Otto Ohl

Geschäftsführer der Inneren Mission im Rheinland (1886-1973)

Volkmar Wittmütz (Köln)

Dr. Otto Ohl, Geschäftsführender Direktor des Rheinischen Provinzialausschusses für Innere Mission, 1957, Foto: Hans Lachmann. (Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland, 9A/2027)

Ot­to Ohl kann man oh­ne Über­trei­bung als ei­ne der prä­gen­den Per­sön­lich­kei­ten des rhei­ni­schen Pro­tes­tan­tis­mus im 20. Jahr­hun­dert be­zeich­nen. Da­bei mach­te die­ser klein­ge­wach­se­ne Mann kei­ne Kar­rie­re in der Kir­che. Ohl war über 50 Jah­re lang Ge­schäfts­füh­rer des rhei­ni­schen „Pro­vin­zi­al-Aus­schus­ses für In­ne­re Mis­si­on“, dem Dach­ver­band al­ler evan­ge­li­schen dia­ko­ni­schen An­stal­ten, Ver­ei­ne und In­itia­ti­ven in der preu­ßi­schen Rhein­pro­vinz, de­ren Tei­le nach 1945 Nord­rhein-West­fa­len, Rhein­land-Pfalz und Hes­sen zu­ge­schla­gen wur­den. Ent­stan­den war die­ser Aus­schuss 1849 als Ant­wort auf ei­ne Re­de Jo­hann Hin­rich Wi­cherns (1808-1881), in der die­ser die so­zia­len Nö­te sei­ner Zeit ge­schil­dert und die Chris­ten da­zu auf­ge­ru­fen hat­te, den Ar­men, Kran­ken und Hun­gern­den zu hel­fen. „Chris­tus muss nicht nur  im Wort, son­dern auch durch die hel­fen­de Tat ge­pre­digt wer­den“ – die­se Lo­sung be­stimm­te die Ar­beit der In­ne­ren Mis­si­on. Ohl lei­te­te ih­ren rhei­ni­schen Ab­le­ger von 1912 bis 1963. Über 50 Jah­re präg­te er, der prak­tisch in den Vor­stän­den al­ler evan­ge­li­schen Kran­ken­häu­ser, An­stal­ten und Hei­me im Rhein­land saß, Ge­stalt und Ge­halt die­ser Ein­rich­tun­gen. Sein weit über das Rhein­land hin­aus­rei­chen­der Ein­fluss rühr­te vor al­lem von der lan­gen Dau­er und der Viel­sei­tig­keit sei­ner Tä­tig­keit in der­sel­ben Po­si­ti­on.

Ot­to Ohl kam, wie vie­le an­de­re Pfar­rer, als Sohn ei­nes Pfar­rers in Duis­burg auf die Welt. Sei­ne Mut­ter Ade­le, ge­bo­re­ne Raa­cke (1853-1910) war Haus­frau. Doch sein Va­ter Gus­taf Ohl (1846-1911) hat­te kei­ne nor­ma­le Pfarr­stel­le, son­dern war zwei­ter Pas­tor in der Duis­bur­ger Dia­ko­nen­an­stalt, wo vor al­lem see­lisch kran­ke Men­schen leb­ten und Dia­ko­ne, ei­ne Mi­schung aus Pfarr­ge­hil­fe, Kran­ken­pfle­ger und Er­zie­her, aus­ge­bil­det wur­den. In der Dienst­woh­nung auf dem Ge­län­de der An­stalt wuchs Ohl mit zwei jün­ge­ren Ge­schwis­tern auf, mach­te 1904 das Ab­itur und stu­dier­te dann Theo­lo­gie in Tü­bin­gen, Ber­lin und Bonn. 1909 leg­te er das ers­te Ex­amen, 1911 das zwei­te ab. Da­nach war er kur­ze Zeit „Agen­t“ des Evan­ge­li­schen Jüng­lings­bun­des und hoff­te, von ei­ner Ge­mein­de in ei­ne re­gu­lä­re Pfarr­stel­le ge­wählt zu wer­den. Als das nicht ge­schah, ak­zep­tier­te er das An­ge­bot, „Ver­eins­geist­li­cher“ – wie man da­mals sag­te – des Pro­vin­zi­al-Ausch­us­ses für In­ne­re Mis­si­on mit dem Sitz in Lan­gen­berg (heu­te Stadt Vel­bert), zu wer­den. Die Lan­gen­ber­ger Fa­bri­kan­ten- und Kauf­manns­fa­mi­li­en, ei­ne schma­le, aber rei­che Ho­no­ra­tio­ren­schicht, hat­te sich be­reits früh des Aus­schus­ses an­ge­nom­men, der im We­sent­li­chen von Spen­den leb­te, und sei­ne Ver­le­gung von Bonn nach Lan­gen­berg in die We­ge ge­lei­tet.

