Nikolaus von Kues

Kardinal und Universalgelehrter (1401-1464)

Susan Gottlöber (Maynooth)

Nikolaus von Kues als Stifter im Passions-Triptychon des Meisters des Marienlebens (um 1460-1490 in Köln tätig), um 1460, Kapelle des St. Nikolaus-Hospitals, Bernkastel-Kues. (St. Nikolaus-Hospital/Cusanusstift, Bernkastel-Kues)

Der Kar­di­nal, Theo­lo­ge, Phi­lo­soph, Ju­rist und Ma­the­ma­ti­ker Ni­ko­laus von Ku­es, auch be­kannt un­ter dem Na­men Ni­ko­laus Cu­sa­nus, ge­hört zu den ein­fluss­reichs­ten Den­kern des 15. Jahr­hun­derts. An der Schwel­le vom Mit­tel­al­ter zur Neu­zeit ste­hend, präg­te er wie kein an­de­rer die Epo­che und er­mög­lich­te den den­ke­ri­schen Über­schritt zur Re­nais­sance.

Im Jahr 1401 wur­de Ni­ko­laus Cryftz (Krebs) in Ku­es an der Mo­sel (heu­te Bern­kas­tel-Ku­es) als Sohn des wohl­ha­ben­den Mo­sel­schif­fers Jo­hann Cryftz und des­sen Frau Ka­tha­ri­na, ge­bo­re­ne Ro­emer ge­bo­ren. Er wuchs in ei­ner Zeit auf, in der sich mit den von Ita­li­en aus­brei­ten­den Ide­en der Re­nais­sance der tief­grei­fen­de Wan­del vom Mit­tel­al­ter zur Neu­zeit be­reits deut­lich ab­zeich­ne­te. Der jun­ge Cu­sa­nus be­gann 1415 sein Stu­di­um der Ar­tes li­be­ra­les in Hei­del­berg, wech­sel­te aber schon 1417 nach Pa­dua, wo er 1423 als Dok­tor der De­kre­te ab­schloss. 1425 ging er nach Köln und stu­dier­te bei Heyme­ri­cus de Cam­po (1395-1460) Phi­lo­so­phie und Theo­lo­gie. Hier kam er erst­mals mit dem Ver­such in Be­rüh­rung, das aris­to­te­li­sche ge­präg­te Den­ken der Scho­las­tik mit dem wie­der auf­kom­men­den Neu­pla­to­nis­mus zu ver­ei­nen.

1427 kehr­te er zu­rück in sei­ne Hei­mat­stadt und wur­de Se­kre­tär des Trie­rer Erz­bi­schofs Ot­to von Zie­gen­hain.

1432 ging der Cu­sa­ner im Auf­tra­g  Ul­richs von Man­der­scheid nach Ba­sel, um beim Kon­zil (1431-1449) des­sen In­ter­es­sen zu ver­tre­ten. Schon hier wie auch beim Kon­zil von Fer­ra­ra (1438-1442) wird deut­lich, was sich im­mer mehr als der Te­los sei­ner po­li­ti­schen und phi­lo­so­phi­schen Be­mü­hun­gen her­aus­kris­tal­li­sie­ren soll­te: der ge­leb­te und ge­dach­te Ver­such der Ein­heit jen­seits al­ler er­fah­re­nen Ge­gen­sät­ze in Po­li­tik und Phi­lo­so­phie. Von die­sen ak­ti­ven Be­mü­hun­gen um con­cor­d­an­tia (Über­ein­stim­mung) nicht nur im spe­ku­la­tiv-phi­lo­so­phi­schen Be­reich, son­dern auch auf der po­li­ti­scher Ebe­ne zeu­gen un­ter an­de­rem sei­ne Be­mü­hun­gen, ei­ne Spal­tung zwi­schen Kon­zil und Papst zu ver­hin­dern – die­se Ge­dan­ken schlu­gen sich nie­der in sei­ner 1433 ver­fass­ten Schrift „De Con­cor­d­an­tia Ca­tho­li­ca" – be­zie­hungs­wei­se in dem Ver­such ei­ne Uni­on mit der grie­chisch-or­tho­do­xen Kir­che zu er­rei­chen.

