Karl Klingemann

Evangelischer Theologe und Generalsuperintendent (1859-1946)

Stefan Flesch (Düsseldorf)

Karl Viktor Klingemann, Porträtfoto. (Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland)

Karl Vik­tor Klin­ge­mann war von 1913 bis 1928 Ge­ne­ral­su­per­in­ten­dent der rhei­ni­schen Pro­vin­zi­al­kir­che. Der glän­zen­de Red­ner und be­gab­te Or­ga­ni­sa­tor en­ga­gier­te sich po­li­tisch im All­deut­schen Ver­band und zähl­te zu den ag­gres­sivs­ten Ex­po­nen­ten in der na­tio­na­lis­tisch-mon­ar­chis­ti­schen Haupt­rich­tung der evan­ge­li­schen Pfar­rerschaft vor 1933.

Klin­ge­mann wur­de am 29.11.1859 in Lon­don als Sohn des han­no­ver­schen Le­ga­ti­ons­ra­tes Karl Vik­tor Klin­ge­mann (1798-1862) und sei­ner Ehe­frau So­phie ge­bo­re­ne Ball­horn-Ro­sen (1822-1901) ge­bo­ren. Die mu­sisch be­gab­te Fa­mi­lie war un­ter an­de­rem eng mit Fe­lix Men­dels­sohn Bar­thol­dy (1809-1847) be­freun­det; 1909 pu­bli­zier­te der Sohn ei­ne Edi­ti­on des Brief­wech­sels zwi­schen dem Kom­po­nis­ten und dem äl­te­ren Klin­ge­mann. Der Va­ter ver­starb be­reits 1862 und die Fa­mi­lie kehr­te nach Deutsch­land zu­rück. Nach dem Stu­di­um der evan­ge­li­schen Theo­lo­gie in Bonn und Mar­burg ab­sol­vier­te Klin­ge­mann 1883 die theo­lo­gi­schen Prü­fun­gen in Ko­blenz.

Be­reits dem jun­gen, frisch or­di­nier­ten Theo­lo­gen, der die eng­li­sche und fran­zö­si­sche Spra­che flie­ßend be­herrsch­te, war ei­ne ge­wis­se di­plo­ma­ti­sche Welt­läu­fig­keit zu ei­gen. Dies äu­ßer­te sich in der Wahl sei­ner ers­ten Pfarr­stel­le, der deutsch-fran­zö­si­schen evan­ge­li­schen Ge­mein­de im ägyp­ti­schen Alex­an­dria. Die Er­fah­rung der gu­ten Zu­sam­men­ar­beit mit den Kai­sers­wer­t­her Dia­ko­nis­sen, die das dor­ti­ge Kran­ken­haus be­treu­ten, führ­te zu ei­ner fort­dau­ern­den Ver­bun­den­heit mit dem Mut­ter­haus.

Ein kur­zes, aber prä­gen­des In­ter­mez­zo bil­de­te sei­ne ers­te Pfarr­stel­le nach der Rück­kehr in Deutsch­land. 1890-1891 am­tier­te er als Ver­eins­geist­li­cher und Rei­se­pre­di­ger des rhei­ni­schen Pro­vin­zi­al­aus­schus­ses für In­ne­re Mis­si­on in Lan­gen­berg (heu­te Stadt Vel­bert). Hier­durch er­warb er sich ein ver­tief­tes Ver­ständ­nis der So­zia­len Fra­ge und en­ga­gier­te sich fort­an für die evan­ge­li­schen Ar­bei­ter­ver­ei­ne. In Lan­gen­berg hei­ra­te­te er Mar­ga­re­the Con­ze (1866-1956), die Toch­ter ei­nes dort an­säs­si­gen Sei­den­fa­bri­kan­ten. Aus der Ehe gin­gen vier Kin­der her­vor.

Es war nur kon­se­quent, dass er sich für die nächs­te Be­rufs­sta­ti­on in die rasch wach­sen­de Groß­stadt Es­sen ori­en­tier­te. In Es­sen-Alt­stadt er­warb er sich durch sei­ne ge­schick­te Ver­hand­lungs­füh­rung rasch ei­nen gu­ten Ruf in den kirch­li­chen und kom­mu­na­len Gre­mi­en. All­seits ge­rühmt wur­den sei­ne Kin­der­got­tes­diens­te, zu de­nen sich in der Pau­lus­kir­che (1944 zer­stört) bis zu 1.300 Kin­der mit et­wa 50 Hel­fe­rin­nen und Hel­fern ein­fan­den. Dar­über hin­aus hat­te Klin­ge­mann zahl­rei­che über­re­gio­na­le Funk­tio­nen in­ne wie et­wa den Vor­sitz im Rhei­ni­schen Kir­chen­ge­sang­ver­ein, dem Dach­ver­band der evan­ge­li­schen Kir­chen­chö­re. In Es­sen selbst rief er ei­nen Bach-Ver­ein ins Le­ben. Wei­te­re Her­zens­an­lie­gen wa­ren ihm die Dia­spora­ar­beit des Gus­tav-Adolf-Ver­eins so­wie die Tä­tig­keit der Rhei­ni­schen Mis­si­on in Afri­ka und Asi­en. Sei­ne leb­haf­te Pu­bli­ka­ti­ons­tä­tig­keit be­grün­de­te er 1898 mit der Schrift „Bud­dhis­mus, Pes­si­mis­mus und mo­der­ne Welt­an­schau­un­g“. Als im Jahr 1900 von der über­di­men­sio­nier­ten Ruhr­syn­ode der Be­reich der Groß­stadt Es­sen mit elf Kir­chen­ge­mein­den ab­ge­trennt wur­de, wur­de der ge­ra­de 40-Jäh­ri­ge zum Su­per­in­ten­den­ten des neu­en Kir­chen­krei­ses ge­wählt.

