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Mauricio Kagel gilt als einer der einflussreichsten Komponisten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der außerdem als Pädagoge, Autor, Regisseur und Dirigent in Erscheinung trat und für dessen Werk die oft enge Verbindung von Musik, Sprache, Theater sowie ein ausgeprägter Sinn für Humor und Ironie charakteristisch sind. Als ein grundlegendes Gestaltungsprinzip darf das stetige Hinterfragen und Infragestellen von Regeln und etablierten Strukturen bis hin zu dem Begriff von Musik selbst gelten. Unter seinen über 200 Werken finden sich neben Klavier-, Orchester-, Vokal-, Kammer- und Filmmusik Kompositionen, die der Gattung „Instrumentales Theater“ zuzuordnen sind, ferner Libretti, Hörspiele und Filme.
Geboren wurde Mauricio Kagel am 24.12.1931 in Buenos Aires als Sohn einer jüdischen Familie mit deutschen und russisch-ukrainischen Wurzeln. Sein Vater war Buchdrucker und gab seine Liebe zur Literatur früh an den Sohn weiter. Über seine Familiengeschichte ließ Kagel die Öffentlichkeit Zeit seines Lebens weitgehend im Dunklen, so dass noch nicht einmal die Namen seiner Eltern in der Literatur überliefert sind; lediglich anhand von Dokumenten der Einreisebehörden lässt sich rekonstruieren, dass diese Jakob und Ana Roitman hießen. In der Familie wurde Russisch und Spanisch gesprochen, später lernte Kagel auch Englisch, Französisch und Deutsch. In den 1940er und 1950er Jahren war Buenos Aires ein regelrechter Schmelztiegel der Kulturen mit Millionen von Einwanderern aus Spanien, Italien, Russland und Polen, die ihre Literatur und Musik mitgebracht hatten. Die dort ansässige Künstlerszene prägte den jungen Kagel nachhaltig. Nachdem er für das Studium am Konservatorium nicht zugelassen worden war, lernte er beziehungsweise vertiefte er bei privaten Lehrern seine Kenntnisse in Klavier, Cello, Klarinette, Orgel, Gesang, Chorleitung und Dirigieren und studierte an der Universität in Buenos Aires und an der Freien Hochschule für höhere Studien Literatur und Philosophie. Praktische Erfahrungen mit dem Kulturbetrieb machte er in Buenos Aires durch seine Tätigkeiten als Pianist, Chorleiter, Dirigent am Theatro Colón, Mitarbeiter der Cinematheque Argentine und musikalischer Berater und Leiter der Abteilung für kulturelle Arbeit an der Universität. Klassischen Kompositionsunterricht nahm er nicht, sodass es berechtigt ist zu sagen, dass Kagel als Komponist Autodidakt war. Erste Werke entstanden im Jahr 1950.
1957 heiratete Kagel die bildende Künstlerin Ursula Burghardt (1928-2008), die in Buenos Aires und Paris Grafik, Malerei und Bildhauerei studiert hatte. Im gleichen Jahr kam er mit einem Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes gemeinsam mit seiner Frau nach Deutschland. In Köln, wo er sich niederließ, existierte in den 1950er Jahren ähnlich wie Buenos Aires eine vielseitige Künstlerszene. Besonders das „Studio für elektronische Musik“ des WDR brachte wichtige Komponisten der Avantgarde dorthin, zu denen Karlheinz Stockhausen, Herbert Eimert (1897-1972) und György Ligeti (1923-2006) gehörten. Mit Sendeformaten wie „Das musikalische Nachtprogramm“ und der Konzertreihe „Musik der Zeit“ förderte der WDR zudem die Verbreitung der Neuen Musik. Auch Kagels Frau war in der Kunstszene im Rheinland aktiv, hatte eigene Ausstellungen, war an Bühnen- und Filmprojekten beteiligt, schuf Skulpturen, Zeichnungen, Collagen und Bilderbücher, doch im Gegensatz zu ihrem Mann wurde Ursula Burghardts Schaffen überwiegend im kleinen Kreis von Kunstspezialisten rezipiert.
