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Die Kölnerin Maria Sevenich war Mitbegründerin der hessischen CDU und später Ministerin für Bundesangelegenheiten, Vertriebene und Flüchtlinge in Niedersachsen. Sie war eine der ungewöhnlichsten Politikerpersönlichkeiten der frühen Nachkriegszeit. Die Zahl ihrer Parteiübertritte war rekordverdächtig. Sie steht auch für einen Politikertyp, der für die erste Nachkriegszeit nicht ungewöhnlich war, sich aber schon bald selbst überlebte.
Maria Sevenich kam am 27.4.1907 in Köln zur Welt. Ihr Vater war Schmiedemeister und brachte seiner Tochter sowohl den Katholizismus in der selbstbewussten und moderaten rheinischen Tradition wie auch sein politisches Bekenntnis zur Sozialdemokratie nahe. Maria Sevenich absolvierte die städtische Handelsschule, fing eine Ausbildung an, konnte aber 1929 das Abitur nachholen. Dank ihrer guten schulischen Leistungen erhielt sie ein Stipendium der Lincoln-Stiftung, mit dem sie 1929 ein Studium der Rechtswissenschaften und Philosophie in Frankfurt am Main beginnen konnte.
Politisch kam sie nach ihrem Vater, zu dem sie ein enges Verhältnis hatte. Sie sagte stets, dass ihr politisches Erweckungserlebnis erfolgt sei, als ihr Vater ihr zu ihrem neunten Geburtstag ein Exemplar von August Bebels „Die Frau und der Sozialismus“ überreicht habe. Sie trat später der SPD bei und wurde Teil des linken Flügels der Partei. Schon Ende der 1920er Jahre suchte sie sich aber zum ersten Mal eine neue politische Heimat und wurde Mitglied der SAPD, der Sozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, die politisch zwischen der SPD und der KPD stand. Auch der spätere Bundeskanzler Willy Brandt (1913-1992) gehörte dieser Partei an. Im Unterschied zu Brandt blieb Sevenich aber nicht für längere Zeit in dieser Partei, sondern trat Anfang 1933 zur KPD über.
Die Wochen um den Parteiwechsel und die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten am 30.1.1933 hatten einschneidende Folgen für ihr Leben. So konnte sie ihr Studium nicht abschließen, da man ihr das Ablegen der letzten Examina verweigerte. Des Weiteren war sie selbst in akuter Gefahr, da sie Mitglied einer inzwischen verbotenen Partei war, auch wenn es keinen Beleg dafür gibt, dass Sevenich in der Parteiarbeit aktiv gewesen wäre.
Sie wurde schließlich aus den Reihen der KPD an die Nationalsozialisten verraten, die sie mehrere Male ins Zuchthaus steckten, aber jeweils doch wieder entließen. Maria Sevenich floh in die Schweiz und ließ sich schließlich in Frankreich nieder. Hier war sie sicher – bis zum Einmarsch deutscher Truppen im Sommer 1940. 1942 wurde sie wieder verhaftet und zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. An dieser Stelle trennen sich die Berichte Sevenichs von dem sicher Beweisbaren. Sie selbst schrieb aber, dass sie großes Glück gehabt habe, diese Jahre zu überleben und als Kommunistin nicht hingerichtet worden zu sein.
Bis auf die sehr spärlichen Berichte Sevenichs gibt es kaum Informationen über diese Phase in ihrem Leben, insbesondere keine überprüfbaren. Das ist umso bedauerlicher, da irgendwann in diesen Jahren ein grundlegender Wandel in ihrem Denken stattfand. Sie entfernte sich innerlich vom Kommunismus und verurteilte die Entwicklungen des Stalinismus in der Sowjetunion. Gleichzeitig fand sie zum Glauben zurück. Gemessen daran, wie zentral ihre katholische Konfession in der Folgezeit für sie werden sollte, ist dieser Umschwung in seiner Bedeutung kaum zu überschätzen. Sevenichs Glaube orientierte sich stark an der katholischen Spiritualität und Soziallehre. Zur katholischen Hierarchie behielt sie zeit ihres Lebens eine gewisse Distanz. Gerade darin war ihre Haltung der rheinischer Zentrumspolitiker - wie zum Beispiel Konrad Adenauers - sehr ähnlich.
