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Als Aufsichtsratsvorsitzender der Gutehoffnungshütte (GHH) bestimmte Karl Haniel gemeinsam mit Vorstandschef Paul Reusch bis in die 1940er Jahre über mehr als zwei Dekaden hinweg die Geschicke des schwerindustriellen Ruhrkonzerns. Der aus der Industriellenfamilie Haniel stammende Jurist hatte zunächst eine klassische Beamtenlaufbahn eingeschlagen, bevor er sich nach dem Ersten Weltkrieg zunehmend unternehmerischen Aufgaben zuwandte und zur führenden Persönlichkeit der Eigentümerfamilie im GHH-Konzern entwickelte.
Karl Haniel kam am 12.2.1877 in Koblenz als Sohn von Paul Haniel (1843-1892) – einem Enkel von Gerhard Haniel (1774-1834) – und Ida Edeling geborene Nobiling (1851-1942) zur Welt. Paul Haniel war Jurist und bis 1877 am Sitz des Regierungsbezirks Koblenz tätig, bevor er ab 1878 bis zu seinem Tod den Posten des Landrats des Landkreises Mülheim an der Ruhr innehatte, wo auch sein Sohn Karl aufwuchs. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Mülheim studierte dieser in Genf, Marburg, Bonn und Berlin Rechtswissenschaften (1897-1901). Am 29.6.1901 wurde er zum Gerichtsreferendar ernannt und 1902 mit einer Dissertation über „Die Wirkungen der Darlehnshingabe von fremdem Geld“ zum Dr. jur. promoviert. Im Jahr 1906 legte er nach seiner Referendarzeit in Düsseldorf das Assessor-Examen ab und trat anschließend von Dezember 1906 bis November 1907 eine einjährige Weltreise an, bei der er den ministeriellen Auftrag hatte, eine Studie über das Berg- und Hüttenwesen Ostasiens anzufertigen. Neben Stahlunternehmen in Qingdao (Tsingtau) – der Hauptstadt des deutschen „Schutzgebiets“ Kiautschou – und Eisenwerken bei Wuhan (Hankau) besuchte er unter anderem die Bergbaubetriebe der Schantung-Gesellschaft sowie Kupfer- und Erzgruben in Japan und Zechen in Korea.
Das Interesse am Montanwesen rührte nicht zuletzt aus den geschäftlichen Aktivitäten der Familie Haniel, die zu den einflussreichsten deutschen Unternehmerfamilien des 20. und frühen 21. Jahrhunderts gehört und schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit der Gründung der Hüttengewerkschaft und Handlung Jacobi, Haniel & Huyssen (JHH) in Sterkrade 1808 in die Kohlenförderung eingestiegen war; 1847 folgte die Eröffnung des Steinkohlebergwerks „Zeche Zollverein“ in Essen. Damit waren die Haniels neben dem Handel sowohl in der Förderung von Rohstoffen als auch in der Eisenherstellung und dem Bau von Dampfmaschinen, Lokomotiven, Schienen und Brücken tätig. Nachdem die letzten Unternehmensgründer der Hüttengewerkschaft JHH verstorben waren, wurde die offene Handelsgesellschaft 1873 in eine Aktiengesellschaft mit dem Namen „Gutehoffnungshütte, Actienverein für Bergbau und Hüttenbetrieb“ umgewandelt. Gleichwohl blieb der Charakter des Familienunternehmens erhalten, da die Aktien nicht an der Börse gehandelt wurden. Allerdings ging das operative Geschäft immer stärker auf den Vorstand über, wohingegen sich der von der Unternehmerfamilie dominierte Aufsichtsrat zunehmend in ein reines Kontrollgremium verwandelte.