Im glei­chen Jahr sprang Klin­ge­mann kurz­fris­tig - und er­folg­reich - als Red­ner bei ei­ner Kund­ge­bung des All­deut­schen Ver­ban­des am Nie­der­wald­denk­mal ein. Aus die­ser Zeit da­tiert die le­bens­lan­ge Freund­schaft mit dem Main­zer Rechts­an­walt Hein­rich Claß (1868-1953), der 1908 den Vor­sitz des Ver­ban­des an­trat und Klin­ge­mann zu sei­nem Stell­ver­tre­ter be­stimm­te. Im Vor­stand be­ar­bei­te­te er spe­zi­ell die Res­sorts Eng­land­fra­gen, Kul­tur und Grenz­land-Deutsch­tum. In letz­te­rer Zu­stän­dig­keit po­le­mi­sier­te er 1911 mit zahl­rei­chen Ein­ga­ben ge­gen den Plan von Reichs­kanz­ler Theo­bald von Beth­mann-Holl­weg (1856-1921), im bis­he­ri­gen Reichs­land El­sass-Loth­rin­gen ei­ne Ver­fas­sung ein­zu­füh­ren. Die seit 1908 von Claß pro­pa­gier­te ge­stei­ger­te ag­gres­si­ve und ex­pan­sio­nis­ti­sche Aus­rich­tung des Ver­ban­des trug der stren­ge Lu­the­ra­ner voll mit, wo­bei er in sei­ner in­ten­si­ven po­li­ti­schen Agi­ta­ti­on of­fen­sicht­lich kei­nen Wi­der­spruch zur Zwei-Rei­che-Leh­re sah.

1913 wur­de Klin­ge­mann, der nun zu den pro­fi­lier­tes­ten rhei­ni­schen Pfar­rer­per­sön­lich­kei­ten zähl­te, zum neu­en Ge­ne­ral­su­per­in­ten­den­ten der Pro­vin­zi­al­kir­che er­nannt. Da­mit war er Dienst­vor­ge­setz­ter al­ler Pfar­rer im Rhein­land, von de­nen er in den nächs­ten 13 Jah­ren vie­le an­läss­lich von Ju­bi­lä­en oder be­son­de­ren Ge­mein­de­ereig­nis­sen in ih­ren Pfarr­häu­sern be­such­te. Neu­er Dienst­sitz war nun Ko­blenz, wo auch der preu­ßi­sche Ober­prä­si­dent am­tier­te. Er folg­te dort dem nach nur ein­jäh­ri­ger Amts­zeit ver­stor­be­nen Chris­ti­an Rog­ge nach. Aus dem Vor­stand des All­deut­schen Ver­ban­des zog sich Klin­ge­mann nun we­gen Ar­beits­über­las­tung zu­rück, er blieb aber Mit­glied.

Ganz im Sin­ne der Ver­bands­dok­trin be­grü­ß­te er 1914 den Kriegs­aus­bruch „als ein Mit­tel zur Er­rei­chung gött­li­cher Zie­le“. Sein beim Evan­ge­li­schen Pre­ß­ver­band er­schie­ne­ner Trak­tat „Wo­für kämp­fen wir?“ stell­te un­miss­ver­ständ­lich den Kampf um deut­schen Le­bens­raum in den Mit­tel­punkt der Kriegs­zie­le: „Der Ge­winn men­schen­ar­mer oder men­schen­lee­rer Ge­bie­te [...] für un­se­re Kriegs­ver­stüm­mel­ten, so­weit sie für Land­ar­beit und länd­li­chen Klein­be­trieb sich eig­nen [...]“. Im Som­mer 1915 folg­te sei­ne Schrift „Das Hel­den­tum in der Bi­bel“. We­ni­ge Wo­chen nach Er­schei­nen fiel sein ein­zi­ger Sohn Her­mann an der Ost­front. In dem Buch „Va­ter­lei­d“ (1918) such­te Klin­ge­mann sei­ne Trau­er li­te­ra­risch zu be­wäl­ti­gen.