Das neue Amt be­deu­te­te, dass Ohl in Sa­chen der In­ne­ren Mis­si­on vor al­lem in der Rhein­pro­vinz rei­sen, die vie­len An­stal­ten be­su­chen und den Syn­oden, Pfar­rern, Ge­mein­den und Ver­ei­nen An­re­gun­gen ge­ben muss­te, wie die Ar­beit in der Für­sor­ge­er­zie­hung, der Fa­mi­li­en­hil­fe, der „Sonn­tags­schu­le“, den Kin­der­gär­ten, den Wohn­hei­men, der Pres­se- und Flug­blatt­ver­brei­tung, den evan­ge­li­schen Kran­ken­häu­sern zu or­ga­ni­sie­ren und zu ge­stal­ten war. Die Ar­beit war viel­sei­tig, weil das so­zia­le Netz des Staa­tes da­mals noch kaum ge­knüpft war und fast al­le so­zia­len Pro­ble­me zu­erst bei den Kir­chen­ge­mein­den be­zie­hungs­wei­se ih­ren in­zwi­schen ge­grün­de­ten Ver­ei­nen ab­ge­la­den wur­den. Weil sich die­se Ar­beit aber zu­neh­mend pro­fes­sio­na­li­sier­te und im­mer we­ni­ger eh­ren­amt­lich ge­leis­tet wur­de, war Ohls Tä­tig­keit meist dar­auf be­schränkt, Hin­wei­se zu ge­ben, wie man am bes­ten Spen­den ein­trei­ben, kom­mu­na­le oder kirch­li­che Hil­fe mo­bi­li­sie­ren und die zu­nächst noch we­ni­gen, spä­ter zahl­rei­cher wer­den­den staat­li­chen So­zi­al­ge­set­ze nut­zen kön­ne.

Auch die po­li­ti­schen Auf­fas­sun­gen, die Ohl ver­trat, qua­li­fi­zier­ten ihn für die­se Tä­tig­keit. Denn wie die evan­ge­li­sche Kir­che wa­ren auch ih­re dia­ko­ni­schen Ver­ei­ne und die In­ne­re Mis­si­on als Gan­zes dem Kai­ser und Kö­nig von Preu­ßen als dem „sum­mus epi­sco­pus“ der Kir­che treu er­ge­ben. Die Reichs­fein­de sah man in den „so­zia­len Ide­en“ und ih­ren Trä­gern in der SPD und den Ge­werk­schaf­ten.

Im Ers­ten Welt­krieg ge­hör­te die In­ne­re Mis­si­on zum Chor der Pa­trio­ten, die in dem mit­rei­ßen­den Welt­ge­sche­hen die Hand­schrift Got­tes zu er­ken­nen glaub­ten und über­haupt den Krieg als Mit­tel zur „geis­ti­gen Er­neue­run­g“ des deut­schen Vol­kes ver­klär­ten. Au­ßer­dem wur­de die Dia­ko­nie, auch die rhei­ni­sche, ganz di­rekt in den Krieg ein­ge­spannt; im Rah­men der „Feld-Dia­ko­nie“ pfleg­ten Dia­ko­ne und Dia­ko­nis­sen die Ver­wun­de­ten und Ver­letz­ten, so­wohl an der Front wie in der Etap­pe und in der Hei­mat. Die Re­vo­lu­ti­on und die mi­li­tä­ri­sche Nie­der­la­ge 1918 ka­men in der evan­ge­li­schen Kir­che ei­nem völ­li­gen Zu­sam­men­bruch gleich. Die Kir­che hat­te ihr Ober­haupt für im­mer ver­lo­ren, noch da­zu durch ei­nen Um­sturz. Die In­ne­re Mis­si­on und auch Ohl wa­ren er­schüt­tert und klag­ten laut. Aber Ohl ver­blieb – an­ders als die Kir­che und na­he­zu al­le Pfar­rer - nicht in der Rol­le des Kla­gen­den. Er er­kann­te ra­scher als vie­le sei­ner Kol­le­gen, dass die neue Re­pu­blik als ein So­zi­al­staat sich viel in­ten­si­ver als das Kai­ser­reich um ei­ne Lö­sung der So­zia­len Fra­ge be­müh­te und da­bei all den Ver­ei­nen, die auch auf die­sem Feld tä­tig wa­ren, nicht al­lein Raum, son­dern viel­fäl­ti­ge Un­ter­stüt­zung ge­währ­te. Ohl nutz­te dies für die In­ne­re Mis­si­on ge­schickt aus. So war er zum Bei­spiel 1920 ma­ß­geb­lich be­tei­ligt an der Grün­dung ei­nes „Wirt­schafts­bun­des ge­mein­nüt­zi­ger Wohl­fahrts­ein­rich­tun­gen“, ei­nem Un­ter­neh­men, das Kran­ken­häu­ser, Al­ten- und Kin­der­hei­me frei­er Wohl­fahrts­ver­bän­de mit Le­bens­mit­teln, Brenn­stof­fen und ähn­li­chem Ma­te­ri­al ver­sorg­te, und zwar zu güns­ti­gen Prei­sen. Es war je­doch nicht oh­ne Ri­si­ko, wenn ein so­zia­ler Ver­band sich auf das Feld frei­en Un­ter­neh­mer­tums be­gab – wenn das Un­ter­neh­men in­sol­vent wur­de, dis­kre­di­tier­te dies die ge­sam­te Wohl­fahrts­pfle­ge der Kir­chen und Ver­ei­ne.

