Johann von Vlatten

Humanist (um 1498-1562)

Martin Bock (Frechen)

Die Burg Vlatten, Stammsitz der von Vlattens in der Eifel, im 19. Jahrhundert, Sammlung Alexander Duncker. (public domain)

Zwi­schen den sich ab spä­tes­tens 1530 ver­fes­ti­gen­den kon­fes­sio­nel­len Fron­ten alt- und neu­gläu­bi­ger Fürs­ten und Ge­lehr­ter eta­blier­te sich ins­be­son­de­re am Hof der Her­zö­ge von Jü­lich-Kle­ve-Berg ei­ne als via me­dia, mitt­le­rer Weg, be­zeich­ne­te Hal­tung, die be­stimm­te Po­si­tio­nen der neu­en Leh­re wie et­wa den Lai­en­kelch ak­zep­tier­te, oh­ne for­mal den Bund mit der rö­mi­schen Kir­che zu bre­chen. Aus­ge­hend von der hu­ma­nis­ti­schen Leh­re, die nörd­lich der Al­pen vor al­len an nie­der­län­di­schen Uni­ver­si­tä­ten und Schu­len zahl­rei­che Sym­pa­thi­san­ten fand, kenn­zeich­net die via me­dia auch den Ver­such des Er­halts ei­ner grö­ßt­mög­li­chen po­li­ti­schen Un­ab­hän­gig­keit in ei­ner an­sons­ten sich in kon­fes­sio­nell ge­präg­te La­ger auf­tei­len­den Herr­schafts­ord­nung. Jo­hann von Vlat­ten war nicht nur ein füh­ren­der Ver­tre­ter die­ser via me­dia; er ver­kör­per­te zu­dem auch ei­nen für die sich im 16. Jahr­hun­dert her­aus­bil­den­de Staat­lich­keit mo­der­ner Prä­gung kon­sti­tu­ti­ven Be­am­ten­ty­pus, der sich in Stand und Bil­dung von sei­nen Vor­gän­ger­ge­ne­ra­tio­nen un­ter­schied.

Die Fa­mi­lie von Vlat­ten hat­te ih­ren Stamm­sitz bei Heim­bach in der Ei­fel und geht auf das 9. Jahr­hun­dert zu­rück; spä­tes­tens im 11. Jahr­hun­dert be­stand ei­ne Ver­bin­dung zur Fa­mi­lie von Mero­de mit Stamm­sitz bei Lan­ger­we­he. Die ver­schie­de­nen Äs­te brach­ten im­mer wie­der Ver­tre­ter her­vor, die auf den hö­he­ren ope­ra­ti­ven Ebe­nen der Fürs­ten­tü­mer und sich her­aus­bil­den­den Staats­we­sen der Neu­zeit wich­ti­ge Auf­ga­ben über­nah­men und die in ei­ni­gen nie­der­län­di­schen, bel­gi­schen und mo­ne­gas­si­schen Ge­nea­lo­gi­en, ins­be­son­de­re in Ge­stalt der Fürs­ten von Wes­ter­loo, bis heu­te fort­be­ste­hen. Die­sen Auf­stieg ver­dank­te die Fa­mi­lie vor al­lem ei­ne in ih­rer mi­nis­te­ria­len Her­kunft lie­gen­de Loya­li­tät zu den re­gie­ren­den Fürs­ten.

Die Reichs­mi­nis­te­ria­li­tät – vom Ur­sprung her Un­freie, spä­ter auf Kö­nigs­gut an­säs­si­ge Freie – hat­te sich im Mit­tel­al­ter zu ei­ner tra­gen­den Säu­le der Be­am­ten­schaft ent­wi­ckelt. Die Mi­nis­te­ria­len­fa­mi­li­en nah­men häu­fig zen­tra­le Po­si­tio­nen in den Ver­wal­tun­gen der Ter­ri­to­ri­en ein. Ih­re Bil­dung und ih­re Um­gangs­for­men wa­ren häu­fig ins­ge­samt bes­ser als bei ori­gi­när ad­li­gen Fa­mi­li­en, die in der Re­gel nicht der Not­wen­dig­keit, in hö­he­re Diens­te ein­zu­tre­ten, aus­ge­setzt wa­ren.

Die Un­ter­schied­lich­keit zur urad­li­gen Fa­mi­lie zeig­te sich schon am Bil­dungs­gang Jo­hanns von Vlat­ten, der um 1498 als zwei­ter Sohn Kon­rads von Vlat­ten und sei­ner Frau An­na von Al­den­brück (1543 ge­stor­ben) ge­bo­ren wur­de. Wäh­rend Söh­ne aus ad­li­gem Hau­se sich in der Re­gel nur im Rah­men ei­ner Ka­va­liers­tour und für kür­ze­re Zeit dem phi­lo­so­phi­schen Grund­stu­di­um wid­me­ten, oh­ne da­bei ei­nen Ab­schluss zu er­wer­ben, ab­sol­vier­te Jo­hann von Vlat­ten sein Stu­di­um ab 1516 in Köln, spä­ter in Pa­ris, Ba­sel und Frei­burg im Breis­gau, das er mit dem Dok­to­rat bei­der Rech­te be­en­de­te; ei­ne all­fäl­li­ge Par­al­le­le zum Adel ist je­doch der Um­stand, dass Vlat­ten zur Fi­nan­zie­rung sei­nes Stu­di­ums und stan­des­ge­mä­ßen Le­bens kirch­li­che Pfrün­den er­hielt. So ist er be­reits 1517 als Scho­las­ter de­s Aa­che­ner Ma­ri­en­stif­tes be­kannt.