Zu dieser Zeit war in Deutschland die kompositorische Technik des Serialismus sehr en vogue, die von Komponisten wie beispielsweise Karlheinz Stockhausen, Luigi Nono (1924-1990) oder Pierre Boulez (1925-2016) angewendet wurde. Ausgehend von der seriellen Technik wurde musikalisches Material streng organisiert und wurden die Werke anhand von mathematisch konstruierten Reihen zu Papier gebracht. Dieses Prinzip griff Kagel auf, übertrug es jedoch nicht nur auf die Noten, sondern auch auf andere Prinzipien des Komponierens wie Sprache, die Auswahl von Requisiten oder Bühnenabläufen, und erweiterte so bestehende kompositorische Ansätze. Dabei war er aber stets bereit, theoretisch festgelegte Strukturen zugunsten der Bühnenwirkung eines Stückes über Bord zu werfen, bisweilen sogar noch im Rahmen von Probenarbeiten kurz vor einer Aufführung.
In den 1960er Jahren wurde das traditionelle Theater ein zentraler Bestandteil von Kagels Werken, die dann unter dem Schlagwort „Instrumentales Theater“ zusammengefasst wurden, wofür Kagel in erster Linie in der Öffentlichkeit bekannt ist. Diese Werkgattung ist nicht zu verwechseln mit dem traditionellen „Musiktheater“, worunter auch die Oper fällt, die eine gesungene und vom Orchester begleitete Handlung auf der Bühne darbietet. In Kagels „Instrumentalem Theater“ werden auf kompositorischer Ebene Elemente einbezogen wie die Mimik, Gestik und Sprache der Ausführenden, aber auch die Beleuchtung, das Üben der Künstler, die Probenarbeit, der Bühnenraum und die Requisiten. Handlungselemente des klassischen Theaters und des gesamten Theaterbetriebs werden durch Zitate und Übertreibungen mit Witz und Komik verfremdet und parodiert. Kagels in Buenos Aires gemachten beruflichen Erfahrungen mit dem alltäglichen Kulturleben wirkten sich im „Instrumentalen Theater“ konkret auf seine Stücke aus, wodurch er sich spürbar von anderen Komponisten, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland wirkten, unterschied.
In diese Kategorie des „Instrumentalen Theaters“ gehören beispielsweise das noch in Argentinien konzipierte und in Köln komponierte Werk „Anagramma“ (1955/1956) für vier Gesangssolisten, Sprechchor und Kammerensemble, das sprachlich virtuosen Unsinn erzeugt, indem Sprache in ihre einzelnen Buchstaben zerlegt und diese als Material für die Komposition verwendet werden, ausserdem die Werke „Camera obscura. Chromatisches Spiel für Lichtquellen mit Darstellern“ (1965), „Die Himmelmechanik“ (1965) und „Pas de cinq. Wandelszene für fünf Darsteller“ (1965), bei dem der Rhythmus alleiniges Element ist, den die Darsteller durch ihre Schritte und durch Stöcke beim Laufen über hölzerne Stege erzeugen. Als Hauptwerk dieser Gattung gilt Kagels abendfüllende Komposition „Staatstheater“, deren Gegenstand die Oper mit ihren Figuren und ihrer Musik, aber auch mit ihrem ganzen organisatorischen Apparat und ihrer Alltagsarbeit ist. Diese parodistische Darstellung der Institution des hehren deutschen Staatstheaters löste bei der Uraufführung 1971 an der Hamburger Staatsoper einen Skandal aus; aufgrund von eingegangenen Drohbriefen musste unter Polizeischutz gespielt werden.