Dem Wech­sel des Cu­sa­ners von der Ba­se­ler Kon­zil­spar­tei auf die Sei­te von Papst Eu­gen IV. (Pon­ti­fi­kat 1431-1447) folg­te der Auf­trag, die by­zan­ti­ni­sche De­le­ga­ti­on nach Ita­li­en zu ho­len. Man kann an­neh­men, dass so­wohl die Be­geg­nung mit den die De­le­ga­ti­on be­glei­ten­den Neu­pla­to­ni­kern Bes­sa­ri­on (1403-1472) und Ple­thon (cir­ca 1355-1452), als auch die Über­fahrt über das un­end­lich wir­ken­de Meer Cu­sa­nus aufs Tiefs­te be­ein­druck­ten und ihn zu dem Kern­ge­dan­ken sei­ner Phi­lo­so­phie in­spi­rier­ten, „das Un­be­greif­li­che un­be­greif­li­cher­wei­se in wis­sen­dem Nicht­wis­sen er­ken­nend (zu) um­fas­sen."

Cu­sa­nus ver­band durch sein in­te­grie­ren­des Den­ken auf bis da­hin so nicht ver­such­te dia­lek­ti­sche Wei­se pla­to­ni­sches und aris­to­te­li­sches Ge­dan­ken­gut, ne­ga­ti­ve und po­si­ti­ve Theo­lo­gie und wur­de da­mit im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes zu ei­nem Schwel­len­den­ker, der die her­auf­zie­hen­de Re­nais­sance mit dem aus­ge­hen­den Mit­tel­al­ter ver­knüpf­te. Die tra­gen­den Fun­da­men­te sei­nes phi­lo­so­phi­schen Ge­samt­kon­zep­tes sind da­bei zwei­fels­oh­ne in der co­in­ci­den­tia op­po­si­to­rum, dem Zu­sam­men­fall der Ge­gen­sät­ze, und dem an das so­kra­ti­sche Nicht­wis­sen an­ge­lehn­ten Er­kennt­nis­prin­zip der doc­ta igno­ran­tia, der wis­sen­den Un­wis­sen­heit, zu se­hen.

Die Me­tho­den spe­ku­la­ti­ver Ma­the­ma­tik und hy­po­the­ti­scher De­duk­ti­on nut­zend, zeig­te er so­wohl die Vor­gän­gig­keit der Iden­ti­tät vor der Dif­fe­renz als auch, wie das An­wach­sen ent­ge­gen ge­setz­ter Ei­gen­hei­ten bis an die Gren­zen ih­res Ver­mö­gens de­ren kon­sti­tu­ti­ve Ein­heit er­ken­nen lässt: Das Grö­ß­te und das Kleins­te, die ins Un­end­li­che ge­dach­ten geo­me­tri­schen For­men von Kreis und Ge­ra­de ko­in­zi­die­ren; nicht, weil sie im Un­end­li­chen ih­re Iden­ti­tät ver­lie­ren, son­dern weil in der voll­kom­me­nen Ver­wirk­li­chung al­ler Mög­lich­kei­ten das Tren­nen­de auf­ge­ho­ben wird. Schon 500 Jah­re vor Mar­tin Hei­deg­ger (1889-1976) ana­ly­sier­te er da­mit die on­to­lo­gi­sche Dif­fe­renz von Sein und Sei­en­dem, die sich bei ihm in dem Ver­hält­nis von Iden­ti­tät und Al­te­ri­tät, End­li­chem und Un­end­li­chem aus­drückt. Im­mer aber ist sein ei­gent­li­ches Grund­an­lie­gen der Mensch und die Fra­ge nach der To­ta­li­tät von Sein und Den­ken. In­dem er das Ra­tio­na­le im In­tel­lek­tua­len wur­zeln lässt, lehrt er we­der ei­ne rei­ne Selbst­ent­mäch­ti­gung des Den­kens wie in skep­ti­zis­ti­schen oder re­la­ti­vis­ti­schen An­sät­zen noch ei­ne Über­hö­hung des Ra­tio­na­len zum Ab­so­lu­ten hin, son­dern viel­mehr ei­ne epis­te­mo­lo­gi­sche De­mut vor dem Ho­ri­zont des Un­end­li­chen. Erst in die­ser Ver­bin­dung kann sich das ra­tio­na­le Den­ken durch die Teil­ha­be an der Ver­nunft bis zu de­ren Ur­sprung er­he­ben oh­ne sich in der Hy­bris rhe­to­ri­scher und ra­tio­na­ler Selbst­er­mäch­ti­gung zu ver­lie­ren.

