastet, sodass die Noddacks ihre Forschung bald wieder aufnehmen durften. Dennoch ließen sich nicht alle Verdächtigungen ausräumen. Emilio Segrè (1905-1989), ein jüdischer Physiker, der 1938 in die USA flüchtete, erzählte später, Walter habe ihn 1937 in Palermo in SA-Uniform besucht. Auch Otto Hahn und Lise Meitner distanzierten sich von den Noddacks, die dem Gerücht, zumindest durch Inkaufnahme der politischen Umstände profitiert zu haben, nie ganz entkamen. Eine objektive Einschätzung ist mehr als ein Dreivierteljahrhundert später schwierig.
Mit der Landung der Alliierten in Frankreich 1944 sahen sich die Noddacks zur Evakuierung aus Straßburg gezwungen. Die Laborausrüstung schafften sie in das oberfränkische Grundfeld, wo ein provisorisches Labor entstand. Nachrichten aus ihrer alten Heimat Wesel, das im Februar und März 1945 durch den Vormarsch der Alliierten zu 97 Prozent zerstört worden war, erreichten Ida Noddack erst im September. 1946 fand Walter eine Anstellung an der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Bamberg. Nach wie vor im Besitz ihrer alten Ausrüstung, gründeten sie ein privates Forschungsinstitut für Geochemie. Ida Noddack war erneut unbezahlt tätig. Sie nahm sich indes, nach ihren eigenen Worten, nie als Assistentin ihres Mannes wahr, sondern betonte stets, dass sie gleichberechtigt und auf Augenhöhe forschten.
Nach dem überraschenden Tod ihres Mannes am 7.12.1960 setzte Ida Noddack ihre Forschung am Institut für weitere sechs Jahre fort. 1968 ging sie in den Ruhestand. 1970 zog sie in eine Seniorenresidenz in Bad Neuenahr. Nach einer Reihe von Krankenhausaufenthalten verstarb sie am 24.9.1978, am Ende eines über 40-jährigen Forscherlebens, im Alter von 82 Jahren. Ihre Urne wurde auf dem Grab ihres Mannes in Bamberg beigesetzt. Die Grabstätte ist heute eingeebnet, der Grabstein selbst fand einen Ehrenplatz neben der Aussegnungshalle am Friedhofseingang. Für ihre Beiträge zur chemischen Forschung erhielt sie als bislang einzige Frau gemeinsam mit ihrem Mann die Liebig-Denkmünze des Vereins Deutscher Chemiker, außerdem das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland sowie mehrere Ehrendoktorwürden. Seit 1937 war sie Mitglied der Leopoldina, Nationale Akademie der Wissenschaften.

Ida Noddack steht in ihrem Labor an der Universität Freiburg vor einem Röntgenspektrographen, undatiert. (University Archives, KU Leuven/ Archive Walter and Ida Noddack-Tacke)
Weggefährten beschrieben Ida Noddack als eine lebensfrohe und humorvolle Frau, die über die Jahre mit Kollegen im Kontakt blieb und regelmäßig Fachkongresse besuchte. Sport und Musik bereicherten das Leben außerhalb der Forschung. Ihrer alten Heimat am Niederrhein blieb sie dabei stets verbunden. Anlässlich ihres 70. Geburtstags wurde 1966 in Obrighoven-Lackhausen eine Straße nach ihr benannt, wofür sie eigens anreiste. Zudem tragen weitere Straßen in Emden, Ingolstadt und Bamberg ihren Namen. Heute erinnert in Wesel außerdem eine Büste in Obrighoven-Lackhausen an die Chemikerin. Auch die 2019 neugegründete Ida-Noddack-Gesamtschule in Wesel hält ihre Erinnerung aufrecht. Anlässlich des 110. Geburtstags brachte man am Elternhaus, das den Zweiten Weltkrieg überstand, eine Bronzetafel an. Der wissenschaftliche Nachlass wird von der Katholischen Universität Leuven in Belgien verwahrt.
Werke
Noddack, Ida/Holde, David, Über Anhydride höherer aliphatischer Fettesäuren, Berlin 1921.
