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Otto Ohl kann man ohne Übertreibung als eine der prägenden Persönlichkeiten des rheinischen Protestantismus im 20. Jahrhundert bezeichnen. Dabei machte dieser kleingewachsene Mann keine Karriere in der Kirche. Ohl war über 50 Jahre lang Geschäftsführer des rheinischen „Provinzial-Ausschusses für Innere Mission“, dem Dachverband aller evangelischen diakonischen Anstalten, Vereine und Initiativen in der preußischen Rheinprovinz, deren Teile nach 1945 Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Hessen zugeschlagen wurden. Entstanden war dieser Ausschuss 1849 als Antwort auf eine Rede Johann Hinrich Wicherns (1808-1881), in der dieser die sozialen Nöte seiner Zeit geschildert und die Christen dazu aufgerufen hatte, den Armen, Kranken und Hungernden zu helfen. „Christus muss nicht nur im Wort, sondern auch durch die helfende Tat gepredigt werden“ – diese Losung bestimmte die Arbeit der Inneren Mission. Ohl leitete ihren rheinischen Ableger von 1912 bis 1963. Über 50 Jahre prägte er, der praktisch in den Vorständen aller evangelischen Krankenhäuser, Anstalten und Heime im Rheinland saß, Gestalt und Gehalt dieser Einrichtungen. Sein weit über das Rheinland hinausreichender Einfluss rührte vor allem von der langen Dauer und der Vielseitigkeit seiner Tätigkeit in derselben Position.
Otto Ohl kam, wie viele andere Pfarrer, als Sohn eines Pfarrers in Duisburg auf die Welt. Seine Mutter Adele, geborene Raacke (1853-1910) war Hausfrau. Doch sein Vater Gustaf Ohl (1846-1911) hatte keine normale Pfarrstelle, sondern war zweiter Pastor in der Duisburger Diakonenanstalt, wo vor allem seelisch kranke Menschen lebten und Diakone, eine Mischung aus Pfarrgehilfe, Krankenpfleger und Erzieher, ausgebildet wurden. In der Dienstwohnung auf dem Gelände der Anstalt wuchs Ohl mit zwei jüngeren Geschwistern auf, machte 1904 das Abitur und studierte dann Theologie in Tübingen, Berlin und Bonn. 1909 legte er das erste Examen, 1911 das zweite ab. Danach war er kurze Zeit „Agent“ des Evangelischen Jünglingsbundes und hoffte, von einer Gemeinde in eine reguläre Pfarrstelle gewählt zu werden. Als das nicht geschah, akzeptierte er das Angebot, „Vereinsgeistlicher“ – wie man damals sagte – des Provinzial-Auschusses für Innere Mission mit dem Sitz in Langenberg (heute Stadt Velbert), zu werden. Die Langenberger Fabrikanten- und Kaufmannsfamilien, eine schmale, aber reiche Honoratiorenschicht, hatte sich bereits früh des Ausschusses angenommen, der im Wesentlichen von Spenden lebte, und seine Verlegung von Bonn nach Langenberg in die Wege geleitet.
Das neue Amt bedeutete, dass Ohl in Sachen der Inneren Mission vor allem in der Rheinprovinz reisen, die vielen Anstalten besuchen und den Synoden, Pfarrern, Gemeinden und Vereinen Anregungen geben musste, wie die Arbeit in der Fürsorgeerziehung, der Familienhilfe, der „Sonntagsschule“, den Kindergärten, den Wohnheimen, der Presse- und Flugblattverbreitung, den evangelischen Krankenhäusern zu organisieren und zu gestalten war. Die Arbeit war vielseitig, weil das soziale Netz des Staates damals noch kaum geknüpft war und fast alle sozialen Probleme zuerst bei den Kirchengemeinden beziehungsweise ihren inzwischen gegründeten Vereinen abgeladen wurden. Weil sich diese Arbeit aber zunehmend professionalisierte und immer weniger ehrenamtlich geleistet wurde, war Ohls Tätigkeit meist darauf beschränkt, Hinweise zu geben, wie man am besten Spenden eintreiben, kommunale oder kirchliche Hilfe mobilisieren und die zunächst noch wenigen, später zahlreicher werdenden staatlichen Sozialgesetze nutzen könne.