Die nach­fol­gen­den Jah­re stan­den im Zei­chen sei­ner kir­chen­po­li­ti­schen Kar­rie­re: Zwi­schen 1436 und 1440 er­hielt der Cu­sa­ner die Pries­ter­wei­he, 1448 wur­de er zum Kar­di­nal er­nannt, 1450 zum Bi­schof von Bri­xen. In der Fol­ge­zeit be­reis­te er zwei Jah­re als päpst­li­cher Le­gat das deutsch­spra­chi­ge Land und be­gann an­schlie­ßend mit sei­nem Amts­an­tritt als Bi­schof in Bri­xen sei­ne Re­form­ar­beit, die zum Syn­onym für sein po­li­ti­sches Schei­tern wer­den soll­te: An­dau­ern­de Strei­te­rei­en mit dem Her­zog Sig­mund von Ti­rol (1427-1496) hat­ten zur Fol­ge, dass Cu­sa­nus sich 1458 zu­rück­zog und zu sei­nem Freund Enea Sil­vio Pic­co­lomi­ni (1405-1464), dem spä­te­ren Papst Pi­us II. (Pon­ti­fi­kat 1458-1464), nach Rom be­gab. Vom sel­ben Jahr da­tiert auch die Stif­tungs­ur­kun­de sei­nes Hos­pi­tals in Ku­es, das, nach dem Hei­li­gen Ni­ko­laus be­nannt, als „Ar­men­hos­pi­tal" 33 al­ten Män­nern (heu­te auch Frau­en) Un­ter­kunft und Be­treu­ung bie­tet. Die Stif­tung do­tier­te er im Ein­ver­neh­men mit sei­nen Ge­schwis­tern aus dem el­ter­li­chen Er­be.

Ein wei­te­res his­to­ri­sches Er­eig­nis soll­te auf das Den­ken des Cu­sa­ners eben­falls nach­hal­ti­gen Ein­fluss ha­ben: Die Er­obe­rung Kon­stan­ti­no­pels im Jahr 1453 durch die Os­ma­nen und das da­mit ver­bun­de­ne En­de des by­zan­ti­ni­schen Rei­ches war nicht nur ei­ne re­al­po­li­ti­sche Be­dro­hung der abend­län­di­schen Chris­ten­heit und mach­te zu­dem die so­eben er­run­ge­ne Ein­heit mit der or­tho­do­xen Kir­che zu­nich­te, son­dern zeig­te ein­mal mehr, dass ein Weg ge­fun­den wer­den muss­te, Plu­ra­li­tät nicht mehr nur als Be­dro­hung des noch gel­ten­den mit­tel­al­ter­li­chen Ein­heits­ide­als zu le­sen, son­dern in der For­mel „Ein­heit in Ver­schie­den­heit" noch ein­mal po­si­tiv zu um­fan­gen.

Der Cu­sa­ner selbst ver­ar­bei­te­te sein Ent­set­zen über die im Na­men des ei­nen Got­tes be­gan­ge­nen Grau­sam­kei­ten in sei­ner Schrift „De pace fidei" (1453). In ihr griff er den Ge­dan­ken auf, den er zu­erst in sei­nem 1440 ver­fass­ten Haupt­werk „De doc­ta igno­ran­tia" ent­wi­ckel­te: das Zu­sam­men­füh­ren dif­fe­ren­ter Kon­zep­te zu ei­nem grö­ße­ren Gan­zen, oh­ne des­halb die Dif­fe­ren­ziert­heit auf­zu­he­ben, son­dern sie viel­mehr in ih­rer An­ders­heit be­ste­hen zu las­sen. Auf den in­ter­re­li­giö­sen Kon­flikt über­tra­gen be­deu­te­te ei­ne sol­che Deu­tung: „Una re­li­gio in ri­tu­um va­rieta­te" – ei­ne Re­li­gi­on in den ver­schie­de­nen Ri­ten – wohl der ers­te der­art phi­lo­so­phisch fun­dier­te Ver­such re­li­giö­ser To­le­ranz, nicht trotz, son­dern ge­ra­de auf­grund der ei­nen Wahr­heit Got­tes.