Nach seiner Rückkehr aus Ostasien war Karl Haniel zunächst beim Landratsamt Havelland in Rathenow tätig, bevor er ab Februar 1909 im Reichsamt des Inneren die Vorbereitung der Brüsseler Weltausstellung verantwortete. Anschließend fungierte er 1910 als stellvertretender Reichskommissar der Ausstellung in Brüssel und danach nochmals im Reichsamt des Inneren, ehe er am 22.6.1912 zum kommissarischen Landrat in Merzig an der Saar ernannt wurde. Ein knappes Jahr später, am 31.3.1913, erfolgte seine endgültige Bestallung zum Landrat. Inzwischen hatte er Edith Schleicher (1886-1961), die Tochter des Nadelfabrikanten Richard Schleicher aus Schönthal (Langerwehe), geheiratet, mit der er später zwei Adoptivsöhne, die Zwillingsbrüder Peter (geboren 1914) und Klaus Haniel (1914-1942), hatte. Seine juristische Ausbildung und seine verschiedenen Stationen in mehreren Behörden markieren den typischen Karriereweg im deutschen Staatswesen, allenfalls seine Weltreise nach der Referendarzeit wich hiervon ab und verwies auf die Verbindungen der Familie Haniel ins Montanwesen. Bereits seit dem 30.11.1912 gehörte Karl Haniel dem Aufsichtsrat der GHH an, doch deutete zunächst wenig auf einen vollständigen Wechsel ins private Familienunternehmen hin.
Erst mit dem Ersten Weltkrieg änderte sich sein Karriereweg. Im Spätherbst 1914 wurde er in die deutsche Zivilverwaltung im besetzten Belgien berufen und zum Präsidenten der Zivilverwaltung der Provinz Hennegau in Mons – unmittelbar an der Grenze zu Frankreich – ernannt. Die deutsche Besatzungsmacht war darum bemüht, die belgische Verwaltung in ihre Dienste zu stellen, und ließ daher zunächst viele Provinz- und kommunale Behörden bestehen. Doch im Verlauf des Krieges trieb das Deutsche Reich die Verwaltungstrennung des Landes zwischen Wallonien und Flandern voran. Als in diesem Kontext auch die administrative Teilung der deutschen Verwaltung Belgiens erfolgte, wurden am 5.7.1917 Alexander Schaible als Verwaltungschef für Flandern und Karl Haniel als Verwaltungschef für Wallonien eingesetzt. Aufgrund seiner exponierten Stellung in der belgischen Besatzungsverwaltung konnte Karl Haniel nützliche Informationen über die Verwertungsmöglichkeiten der belgischen Industrie sammeln und sie an deutsche Industrielle, wie den Leiter der familieneigenen GHH Paul Reusch oder den Ruhrindustriellen Gustav Krupp, weiterleiten.
Nach dem Ersten Weltkrieg nahm Karl Haniel Abschied vom Staatsdienst und widmete sich fortan ganz den Unternehmen der Familie Haniel. Im Jahr 1920 trat er als Nachfolger von Dr. Franz Haniel die Geschäftsführung der Haniel & Lueg GmbH an und am 21.9.1921 übernahm er im Alter von erst 44 Jahren überdies den Aufsichtsratsvorsitz der GHH, den er bis zu seinem Tod innehaben sollte. Im Jahr 1922 unternahm er im Auftrag der GHH eine weitere Weltreise, die ihn nach Java, Sumatra, Japan und Amerika führte und der Anknüpfung neuer Geschäftsbeziehungen diente. Nach der Gründung der GHH Oberhausen AG 1923 im Rahmen der Ruhrbesetzung fungierte er überdies als deren Aufsichtsratsvorsitzender. In dieser Funktion an der Spitze der GHH-Kontrollorgane arbeitete er eng mit dem GHH-Vorstandsvorsitzenden Paul Reusch zusammen, zu dem er ein harmonisches Vertrauensverhältnis aufbaute. Gemeinsam saßen sie in zahlreichen weiteren Aufsichtsräten von GHH-Tochtergesellschaften (MAN, Deutsche Werft, Osnabrücker Kupfer- und Drahtwerk, Maschinenfabrik Esslingen, Hackethal Draht- und Kabelwerke, Kabel- und Metallwerke Neumeyer, Eisenwerk Nürnberg, Zahnräderfabrik Augsburg, Schloemann, Ferrostaal). Auf diese Weise kontrollierten sie den Gesamtkonzern, wobei Reusch die Hauptverantwortung für die operativen und strategischen Entscheidungen zufiel und Haniel sich weitgehend im Hintergrund hielt. Obschon Karl Haniel in der Öffentlichkeit eine exponierte Stellung als Vertreter der Schwerindustrie hatte, beschränkte er sich im Unternehmen auf die überwachende Vertreterposition der Eigentümerfamilie.