Auch die politischen Auffassungen, die Ohl vertrat, qualifizierten ihn für diese Tätigkeit. Denn wie die evangelische Kirche waren auch ihre diakonischen Vereine und die Innere Mission als Ganzes dem Kaiser und König von Preußen als dem „summus episcopus“ der Kirche treu ergeben. Die Reichsfeinde sah man in den „sozialen Ideen“ und ihren Trägern in der SPD und den Gewerkschaften.
Im Ersten Weltkrieg gehörte die Innere Mission zum Chor der Patrioten, die in dem mitreißenden Weltgeschehen die Handschrift Gottes zu erkennen glaubten und überhaupt den Krieg als Mittel zur „geistigen Erneuerung“ des deutschen Volkes verklärten. Außerdem wurde die Diakonie, auch die rheinische, ganz direkt in den Krieg eingespannt; im Rahmen der „Feld-Diakonie“ pflegten Diakone und Diakonissen die Verwundeten und Verletzten, sowohl an der Front wie in der Etappe und in der Heimat. Die Revolution und die militärische Niederlage 1918 kamen in der evangelischen Kirche einem völligen Zusammenbruch gleich. Die Kirche hatte ihr Oberhaupt für immer verloren, noch dazu durch einen Umsturz. Die Innere Mission und auch Ohl waren erschüttert und klagten laut. Aber Ohl verblieb – anders als die Kirche und nahezu alle Pfarrer - nicht in der Rolle des Klagenden. Er erkannte rascher als viele seiner Kollegen, dass die neue Republik als ein Sozialstaat sich viel intensiver als das Kaiserreich um eine Lösung der Sozialen Frage bemühte und dabei all den Vereinen, die auch auf diesem Feld tätig waren, nicht allein Raum, sondern vielfältige Unterstützung gewährte. Ohl nutzte dies für die Innere Mission geschickt aus. So war er zum Beispiel 1920 maßgeblich beteiligt an der Gründung eines „Wirtschaftsbundes gemeinnütziger Wohlfahrtseinrichtungen“, einem Unternehmen, das Krankenhäuser, Alten- und Kinderheime freier Wohlfahrtsverbände mit Lebensmitteln, Brennstoffen und ähnlichem Material versorgte, und zwar zu günstigen Preisen. Es war jedoch nicht ohne Risiko, wenn ein sozialer Verband sich auf das Feld freien Unternehmertums begab – wenn das Unternehmen insolvent wurde, diskreditierte dies die gesamte Wohlfahrtspflege der Kirchen und Vereine.
Ohl entwickelte jetzt auch Kontakte zu den übrigen Trägern der freien Wohlfahrtspflege, zur Caritas, zum Roten Kreuz, zum Wohlfahrtsverein der Jüdischen Gemeinden und zur Arbeiterwohlfahrt. Alle diese Verbände organisierten sich in einem „Verein für öffentliche und private Fürsorge“, in dem der rheinische Pfarrer bald eine führende Rolle spielte. Dabei blieb er durchaus seiner Kirche verbunden und betonte immer, dass die Innere Mission und all ihre Vereine ihre Hilfe als „einen Gottesdienst in anderer Form“ verstanden. Ihm war bewusst, dass „weite Volkskreise.... für die Kirche und das Evangelium nur noch erreichbar sind auf dem Wege über die evangelische Wohlfahrtspflege“.
Den politischen Umbruch 1933 begrüßte Ohl, allerdings nicht uneingeschränkt. Das Ziel der „Volkseinheit und Volksverbundenheit“, das er im Nationalsozialismus zu erkennen glaubte, teilte er unbedingt. Kritische Töne finden wir bei ihm hinsichtlich der rassischen und eugenischen Teile des NS-Programms. Schon in den Jahren der Weimarer Republik hatte Ohl allen Überlegungen, die um die neue Lehre der „Erbgesundheit“ und des „minderwertigen Lebens“ auch im Raum der Inneren Mission kreisten, eine scharfe Absage erteilt. Er wehrte sich auch gegen die Bestrebungen, bei der Schaffung einer evangelischen Reichskirche die vereinsmäßig organisierte Innere Mission gleich mit einzugliedern. Die Vereinsform habe sich bewährt, sie sei flexibler und daher für Hilfeleistungen besser geeignet als die hoheitliche Organisationsform der Kirche.