Seit den 1960er Jahre war Kagel in der Kölner Szene für Neue Musik als Komponist, Dirigent und auch als Pädagoge etabliert. 1960 wurde er als Mitbegründer des „Kölner Ensemble für Neue Musik“ über die Stadtgrenze hinaus bekannt. Als Gastdozent wirkte er 1960 bis 1976 mehrfach bei den internationalen Ferienkursen in Darmstadt, 1964 bis 1965 war er „Slee Professor for Composition“ an der State University of New York in Buffalo (Slee ist der Name des Ehepaares, das die entsprechende Gastprofessur finanziert hat), seit 1967 an der Film- und Fernsehakademie Berlin und 1968 als Leiter der Skandinavischen Kurse für Neue Musik in Göteborg. 1969 übernahm er sowohl das Institut für Neue Musik an der Rheinischen Musikschule in Köln als auch als Nachfolger von Karlheinz Stockhausen die Leitung der Kölner Kurse für Neue Musik. Zu den im Rheinland ansässigen Ensembles, mit denen er eng zusammenarbeitete, gehört beispielsweise die experimentelle Bühne „TAM – Theater am Marienplatz“ in Krefeld, die Kagel selbst als seine „Probierbühne“ bezeichnete und mit der er seit den 1970er Jahren zahlreiche Inszenierungen zusammen erarbeitet hat.
1974 wurde für Kagel an der Musikhochschule in Köln eine Professur für Neues Musiktheater eingerichtet, die er bis 1997 innehatte. Zu seinen bekanntesten Schülern, die selbst als Komponistinnen und Komponisten Bekanntheit erlangten, gehören Carola Bauckholt (geboren 1959), Manos Tsangaris (geboren 1956), Gerald Barry (geboren 1952), Maria de Alvear (geboren 1960) und Juan María Solare (geboren 1966).
Immer wieder erhielt Kagel im Laufe seines Lebens Kompositionsaufträge, wurde mit größter Anerkennung bedacht und mit Preisen geehrt, doch zugleich polarisierte sein Werk auch und stieß auf Ablehnung. An seinem Orgel-Werk „Improvisation ajoutée“ (1962) für einen Spieler, zwei Assistenten und dreistimmiger Chor ad lib., an deren Aufführung neben dem Organisten auch zwei Registranten beteiligt sind, die alle gemeinsam durch Lachen, Rufen, Husten und Klatschen den Gesamtklang bereichern, wurde kritisiert, dass das Stück den majestätischen Nimbus des Instrumentes beschädige. Auch sein Oratorium „Sankt-Bach-Passion“ (1985), das anlässlich des 300. Geburtstags von Johann Sebastian Bach (1685-1750) in Auftrag gegeben worden war und das mit Textpassagen aus dessen Briefen sowie Zitaten aus zeitgenössischen Biographien arbeitet, entsprach nicht den Vorstellungen aller Zuhörer. In dem 1970 zum 200. Geburtstag Ludwig van Beethovens uraufgeführten und von vielen hoch gelobten Schwarzweiß-Film „Ludwig van“ wird der ehrenvolle Umgang mit der Tradition der deutschen „Klassiker“ collagenhaft und ironisch verfremdet anhand der Komponistenlegende Beethoven dargestellt. Prominente wie der Künstler Joseph Beuys und der Journalist Werner Höfer mit seinem Internationalen Frühschoppen wirkten an einzelnen Passagen des Films mit. Das Hörspiel „Der Tribun. Für einen politischen Redner, Marschklänge und Lautsprecher“ (1978/1979) darf als Beispiel für Kagels virtuosen Umgang mit Sprache gelten: In diesem Stück, für das er 1979 mit dem „Hörspielpreis der Kriegsblinden“ ausgezeichnet wurde, komponierte er aus Sprichwörtern, Zitaten und Worthülsen die grotesk-absurde Propagandarede eines Despoten, die unterbrochen wird von seinen „10 Märschen um den Sieg zu verfehlen“ für Bläserensemble, deren Dissonanzen und verschobene Rhythmik ein strammes Marschieren unmöglich machen. Zu den Auszeichnungen, die Kagel im Laufe seines Lebens erhielt, gehören der Kussewitzky-Preis (1965), der Ernst von Siemens Musikpreis (2000), die Ehrendoktorwürde der Musikhochschule Franz Liszt in Weimar (2001) und der Rheinische Kulturpreis (2002).