Inhaltlich zogen Haniel und Reusch in unternehmerischen Fragen an einem Strang. Insbesondere unterstützte Karl Haniel Paul Reusch in seinen Bestrebungen nach einem vertikalen Konzernaufbau und dem Erhalt der unternehmerischen Selbstständigkeit – auch gegenüber anderen Mitgliedern der weitverzweigten Haniel-Familie, wie Werner Carp, der für die Konsolidierung des Unternehmens innerhalb eines größeren Konzernverbunds plädierte. Außerhalb des GHH-Konzerns war Karl Haniel zudem Mitglied in den Kontrollgremien der Deutsch-Atlantischen Telegraphengesellschaft, der Deutschen Bank, der Hamburg-Amerika-Linie (HAPAG), der Parkhotel AG in Düsseldorf, der Calor-Emag Elektrizitäts-AG, der Vereinigte Werkstätten für Kunst- und Handwerk AG, des Hauses der Deutschen Kunst, der AEG sowie der Emdener Verkehrsgesellschaft.
Neben ihrem unternehmerischen Handeln in der GHH waren Karl Haniel und Paul Reusch ferner gemeinsam auf dem publizistischen Feld und in der Interessenpolitik engagiert. Politik und Wirtschaft gehörten für beide eng zusammen, denn ihrer Ansicht nach regelte der politisch-rechtliche Rahmen die ökonomischen Entfaltungsmöglichkeiten. Bereits im Frühjahr 1920 waren bayerische Wirtschaftskreise an Karl Haniel herangetreten und hatten ihm einen Anteil am Münchener Verlag Knorr & Hirth angeboten, um die zur Verlagsgesellschaft gehörenden Münchener Neuesten Nachrichten (MNN) zu sanieren. Haniel und andere Unternehmen investierten daraufhin insgesamt drei Millionen Mark in den Verlag und erhielten im Gegenzug einen größeren Stammkapitalanteil; weitere drei Millionen Mark, die gleichfalls von Haniel treuhänderisch verwaltet wurden, stellte der Zechenverband zur Verfügung. Nach Auseinandersetzungen mit Alfred Hugenberg über die Treuhänderschaft der Zechenverband-Beteiligung erwarb Karl Haniel 1928 weitere Verlagsanteile und übertrug sie der im GHH-Besitz befindlichen Süddeutschen Verlagsgesellschaft. Außer den MNN sicherten sich Paul Reusch und Karl Haniel über die Süddeutsche Verlagsgesellschaft ferner die Mehrheit am Fränkischen Kurier und am Schwäbischen Merkur und brachten so weite Teile der süddeutschen Presselandschaft auf ihre Linie. Dabei blieb das Verhältnis zu einzelnen Redakteuren der verschiedenen Presseorgane nicht immer konfliktfrei.
Darüber hinaus fungierte Karl Haniel in der Nachfolge von Emil Kirdorf von 1928 bis 1944 als Vorsitzender im elitären Industrie-Club Düsseldorf und war Mitglied in der von Reusch gegründeten Ruhrlade, einem Zusammenschluss der zwölf einflussreichsten Ruhrindustriellen zur Beeinflussung der bürgerlichen Parteien. Auch dem 1924 gegründeten konservativen Deutschen Herrenklub und der „Gäa“, einer Vereinigung adlig-bürgerlicher Kreise, gehörte Haniel in der Weimarer Republik an. Obschon Haniel wie Reusch konservative, teils auch reaktionäre Ansichten vertraten und in diesem Kontext auch die Aufrüstung des Deutschen Reiches über die GHH mit vorantrieben, gab es vor wie nach 1933 eine Trennlinie zu den rassenideologischen Vorstellungen der Nationalsozialisten, vielmehr gerieten beide – auch über die von ihnen kontrollierten Presseorgane – in Konflikte zu NS-Stellen. Während Paul Reusch daher 1942 das Unternehmen verlassen musste und sein Stellvertreter Hermann Kellermann den Vorstandsvorsitz übernahm, verblieb Karl Haniel als Vertreter der Eigentümerfamilie an der Spitze des Aufsichtsrats.