 

Ohl ent­wi­ckel­te jetzt auch Kon­tak­te zu den üb­ri­gen Trä­gern der frei­en Wohl­fahrts­pfle­ge, zur Ca­ri­tas, zum Ro­ten Kreuz, zum Wohl­fahrts­ver­ein der Jü­di­schen Ge­mein­den und zur Ar­bei­ter­wohl­fahrt. Al­le die­se Ver­bän­de or­ga­ni­sier­ten sich in ei­nem „Ver­ein für öf­fent­li­che und pri­va­te Für­sor­ge“, in dem der rhei­ni­sche Pfar­rer bald ei­ne füh­ren­de Rol­le spiel­te. Da­bei blieb er durch­aus sei­ner Kir­che ver­bun­den und be­ton­te im­mer, dass die In­ne­re Mis­si­on und all ih­re Ver­ei­ne ih­re Hil­fe als „ei­nen Got­tes­dienst in an­de­rer For­m“ ver­stan­den. Ihm war be­wusst, dass „wei­te Volks­krei­se.... für die Kir­che und das Evan­ge­li­um nur noch er­reich­bar sind auf dem We­ge über die evan­ge­li­sche Wohl­fahrts­pfle­ge“.

Den po­li­ti­schen Um­bruch 1933 be­grü­ß­te Ohl, al­ler­dings nicht un­ein­ge­schränkt. Das Ziel der „Volks­ein­heit und Volks­ver­bun­den­heit“, das er im Na­tio­nal­so­zia­lis­mus zu er­ken­nen glaub­te, teil­te er un­be­dingt. Kri­ti­sche Tö­ne fin­den wir bei ihm hin­sicht­lich der ras­si­schen und eu­ge­ni­schen Tei­le des NS-Pro­gramms. Schon in den Jah­ren der Wei­ma­rer Re­pu­blik hat­te Ohl al­len Über­le­gun­gen, die um die neue Leh­re der „Erb­ge­sund­heit“ und des „min­der­wer­ti­gen Le­bens“ auch im Raum der In­ne­ren Mis­si­on kreis­ten, ei­ne schar­fe Ab­sa­ge er­teilt. Er wehr­te sich auch ge­gen die Be­stre­bun­gen, bei der Schaf­fung ei­ner evan­ge­li­schen Reichs­kir­che die ver­eins­mä­ßig or­ga­ni­sier­te In­ne­re Mis­si­on gleich mit ein­zu­glie­dern. Die Ver­eins­form ha­be sich be­währt, sie sei fle­xi­bler und da­her für Hil­fe­leis­tun­gen bes­ser ge­eig­net als die ho­heit­li­che Or­ga­ni­sa­ti­ons­form der Kir­che.

In dem her­auf­zie­hen­den Kir­chen­kampf blieb die rhei­ni­sche In­ne­re Mis­si­on auf Drän­gen Ohls neu­tral, ob­wohl ih­re Sym­pa­thie si­cher­lich der Be­ken­nen­den Kir­che ge­hör­te. Aber ge­ra­de in der Wohl­fahrts­pfle­ge sei Neu­tra­li­tät das obers­te Ge­bot, um nach al­len Sei­ten of­fen zu blei­ben, so Ohl. Die­se Neu­tra­li­tät be­deu­te­te nicht, dass Ohl sich pas­siv ver­hielt, im Ge­gen­teil, er kämpf­te zäh auf sei­nem Ar­beits­feld ge­gen die „Na­tio­na­lis­ti­sche Volks­wohl­fahr­t“ (NSV) und de­ren Be­stre­bun­gen, An­stal­ten wie Kin­der­gär­ten und Hei­me der In­ne­ren Mis­si­on in die ei­ge­ne Re­gie zu über­neh­men. Er lehn­te auch al­le Ver­su­che der NSV ab, zu ei­ner „Tei­lung der Auf­ga­ben“ zu ge­lan­gen, et­wa nach dem Mus­ter, die In­ne­re Mis­si­on sei zu­stän­dig für die Kran­ken, die NSV für die Ge­sun­den. Ohl be­stand dar­auf, dass Kir­che, Mis­si­on und Evan­ge­li­um aus­ge­rich­tet sei­en auf das gan­ze Volk. Es ge­lang ihm, die dia­ko­ni­schen Ein­rich­tun­gen der Kir­che im Rhein­land weit­ge­hend zu er­hal­ten.