Am 18.9.2008 starb Mauricio Kagel in Köln und wenig später am 4.12.2008 auch seine Frau Ursula Burghardt. Die gemeinsame Tochter Pamela Kagel ist Präsidentin der 2009 gegründeten „Stiftung Kagel-Burghardt“ in Basel, welche künstlerische und wissenschaftliche Projekte auf dem Gebiet der Musik und der bildenden Kunst fördert. Kagels Nachlass befindet sich bei der Paul Sacher Stiftung in Basel. Ein Teil der Bibliothek Kagels und seiner Frau wurde dem Ibero-Amerikanischen Institut Berlin gestiftet, der andere Teil liegt in der Universitäts- und Landesbibliothek Bonn. Seit 2010 veranstaltet die Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien alle drei Jahre den „Mauricio Kagel Kompositionswettbewerb“. In Nordrhein-Westfalen wird seit 2011 von der Kunststiftung NRW im zweijährigen Abstand der „Mauricio Kagel Musikpreis“ verliehen.
Werke (Auswahl)
1957 – Anagrama für Gesangsoli, Sprechchor und Kammerensemble
1958 – Transición I, für elektronische Klänge / Transición II, für Klavier, Schlagzeug und zwei Tonbänder
1959 – Sur Scene, Kammermusikalisches Theaterstück in einem Akt
1960 – Pandorasbox, Bandoneonpiece
1960 – Improvisation Ajoutée für Orgel
1967/1970 − Staatstheater, Szenische Komposition, Uraufführung 1971 1970 − Ludwig van. Ein Bericht, Film
1977 − Antasten, Klavieretüde
1977−1978 – Tango Aleman für Stimme, Violine, Bandoneon und Klavier
1978–1979 – Der Tribun für einen politischen Redner, Marschklänge und Lautsprecher, Hörspiel
1980–1982 − Rrrrrrr …, Hörspiel über eine Radiophantasie
1981−1985 – Sankt-Bach-Passion für Soli, Chöre und großes Orchester
1981–1983 (Konzertfassung) − Der mündliche Verrat (La Trahison orale). Ein Musikepos über den Teufel
1987/1988 – Musik für Tasteninstrumente und Orchester (1987/88)
1988–1991 – ..., den 24.xii.1931, Verstümmelte Nachrichten für Bariton und Instrumente
1990 – Opus 1991 Konzertstück für Orchester
1995–1996 – Orchestrion-Straat für Kammerensemble
1998 – Schwarzes Madrigal für Chorstimmen und Instrumente
1999–2000 – Burleske für Baritonsaxophon und gemischten Chor
2000 – Bestiarium, Film
2007– 2008 – In der Matratzengruft, Versuch einer Beschreibung nach Worten von Heinrich Heine, für Solotenor und Instrumentalensemble
Literatur
Klüppelholz, Werner, Mauricio Kagel 1970–1980, Köln 1981.
Klüppelholz, Werner, Kagel. Dialoge, Monologe, Köln 2001.
Rebstock, Matthias, Komposition zwischen Musik und Theater. Das instrumentale Theater von Mauricio Kagel zwischen 1959 und 1965, Hofheim 2007.
Schnebel, Dieter, Mauricio Kagel. Musik, Theater, Film, Köln 1970.
Steigerwald, Pia, „An Tasten“. Studien zur Klaviermusik von Mauricio Kagel, Hofheim 2011.
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Sträter, Nina, Mauricio Kagel, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/mauricio-kagel/DE-2086/lido/5f43b7886dcc19.01507847 (abgerufen am 10.10.2024)