Mitte der 1920er Jahre war Karl Haniel, der persönlich nur über einen geringen Aktienbesitz an der GHH verfügte, in finanzielle Schwierigkeiten geraten und hatte unter anderem von Reusch ein persönliches Darlehen erhalten. Nicht zuletzt die Bauarbeiten für das Schloss Maria in der Aue in Dabringhausen (heute Stadt Wermelskirchen), welches er 1927/28 für mehrere Millionen Mark als Jagd- und Gästehaus im barocken Stil und mit allem damaligen Komfort errichten ließ, verschlangen viel Geld. Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre fanden ausschweifende Feste auf dem Schloss statt, doch 1934 sah sich Karl Haniel genötigt, mit seiner Familie in das nahegelegene Forsthaus in der Aue im Helenental umzuziehen. Ob finanzielle Engpässe oder Konflikte mit den Nationalsozialisten hierfür den Ausschlag gaben, ist nach derzeitigem Forschungsstand noch offen. In jedem Fall kaufte die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt das Schloss 1941, um dort ein Kindergärtnerinnen-Seminar einzurichten. Am 30.10.1944 verstarb Karl Haniel auf einer Autofahrt von Düsseldorf nach Dabringhausen an einem Herzinfarkt. Sein Sohn Klaus war bereits 1942 an der Ostfront gefallen.
Quellen (Auswahl)
Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, R 1501/207016.
Stiftung Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv zu Köln (RWWA), Abt. 130, 130-300190 (Nachlass des Aufsichtsratsvorsitzers Karl Haniel), 130-300193 (Nachlass Kommerzienrat Dr. Paul Reusch), 130-4001011 (Nachlass des Aufsichtsratsvorsitzenden Karl Haniel), 130-4001012 (Nachlass Kommerzienrat Dr. Paul Reusch), 130-4001014 (Nachlass Bergassessor Dr. Hermann Reusch), 130-235-2 (Landrat a.D. Karl Haniel (1877-1944) von Bodo Herzog).
Literatur (Auswahl)
Bähr, Johannes/Banken, Ralf/Flemming, Thomas, Die MAN. Eine deutsche Industriegeschichte, München 2008.
Franz Haniel & Cie. GmbH (Hg.), Haniel 1756-2006. Eine Chronik in Daten und Fakten, Duisburg 2006.
Hetzer, Gerhard, Unternehmer in Umbruchszeiten: Paul und Hermann Reusch, in: Hoser, Paul/Baumann, Reinhard (Hg.), Kriegsende und Neubeginn. Die Besatzungszeit im schwäbisch-alemannischen Raum, Konstanz 2003, S. 463-496.
James, Harold, Familienunternehmen in Europa. Haniel, Wendel und Falck, München 2005.
Langer, Peter, Paul Reusch. Der Ruhrbaron, Essen 2012.
Langer, Peter, Paul Reusch und die Gleichschaltung der "Münchener Neuesten Nachrichten" 1933, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 53 (2005), S. 203-240.
Link, Manfred, Maria in der Aue, in: Landschaft und Geschichte e.V. (Hg.), Große Dhünn-Talsperre. Bilder, Geschichten und Landschaft des Oberen Dhünntales, Düsseldorf 2008, S. 38-39.
Marx, Christian, Paul Reusch und die Gutehoffnungshütte. Leitung eines deutschen Großunternehmens, Göttingen 2013.
Obermüller, Benjamin, Hermann Reusch und die Beziehungen zur Eigentümerfamilie Haniel, in: Hilger, Susanne/Soénius, Ulrich S. (Hg.), Netzwerke – Nachfolge – Soziales Kapital. Familienunternehmen im Rheinland im 19. und 20. Jahrhundert, Köln 2009, S. 159-174.
Pudor, Fritz, Nekrologe aus dem rheinisch-westfälischen Industriegebiet. Jahrgang 1939-1951, Düsseldorf 1955, S. 88-89.
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Marx, Christian, Karl Haniel, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/karl-haniel/DE-2086/lido/66c472a251bfb7.62560534 (abgerufen am 06.10.2024)