In dem heraufziehenden Kirchenkampf blieb die rheinische Innere Mission auf Drängen Ohls neutral, obwohl ihre Sympathie sicherlich der Bekennenden Kirche gehörte. Aber gerade in der Wohlfahrtspflege sei Neutralität das oberste Gebot, um nach allen Seiten offen zu bleiben, so Ohl. Diese Neutralität bedeutete nicht, dass Ohl sich passiv verhielt, im Gegenteil, er kämpfte zäh auf seinem Arbeitsfeld gegen die „Nationalistische Volkswohlfahrt“ (NSV) und deren Bestrebungen, Anstalten wie Kindergärten und Heime der Inneren Mission in die eigene Regie zu übernehmen. Er lehnte auch alle Versuche der NSV ab, zu einer „Teilung der Aufgaben“ zu gelangen, etwa nach dem Muster, die Innere Mission sei zuständig für die Kranken, die NSV für die Gesunden. Ohl bestand darauf, dass Kirche, Mission und Evangelium ausgerichtet seien auf das ganze Volk. Es gelang ihm, die diakonischen Einrichtungen der Kirche im Rheinland weitgehend zu erhalten.
Was die Verstrickung der Inneren Mission in die Euthanasie-Maßnahmen während des Krieges betrifft, so ist das Urteil weniger positiv. Zwar beteiligte man sich im Rheinland nicht an den frühen Euthanasie-Maßnahmen, leistete aber keinen Widerstand, als – kriegsbedingt – ab 1943 umfangreiche Verlegungen von Patienten aus kirchlichen Heimen „nach Osten“ stattfanden.
Die Stunde der Niederlage Deutschlands war eigentlich die Stunde der Inneren Mission. Und Ohl war sofort bereit, Hilfe zu organisieren und eine „Aktion Gemeindehilfe“ zu gründen. Aber das neue „Evangelische Hilfswerk“ unter Eugen Gerstenmeier (1906-1986) kam ihm zuvor und hatte vor allem die besseren Kontakte ins Ausland. In der neuen Organisation war der Inneren Mission ein Konkurrent erwachsen. Von der rheinischen Kirchenleitung wurde Ohl dabei weitgehend und in verletzender Weise übergangen. Erst 1951 kam es zu einer Aussöhnung. 1957 beschloss die Evangelische Kirche, Innere Mission und Evangelisches Hilfswerk unter dem Namen „Diakonie“ zusammenzuführen; dieser Beschluss wurde im Rheinland 1963 umgesetzt. Otto Ohl, der auch in der frühen Bundesrepublik als Fachmann für Krankenhäuser, Kinderheime und –gärten, Altenheime und alle Pflegeeinrichtungen immer wieder zu Rate gezogen wurde, trat mit fast 77 Jahren in den Ruhestand. Er starb, hochgeehrt am 23.2.1973.
Literatur
Schlösser-Kost, Kordula, Evangelische Kirche und soziale Frage 1918-1933. Die Wahrnehmung sozialer Verantwortung durch die rheinische Provinzialkirche, Köln 1996.
Witschke, Reinhard (Hg.), Diakonie bewegt. 150 Jahre Innere Mission und Diakonie im Rheinland, Köln 1999.
Wittmütz, Volkmar, Otto Ohl (1886-1973). 50 Jahre Geschäftsführer der Rheinischen Inneren Mission, in: Haas, Reimund/Bärsch, Jürgen (Hg.), Christen an der Ruhr, Band 3, Münster 2006, S. 174-188.
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Wittmütz, Volkmar, Otto Ohl, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/otto-ohl/DE-2086/lido/57c955fb2a21d7.69220052 (abgerufen am 01.12.2024)