Ihr Gesinnungswandel eröffnete ihr eine Reihe neuer Betätigungsmöglichkeiten in der Politik. Das Kriegsende überlebte sie in Darmstadt. Sie wirkte an der Gründung und am Aufbau der Union in der Stadt und schließlich der Landespartei mit. Dabei kam ihr die allgemeine politische Ausrichtung der frühen CDU Hessens entgegen. Viele der ersten Parteifunktionäre in Hessen waren Unterstützer der Idee eines „christlichen Sozialismus“, einer nur bedingt erklärten Kombination der Grundzüge der katholischen Soziallehre und der Theorie des Sozialismus, die man aber stets deutlich vom Kommunismus sowjetischer Machart unterschied. Sevenich engagierte sich in der Programmdebatte und die Parteiführung ließ sie trotz ihres Hintergrundes gewähren. Einerseits war man sich bewusst, über wie wenige aktive Politikerinnen die Partei verfügte, andererseits war Maria Sevenich eine der beliebtesten und begabtesten Wahlkampfrednerinnen der frühen Union. Viele Belege der begeisterten Reaktionen der Verbände, die sie auf ihren Wahlkampftouren besucht hatte, sind bis heute bekannt. Höhepunkt ihrer Tätigkeit als Parteirednerin war ihr Vortrag auf dem ersten Reichstreffen der CDU-Verbände in Bad Godesberg (heute Stadt Bonn) im Dezember 1945, bei dem Maria Sevenich unter vielen Referenten die einzige Frau war.
Auch in der CDU Hessen machte sie vorerst Karriere. Sie wurde Mitglied der Verfassungsberatenden Versammlung in Wiesbaden und bereitete sich auf eine weiterführende Tätigkeit im hessischen Landesparlament vor. Dennoch kam sie bald in Schwierigkeiten. Zunächst einmal war sie gegen eine Große Koalition in Hessen, da sich ihrer Ansicht nach die SPD zu wenig von den Geschehnissen in Osteuropa distanzierte. Der Anlass für ihren Weggang war jedoch recht nichtig. Beiträge von Maria Sevenich über die amerikanische Besatzungsmacht führten zu Beschwerden seitens der Militärbehörden. Der hessische Landesverband versuchte, die Situation dadurch zu entschärfen, dass Sevenich für eine Weile kein zu sichtbares Profil in der Öffentlichkeit bekam. Zunächst damit einverstanden, war Sevenich aber doch ein zu eigenständiger Kopf, um sich daran zu halten. Der Landesvorsitzende der CDU Hessen, Werner Hilpert (1897-1957), erfuhr immer wieder von Verstößen gegen die getroffenen Absprachen. In der Anfangszeit versuchte er noch, Maria Sevenich zu beruhigen und in der CDU Hessen zu halten. Doch der umfangreiche Briefwechsel zwischen beiden bietet überaus zahlreiche Beispiele, wonach sich Sevenich zwar kompromissbereit zeigte, am Tag danach aber schon wieder missverstanden fühlte und die regelmäßigen Angebote Hilperts zur Aussprache teils ignorierte, teils kurzfristig ausfallen ließ. Den Briefen ist anzumerken, dass Werner Hilpert zunehmend die Geduld verlor und sich gegenüber seinem Freund Heinrich von Brentano (1904-1964) sogar erleichtert zeigte, dass mit ihrem Fortgang der Streit um Maria Sevenich zu einem Ende gekommen war.
Möglicherweise war Sevenich von ihrem eigenen Landesverband enttäuscht, einmal wegen der fortgeführten Großen Koalition in Hessen, die sie ablehnte, dann auch wegen des Verhaltens der CDU Hessen ihr gegenüber. Wahrscheinlicher ist, dass sie die Anfragen und Angebote aus der britischen Zone interessanter fand. Konrad Adenauer, Vorsitzender der CDU in der britischen Besatzungszone, kannte Sevenich und schätzte vor allem ihr rhetorisches Talent. Durch ihn kam sie nach Niedersachsen und wurde schon bei der ersten freien Landtagswahl am 20.4.1947 Mitglied des Landtags.

August Bebel (Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung).