Bis zu sei­nem Tod weil­te der Cu­sa­ner als Ku­ri­en­kar­di­nal und Ge­ne­ral­vi­kar in Rom. Sein er­neu­ter Ver­such, 1460 nach Bri­xen zu­rück­zu­keh­ren, schei­ter­te an Sig­mund und en­de­te mit der Ver­trei­bung des Kar­di­nals. Ni­ko­laus von Ku­es ver­starb 1464 und wur­de in St. Pe­ter in Ket­ten in Rom bei­ge­setzt, wäh­rend sein Herz in der Ka­pel­le des von ihm ge­stif­te­ten Hos­pi­tals in Ku­es ruht. Sei­ne um­fang­rei­che Hand­schrif­ten­bi­blio­thek – Frucht und Zeug­nis sei­ner Ge­lehr­sam­keit – über­schrieb er nach sei­nem Tod dem Hos­pi­tal. Noch heu­te zeugt sie von sei­nem un­glaub­li­chen Wis­sens­drang, der ihm den Ruf ei­nes her­aus­ra­gen­den Uni­ver­sal­ge­lehr­ten sei­ner Epo­che ein­brach­te.

Nach Ni­ko­laus von Ku­es sind heu­te im Rhein­land zahl­rei­che Plät­ze und Stra­ßen be­nannt. Auch das Bi­schöf­li­che Gym­na­si­um in Ko­blenz trägt sei­nen Na­men.

Werke (Auswahl)

De Con­cor­d­an­tia Ca­tho­li­ca (1433).
De doc­ta igno­ran­tia (1440).
De pace fidei (1453).
Phi­lo­so­phisch-Theo­lo­gi­sche Schrif­ten, 3 Bän­de, Wien 1964-1967.

Literatur

Flasch, Kurt, Ni­ko­laus von Ku­es. Ge­schich­te ei­ner Ent­wick­lung, Frank­furt a. M. 1998.
Gan­dil­lac, Mau­rice de, Ni­ko­laus von Cu­es. Stu­di­en zu sei­ner Phi­lo­so­phie und phi­lo­so­phi­schen Welt­an­schau­ung, Düs­sel­dorf 1953.
Haubst, Ru­dolf, Ni­ko­laus von Ku­es - Pfört­ner der neu­en Zeit, Klei­ne Schrif­ten der Cu­sa­nus-Ge­sell­schaft, Band 12, Trier 1988.
Ja­co­bi, Klaus (Hg.), Ni­ko­laus von Ku­es, Frei­burg/Mün­chen 1979.

Online

Deut­sche Cu­sa­nus Ge­sell­schaft (Web­site der Deut­schen Cu­sa­nus Ge­sell­schaft). [On­line]
In­sti­tut für Cu­sa­nus-For­schung (Web­site des In­sti­tuts für Cu­sa­nus-For­schung der Uni­ver­si­tät Trier). [On­line]
Schön­ber­ger, Rolf, "Ni­co­laus von Ku­es", in: Neue Deut­sche Bio­gra­phie 19 (1999), S. 262-265. [On­line]

De docta ignorantia, Original in der Bibliothek des St. Nikolaus-Hospitals Bernkastel-Kues. (St. Nikolaus-Hospital Bernkastel-Kues)

Außenansicht des St. Nikolaus-Hospitals, Foto: Hans Neusius. (St. Nikolaus-Hospital/Cusanusstift, Bernkastel-Kues;Foto: Hans Neusius)

Nikolaus von Kues beim Konzil von Basel, Gemälde, Original in der Kapelle des St. Nikolaus-Hospitals in Bernkastel-Kues, Foto: Erich Gutberlet. (St. Nikolaus-Hospital/Cusanusstift, Bernkastel-Kues)

Bischofswappen des Nikolaus von Kues, Foto: Peter Herting. (St. Nikolaus-Hospital/Cusanusstift, Bernkastel-Kues)

Kardinalssiegel des Nikolaus von Kues, 1454, Original im Bischöflichen Archiv Brixen.

Cusanus-Geburtshaus in Kues. (Stadt Bernkastel-Kues)

 
Zitationshinweis

Bitte geben Sie beim Zitieren dieses Beitrags die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Gottlöber, Susan, Nikolaus von Kues, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/nikolaus-von-kues/DE-2086/lido/57c95497666f66.20231829 (abgerufen am 05.10.2024)