Die Wei­ma­rer Re­pu­blik lehn­te der wei­ter­hin mon­ar­chis­tisch ge­sinn­te Ge­ne­ral­su­per­in­ten­dent scharf ab. Dies ma­ni­fes­tier­te sich be­reits 1919 mit sei­nem Flug­blatt „Wer ver­schul­de­te den Schmach- und Hun­ger­frie­den?“ Aber er ar­ran­gier­te sich mit den neu­en po­li­ti­schen Ver­hält­nis­sen und stell­te ge­mein­sam mit Prä­ses Walt­her Wolff die Wei­chen für die neue Kir­chen­ver­fas­sung. Auf der Welt­kon­fe­renz für Prak­ti­sches Chris­ten­tum in Stock­holm 1925, ei­nem Mei­len­stein der öku­me­ni­schen Be­we­gung, zähl­te er zu den Wort­füh­rern der 40-köp­fi­gen deut­schen De­le­ga­ti­on. Sei­ne dor­ti­ge Re­de, in der er sei­ner Skep­sis über den Völ­ker­bund und der Not der be­setz­ten Rhein­lan­de Aus­druck ver­lieh, führ­te zu ei­ner hef­ti­gen po­li­ti­schen Kon­tro­ver­se. Der be­kann­te Öku­me­ni­ker Fried­rich Sieg­mund-Schult­ze (1885-1969) sprach in die­sem Zu­sam­men­hang gar von „Ter­ro­ris­mus ei­ner na­tio­na­lis­ti­schen Grup­pe“.

1928 trat Klin­ge­mann hoch­ge­ehrt von Kir­che und Po­li­tik in den Ru­he­stand. Meh­re­re Jah­re nahm er noch ei­ne Ho­no­rar­pro­fes­sur an der Uni­ver­si­tät Bonn wahr. Er nä­her­te sich wie­der dem wei­ter­hin be­ste­hen­den All­deut­schen Ver­band an, des­sen Vor­sit­zen­der Claß ihm at­tes­tier­te, dass Klin­ge­mann in den fol­gen­den Jah­ren „ei­ner der füh­ren­den Män­ner der Na­tio­na­len Op­po­si­ti­on ge­gen die schwarz-ro­te Sys­tem­herr­schaf­t“ ge­we­sen sei. Sei­ne 1929 er­schie­ne­ne Schrift über „Ras­se und Volks­tum in ih­rem Ver­hält­nis zu Re­li­gi­on und Glau­ben“ re­zi­pier­te weit­ge­hend die zeit­ge­nös­si­schen Ras­se­leh­ren. An die Herr­schafts­über­nah­me der Na­tio­nal­so­zia­lis­ten 1933 knüpf­te er fol­ge­rich­tig ho­he Er­war­tun­gen, ins­be­son­de­re auch an die Be­mü­hun­gen der „Deut­schen Chris­ten“, ei­ne zen­tra­li­sier­te evan­ge­li­sche Reichs­kir­che zu schaf­fen.

Klin­ge­mann ver­starb am 1.2.1946 in Bonn. Ge­mäß tes­ta­men­ta­ri­scher Ver­fü­gung trug sein dor­ti­ger Grab­stein die In­schrift: „Ein deut­scher Zeu­ge der Auf­er­ste­hung Je­su Chris­ti."

Werke (Auswahl)

Bud­dhis­mus, Pes­si­mis­mus un­d ­mo­der­ne Welt­an­schau­ung, Es­sen 1898.
Pi­la­tus. Ein Pas­si­ons­spiel, Es­sen 1904.
Das Hel­den­tum in der Bi­bel, Bonn 1915.
Va­ter­leid, Es­sen 1918.
Ras­se und Volks­tum in ih­rem Ver­hält­nis zu Re­li­gi­on und Glau­ben. Ein Mis­si­ons­pro­blem, Es­sen 1929.
Die Le­bens­kräf­te der evan­ge­li­schen Kir­che Rhein­lands, Es­sen 1931.

Literatur

Ba­ecker, Ro­ger, Klin­ge­mann, Karl, in: Bio­gra­phisch-Bi­blio­gra­phi­sches Kir­chen­le­xi­kon, Band 4, 1992, Sp. 61-64
Ro­sen­kranz, Al­bert, D. Karl Klin­ge­mann. Zum hun­dert­jäh­ri­gen Ge­burts­tag am 29. No­vem­ber 1959, in: Mo­nats­hef­te für Evan­ge­li­sche Kir­chen­ge­schich­te des Rhein­lan­des 9 (1960), S. 1-6
[oh­ne Au­tor], D. Klin­ge­mann. Zum acht­zigs­ten Ge­burts­tag am 29. No­vem­ber 1939, Es­sen 1939.

 
Zitationshinweis

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Flesch, Stefan, Karl Klingemann, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/karl-klingemann/DE-2086/lido/57c9359edcc264.22887285 (abgerufen am 11.11.2024)