Was die Ver­stri­ckung der In­ne­ren Mis­si­on in die Eu­tha­na­sie-Maß­nah­men wäh­rend des Krie­ges be­trifft, so ist das Ur­teil we­ni­ger po­si­tiv. Zwar be­tei­lig­te man sich im Rhein­land nicht an den frü­hen Eu­tha­na­sie-Maß­nah­men, leis­te­te aber kei­nen Wi­der­stand, als – kriegs­be­dingt – ab 1943 um­fang­rei­che Ver­le­gun­gen von Pa­ti­en­ten aus kirch­li­chen Hei­men „nach Os­ten“ statt­fan­den.

Die Stun­de der Nie­der­la­ge Deutsch­lands war ei­gent­lich die Stun­de der In­ne­ren Mis­si­on. Und Ohl war so­fort be­reit, Hil­fe zu or­ga­ni­sie­ren und ei­ne „Ak­ti­on Ge­mein­de­hil­fe“ zu grün­den. Aber das neue „Evan­ge­li­sche Hilfs­wer­k“ un­ter Eu­gen Gers­ten­mei­er (1906-1986) kam ihm zu­vor und hat­te vor al­lem die bes­se­ren Kon­tak­te ins Aus­land. In der neu­en Or­ga­ni­sa­ti­on war der In­ne­ren Mis­si­on ein Kon­kur­rent er­wach­sen. Von der rhei­ni­schen Kir­chen­lei­tung wur­de Ohl da­bei weit­ge­hend und in ver­let­zen­der Wei­se über­gan­gen. Erst 1951 kam es zu ei­ner Aus­söh­nung. 1957 be­schloss die Evan­ge­li­sche Kir­che, In­ne­re Mis­si­on und Evan­ge­li­sches Hilfs­werk un­ter dem Na­men „Dia­ko­nie“ zu­sam­men­zu­füh­ren; die­ser Be­schluss wur­de im Rhein­land 1963 um­ge­setzt. Ot­to Ohl, der auch in der frü­hen Bun­des­re­pu­blik als Fach­mann für Kran­ken­häu­ser, Kin­der­hei­me und –gär­ten, Al­ten­hei­me und al­le Pfle­ge­ein­rich­tun­gen im­mer wie­der zu Ra­te ge­zo­gen wur­de, trat mit fast 77 Jah­ren in den Ru­he­stand. Er starb, hoch­ge­ehrt am 23.2.1973.

Literatur

Schlös­ser-Kost, Kor­du­la, Evan­ge­li­sche Kir­che un­d ­so­zia­le Fra­ge 1918-1933. Die Wahr­neh­mung so­zia­ler Ver­ant­wor­tung durch die rhei­ni­sche Pro­vin­zi­al­kir­che, Köln 1996.
Witsch­ke, Rein­hard (Hg.), Dia­ko­nie be­wegt. 150 Jah­re In­ne­re Mis­si­on und Dia­ko­nie im Rhein­land, Köln 1999.
Witt­mütz, Volk­mar, Ot­to Ohl (1886-1973). 50 Jah­re Ge­schäfts­füh­rer der Rhei­ni­schen In­ne­ren Mis­si­on, in: Haas, Rei­mund/Bärsch, Jür­gen (Hg.), Chris­ten an der Ruhr, Band 3, Müns­ter 2006, S. 174-188.

v.l.n.r.: Pf. Dr. Otto Ohl, Präses Joachim Beckmann, Wolters, Otto Flehinghaus, Eichholz, Friedrich Wilhelm von Staa (Direktor des diakonisch-missionarischen Werkes der EKiR). (Archiv der Ev. Kirche im Rheinland/Hans Lachmann, CC BY-SA 3.0)

 
Zitationshinweis

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Wittmütz, Volkmar, Otto Ohl, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/otto-ohl/DE-2086/lido/57c955fb2a21d7.69220052 (abgerufen am 01.12.2024)