Die Köl­ner Uni­ver­si­tät war, als Vlat­ten sein Stu­di­um auf­nahm, ein Boll­werk der spät­mit­tel­al­ter­li­chen Scho­las­tik. Die in den Jah­ren 1515 bis 1517 pu­bli­zier­ten Dun­kel­män­ner­brie­fe per­si­flier­ten die über­kom­me­ne Leh­re und mach­ten bis zum ent­schie­de­nen Ein­grei­fen von Ku­rie und Rat Köln für kur­ze Zeit zu ei­nem Zen­trum des aka­de­mi­schen Dis­kur­ses zwi­schen al­ter und neu­er Leh­re, in den sich zeit­wei­lig auch Eras­mus von Rot­ter­dam (1466/69-1536) ein­schal­te­te.

Schon früh such­te Vlat­ten den Kon­takt zu dem nie­der­län­di­schen Ge­lehr­ten, mit dem er in re­gem brief­li­chen Aus­tausch stand und dem er vor­über­ge­hend auch nach Ba­sel folg­te. Of­fen­bar schätz­te auch Eras­mus den jun­gen Ge­lehr­ten und wid­me­te ihm 1523 sei­ne Edi­ti­on von Ci­ce­ros „Ge­sprä­chen in Tus­cu­lum“. Der dar­in ent­hal­te­ne fik­ti­ve Dia­log zwi­schen Leh­rer und Schü­ler scheint das Ver­hält­nis des be­reits auf dem Hö­he­punkt sei­nes aka­de­mi­schen Ruhms ste­hen­den Eras­mus und Jo­hann von Vlat­tens als gleich­sam ge­lehr­sa­men und ge­lehr­ten Schü­lers durch­aus tref­fend wi­der­zu­spie­geln.

Ge­ra­de die eras­mia­ni­sche Leh­re ei­ner ge­mä­ßig­ten Hal­tung zur Re­for­ma­ti­on wird am Hof Her­zog Jo­hanns III. (1490-1539) auf gro­ßes In­ter­es­se ge­sto­ßen sein. Jo­hann, der durch sei­ne Hei­rat mit Ma­ria von Jü­lich (1491-1543) ers­ter Herr­scher über die Ver­ei­nig­ten Her­zog­tü­mer von Jü­lich, Kle­ve, Berg, Mark und Ra­vens­berg ge­wor­den war, leg­te mit sei­ner aus­glei­chen­den Hal­tung und sei­nem Be­mü­hen um ei­ne via me­dia den Grund­stein für die li­be­ra­le Kon­fes­si­ons­po­li­tik des Her­zog­tums, die auch von sei­nem Sohn Wil­helm V. kon­se­quent fort­ge­führt wur­de. In­wie­fern die­se Hal­tung den Kon­takt zu Vlat­ten nur be­güns­tig­te oder ob Vlat­tens Ein­fluss zur Her­aus­bil­dung der Hal­tung erst bei­trug, ist un­klar. Je­den­falls stat­te­te der Her­zog Vlat­ten, den er 1524 zu sei­nem Ge­hei­men Rat be­ru­fen hat­te, mit meh­re­ren gut do­tier­ten Pfrün­den, dar­un­ter die Props­tei der Stif­te in Aa­chen, Xan­ten, Kra­nen­burg und Ker­pen aus, wo die Fa­mi­lie von Vlat­ten-Mero­de be­gü­tert war. Auf die Wah­rung die­ses so­zia­len Be­sitz­stan­des ver­wen­de­te von Vlat­ten zeit­le­bens in zahl­lo­sen Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit den Stif­ten viel Mü­he.

Her­zog Jo­hann ließ Vlat­ten zu­nächst viel Frei­raum zur Fort­füh­rung sei­ner Ge­lehr­ten­tä­tig­keit. Von 1525 bis 1527 hielt sich Vlat­ten ge­mein­sam mit dem Ju­ris­ten Cas­par Scho­ber (1504-1532) in Bo­lo­gna auf. Zu­rück im Reich nahm er an ei­ni­gen Reichs­ver­samm­lun­gen und Re­li­gi­ons­ge­sprä­chen teil und wur­de 1530 zum her­zog­li­chen Vi­ze­kanz­ler un­ter Jo­hann Ho­g­re­ve (um 1499-1554) er­nannt.