Der Wechsel in den Norden ging mit einschneidenden persönlichen Veränderungen einher. Maria Sevenich heiratete 1947 den Vorsitzenden der Jungen Union in Niedersachsen, Werner Meyer (1911 - 1963) Außerdem begann sie gegen die britische Besatzungspolitik zu protestieren. Im November 1946 ging sie in einen 30-tägigen Hungerstreik, um auf die schlechte Versorgungslage in der britischen Besatzungszone aufmerksam zu machen. Unionspolitiker, darunter Konrad Adenauer, versuchten, sie von diesem Vorhaben abzubringen. Sie hielt jedoch durch und wurde auch in Norddeutschland zu einer prominenten Figur der Politik.
In den folgenden Monaten erreichte ihre politische Karriere in der Union jedoch ihren Zenit. Sevenich öffnete sich immer mehr der SPD, die ihrer Sicht nach inzwischen die Bindungen an die kommunistischen Bewegungen in der Sowjetzone und in Osteuropa gekappt hatte. Gleichzeitig war Sevenich aber auch eine Politikerin, die inhaltlich auf ihrer Linie blieb, während der Rest der CDU einen anderen Weg ging. 1948 war Konrad Adenauer bereits die weitgehend unbestrittene Führungsfigur. Das wirkte sich auch auf die Programmatik der Partei aus. Themen wie der „christliche Sozialismus“, welcher noch für die Gründungsdokumente der Union eine wesentliche Rolle spielte, kamen nun kaum mehr in der Debatte vor. Die Union hatte sich in allen Ländern der westlichen Besatzungszonen deutlich hin zur Marktwirtschaft und zur bürgerlichen Mitte verschoben. Der liberale Ludwig Erhard (1897-1977) wurde zur zentralen Figur der Wirtschaftspolitik der Partei. Die von Sevenich vehement abgelehnte Währungsreform wurde durchgeführt.
Für sie stand im Sommer 1948 fest, dass in dieser Partei kein Platz mehr für sie war. Ihr Austritt aus der CDU war wiederum auf einen möglichst großen Effekt ausgerichtet und ihr Begleitbrief wurde in verschiedenen Medien veröffentlicht. Anfangs vermied sie noch die Bindung an eine andere Partei und blieb als Abgeordnete im niedersächsischen Landtag vorerst parteilos. 1949 trat sie formell der SPD bei und wurde Mitglied der sozialdemokratischen Landtagsfraktion.
In der Folgezeit wirkte sie in der niedersächsischen Landespolitik mit und blieb Abgeordnete des Landtags. Einen Schwerpunkt ihrer Arbeit bildete die Bildungspolitik, auch wenn sie sich dabei zusehends von der katholisch geprägten Linie aus ihrer CDU-Zeit entfernte. In dieser Zeit musste sie einen schweren persönlichen Schicksalsschlag hinnehmen: Ihr Ehemann Werner Meyer beging aus unbekannten Gründen 1963 Selbstmord.

Empfang der Landesvertretung Niedersachsen anlässlich des Geburtstages von Maria Meyer-Sevenich, 27.4.1967 (Bundesarchiv, B 145 Bild-F024641-0018 / Renate Patzek / CC-BY-SA 3.0).
1965 wurde sie in das Kabinett von Ministerpräsident Georg Diederichs (1900-1983) als Ministerin für Bundesangelegenheiten, Vertriebene und Flüchtlinge berufen. Das war eine in mehrfacher Hinsicht undankbare Aufgabe. Schon bei ihrer Vereidigung stand nicht fest, wie lange dieses Ressort noch bestehen würde. Die unmittelbare Bewältigung der Fluchtwellen der 1940er und 1950er Jahre war geschafft. Gleichzeitig wurde schnell deutlich, dass Sevenich eine andere Linie in der Flüchtlingspolitik verfolgte als ihre Landespartei. Als mit der Landtagswahl 1967 die Neubildung der Landesregierung anstand, gab es Sevenichs Ministerium zwar noch, doch war ein anderer Ressortleiter vorgesehen und Meyer-Sevenich fand sich als einfache Hinterbänklerin wieder.