Berg, Otto/Noddack, Ida/Noddack Walter, Zwei neue Elemente der Mangangruppe, Chemischer Teil, in: Preußische Akademie der Wissenschaften Berlin/Physikalisch-Mathematische Klasse, Sitzungsberichte (1925), S. 400-409.
Noddack, Ida/Noddack, Walter, Die Herstellung von einem Gramm Rhenium, in: Zeitschrift für anorganische und allgemeine Chemie, 183 (1929), S. 353-375.
Noddack, Ida/Noddack, Walter, Das Rhenium, Leipzig 1933.
Noddack, Ida, Das Periodische System der Elemente und seine Lücken, in: Angewandte Chemie 47 (1934), S. 301-305.
Noddack, Ida, Über das Element 93, in: Angewandte Chemie 47 (1934), S. 653-655.
Noddack, Ida, Über die Allgegenwart der chemischen Elemente, in: Angewandte Chemie 49 (1936), S. 835-841.
Noddack, Ida/Noddack, Walter, Aufgaben und Ziele der Geochemie, Freiburg im Breisgau 1937.
Noddack, Ida, Entwicklung und Aufbau der chemischen Wissenschaft. Wissenschaftskunde in Einzeldarstellungen, Freiburg im Breisgau 1942.
Quellen
Stadtarchiv Bamberg, Nachlass D 1046 Limmer, Ingeborg.
Stadtarchiv Wesel, N33 Sammlung Ida Noddack.
Katholieke Universiteit Leuven, Archief Walter en Ida Noddack-Tacke.
Literatur
Fölsing, Ulla, Geniale Beziehungen. Berühmte Paare in der Wissenschaft, München 1999.
Köhler-Lutterbeck, Ursula/Siedentopf, Monika, Frauen im Rheinland. Außergewöhnliche Biographien aus der Mitte Europas, Köln 2001.
Santos, Gildo Magalhães, A tale of oblivion. Ida Noddack and the ‚universal abundance‘ of matter, in: The Royal Society Journal of the History of Science 68,4 (2014), S. 373-389. [Online]
Ströker, Elisabeth, Die Rolle von Frauen in der Entdeckung der Kernspaltung, in: Ströker, Elisabeth (Hg.), Wissenschaftsgeschichtliche und wissenschaftstheoretische Studien zur Chemie, Berlin 1996, S. 119-147.
Tilgner, Hans Georg, Forschen. Suche und Sucht. Kein Nobelpreis für das deutsche Forscherehepaar, das Rhenium entdeckt hat. Biographie und Wirken von Ida Noddack-Tacke (1896-1978) und Walter Noddack (1893-1960), Hamburg 1999.
Tilgner, Hans Georg, Walter Noddacks Berufung an die Universität Freiburg im Brsg. und seine Jahre mit Ida Noddack-Tacke in Freiburg im Brsg., Vortrag anlässlich des Symposiums an der Katholischen Universität in Leuven (Belgien) zu Ehren von Walter und Ida Noddack ‚Discovery of Elements‘, 1996, Manuskript in: Stadtarchiv Wesel, N33 Sammlung Ida Noddack, Nr. 9g.
Online
Aram, Ulrich, Technetium – Ein künstliches Element macht Karriere im Krankenhaus, in: Faszination Chemie. Die Informationsplattform der GDCh, 6.6.2019 [Online]
Mayr, Claudia, Ida Noddack, in: FemBio Frauen.Biographieforschung [Online]
Kurzbiographie und Publikationen von Ludwig Holleck, Universität Hamburg, Institut für Physikalische Chemie [Online]
Koch, Sebastian, Walter Noddack. Bahnbrecher der modernen Chemie, Universität Bamberg, Persönlichkeiten [Online]
Engel, Michael, Noddack, Ida, in: Neue Deutsche Biografie 19 (1999), S. 307-308 [Online]

Ida-Noddack-Denkmal in Obrighoven-Lackhausen (Wesel), 2022. (CC BY-SA 4.0)
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Koch, Lena, Ida Noddack, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/ida-noddack/DE-2086/lido/67d7e16db838e9.18301475 (abgerufen am 28.04.2025)
Veröffentlicht am 26.03.2025