Mehr­heit­lich er­folg­reich ar­bei­te­te von Vlat­ten als Un­ter­händ­ler Her­zog Wil­helms bei den Reichs­ta­gen. So ge­lang ihm et­wa die Aus­ar­bei­tung ei­nes Waf­fen­still­stand­ver­tra­ges im drit­ten gel­dri­schen Erb­fol­ge­streit. Hier ran­gen Jü­lich-Kle­ve-Berg und das Kai­ser­haus in­fol­ge ei­nes be­reits seit dem letz­ten Drit­tel des 15. Jahr­hun­derts schwe­len­den Streits um die Vor­herr­schaft im Her­zog­tum Gel­dern. Der Ver­hand­lungs­er­folg Vlat­tens wur­de je­doch durch die Wei­ge­rung Wil­helms, den Ver­trag zu ra­ti­fi­zie­ren und statt­des­sen auf ei­ne mi­li­tä­ri­sche Lö­sung zu set­zen, zu­nich­te ge­macht - ei­ne Ent­schei­dung im Üb­ri­gen, die durch die voll­stän­di­ge Nie­der­la­ge Jü­lich-Bergs im Jahr 1543 zum schlecht­mög­lichs­ten Aus­gang in der Fra­ge führ­te. Ob­wohl Wil­helm Vlat­tens Rat nicht ge­folgt war, hielt der Her­zog wei­ter an sei­nem wich­tigs­ten Be­am­ten fest, und auch Vlat­tens En­ga­ge­ment für die Be­lan­ge des Her­zogs ver­rin­ger­te sich nicht. Die Er­nen­nung zum Kanz­ler nach Ho­g­re­ves Tod am 17.2.1554 er­scheint dem­nach nur fol­ge­rich­tig.

Die­se Loya­li­tät scheint durch­aus kenn­zeich­nend für Vlat­tens Cha­rak­ter ge­we­sen zu sein. In ei­nem Brief an Eras­mus be­zeich­ne­te der Arzt und Ge­lehr­te Si­mon Reich­wein (1501-1559) Vlat­ten als „ge­treu­en Acha­tes“. Die­se Kenn­zeich­nung wird in mehr­fa­cher Wei­se als rich­tig ver­stan­den wer­den dür­fen: Acha­tes war in der rö­mi­schen My­tho­lo­gie der treue Ge­fähr­te des Hel­den Ae­ne­as, in der rö­mi­schen Kai­ser­zeit war die „Treue des Acha­tes“ sprich­wört­lich. Man kann Vlat­ten da­mit als gu­ten Freund und auf­rich­ti­gen Ge­folgs­mann des je­wei­li­gen „Hel­den“ se­hen – im in­tel­lek­tu­el­len Sinn Eras­mus von Rot­ter­dam, dem Vlat­ten zeit­le­bens eng ver­bun­den blieb, im po­li­ti­schen Sinn sei­nen Dienst­herrn, den Her­zö­gen von Jü­lich, de­nen er als „Pro­to­typ des via-me­dia-Po­li­ti­ker­s“ (Ecke­hard Stö­ve) in der Sa­che auf Au­gen­hö­he be­geg­ne­te, in der Form sich je­doch im­mer ein­zu­ord­nen wuss­te.

Jo­hann von Vlat­ten nutz­te sei­ne Ge­lehr­sam­keit und sei­ne gu­ten Kon­tak­te in die aka­de­mi­sche Welt der Zeit, um in der sei­nem Stand bei­na­he vor­ge­ge­be­nen Wei­se auf­zu­stei­gen. Er re­spek­tier­te die so­zia­len Hier­ar­chi­en, auch, weil sie die­sen Auf­stieg gleich­sam erst er­mög­lich­ten. Vlat­ten starb hoch­ge­ach­tet am 11.6.1562 in Düs­sel­dorf.

Literatur

Gail, An­ton, Jo­hann von Vlat­ten und der Ein­fluß des Eras­mus von Rot­ter­dam auf die Kir­chen­po­li­tik der ver­ei­nig­ten Her­zog­tü­mer, in: Düs­sel­dor­fer Jahr­buch 45 (1951), S. 1–109.
Schul­te, Chris­ti­an, Ver­such­te kon­fes­sio­nel­le Neu­tra­li­tät im Re­for­ma­ti­ons­zeit­al­ter. Die Her­zog­tü­mer Jü­lich-Kle­ve-Berg un­ter Jo­hann III. und Wil­helm V. und das Fürst­bis­tum Müns­ter un­ter Wil­helm von Ket­te­ler, Diss. Müns­ter 1995.
Stö­ve, Eck­hard, Via me­dia. Hu­ma­nis­ti­scher Traum oder kir­chen­po­li­ti­sche Chan­ce? Zur Re­li­gi­ons­po­li­tik der ver­ei­nig­ten Her­zog­tü­mer Jü­lich-Kle­ve-Berg im 16. Jahr­hun­dert, in: Mo­nats­hef­te für Evan­ge­li­sche Kir­chen­ge­schich­te des Rhein­lan­des 39 (1990), S. 115–133. 

Online

Har­leß, [Wol­de­mar], „Jo­hann von Vlat­ten“, in: All­ge­mei­ne Deut­sche Bio­gra­phie 40 (1896), S. 87-89. [on­line]

 
Zitationshinweis

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Bock, Martin, Johann von Vlatten, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/johann-von-vlatten-/DE-2086/lido/5e1dcf740ea866.80948758 (abgerufen am 01.12.2024)