Aber auch in ihren letzten Jahren als Abgeordnete blieb sie rege und ging Konflikten nicht aus dem Weg. Seit der NS-Zeit war für Meyer-Sevenich die Ablehnung der kommunistischen Systeme in Osteuropa einer der Leitfäden ihres politischen Denkens. Das war auch der Grund, warum sie die Ostpolitik der sozial-liberalen Koalition unter Willy Brandt ablehnte. 1970 kam es zum Eklat. Maria Meyer-Sevenich entschied sich zu einem weiteren Parteiwechsel und trat zur CDU über. Das hätte zu einer handfesten Regierungskrise in Niedersachsen führen können, da damit der bisherige Juniorpartner in der Regierung zur stärksten Kraft in der Koalition wurde. Damit wäre auch das politische Schicksal des Ministerpräsidenten Diederichs besiegelt gewesen. Doch zu dieser Krise kam es nicht mehr. Maria Sevenich, die Zeit ihres Lebens an schwerer Diabetes erkrankt war, und verstarb wenige Wochen nach ihrem Parteiübertritt am 3.3.1970 in Hannover an den Folgen der Krankheit.
Maria Meyer-Sevenich war eine der ungewöhnlichsten Politikerpersönlichkeiten der frühen Nachkriegszeit. Nicht nur die Anzahl ihrer Parteiübertritte dürfte rekordverdächtig sein. Sie steht vielmehr auch für einen Politikertyp, der für die ersten Nachkriegsjahre nicht ungewöhnlich war, sich aber schon bald selbst überlebte. Als christliche Sozialistin und dezidiert linke Politikerin war sie ein Teil des politischen Mainstreams der unmittelbaren Gründergeneration der CDU Hessen und war anschlussfähig an weite Kreise der rheinischen CDU. Schon einige Jahre später hatte dieser politische Grundansatz aber seinen Einfluss auf das Parteiprogramm weitestgehend verloren und die meisten namhaften Vertreter dieser Strömung hatten bereits die Union verlassen oder sich dem neuen Mainstream angepasst.

Porträt von Georg Diederichs, 1969 (Bundesarchiv, B 145 Bild-F030208-0026 / CC-BY-SA 3.0).
Sevenich hatte zeit ihres Lebens einige Male gezeigt, dass sie auch neue Überzeugungen annehmen konnte. Das Anpassen an Begebenheiten war aber nicht ihre Sache und provozierte stets Widerspruch bei ihr. Auch wenn sie in einer eher frauenfeindlichen Umgebung in der Politik Karriere machte und scheiterte, wäre es zu einfach, dies auf ihr Geschlecht zurückzuführen. Ihr fehlte die Prägung einer langen Parteikarriere und sie war nicht bereit beziehungsweise nicht fähig, sich wie andere bedeutende Frauen der Christdemokratie wie Helene Weber oder Christine Teusch in einen Parteiapparat einzufinden. Sie setzte vielmehr auf ihre intellektuellen Fähigkeiten und ihr Redetalent, was sie aber letztlich zu einer Politikerin ohne echte Heimat machte.
Werke
Impressionen und Gedanken. Aus dem Alltag eines Vertriebenenministers. Gesamtdeutsche Fragen in ihrem Verhältnis zu Heimatvertriebenen, Flüchtlingen und Einheimischen, Leer 1967.
Literatur
Grebing, Helga, Auch eine Entscheidung für die SPD: Maria Meyer-Sevenich 1948/1949, in: IWK 24/1 (1988), S. 43-54.
Maria Meyer-Sevenich, geb. Sevenich, CDU, in: Langer, Ingrid/Ley, Ulrike/Sander, Susanne (Hg.), Alibi-Frauen? Hessische Politikerinnen 1: In den Vorparlamenten 1946-1950, Frankfurt am Main 1994, S. 129-166.
Oelze, Dorothea, Maria Meyer-Sevenich (geb. Sevenich). [Online]
Schüller, Elke:,„Du kannst nicht treu sein.“ Maria Meyer-Sevenich, in: Clemens, Bärbel (Hg.), Frauen machen Politik. Parlamentarierinnen in Niedersachsen, Hannover 1996, S. 81-91.

Christine Teusch, 1925 (Gemeinfrei).
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Höfer, Björn, Maria Meyer-Sevenich, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/maria-meyer-sevenich/DE-2086/lido/6152db3c2e4928.85425421 (abgerufen am 30.05.2023)