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In der Weimarer Republik gehörte Paul Reusch zu den einflussreichsten Unternehmern der deutschen Schwerindustrie, der nicht nur als langjähriger Leiter der Gutehoffnungshütte (GHH), sondern auch aufgrund seiner vielseitigen Verbandstätigkeit eine herausragende Position in der deutschen Wirtschaftselite einnahm. Die bedeutendste Leistung des „Löwen von Oberhausen“, wie viele seiner Zeitgenossen ihn bezeichneten, bestand zweifellos im Ausbau der GHH zu einem überregionalen Montan- und Weiterverabeitungskonzern.
Geboren wurde Paul Reusch am 9.2.1868 in Königsbronn als Sohn des württembergischen Hüttenverwalters Karl Hermann Reusch (1824-1894) und seiner aus der hohen württembergischen Beamtenschaft stammenden Ehefrau Marie Reusch geborene Riecke (1835-1900). Paul Reusch wuchs somit in einem durch besondere Staatsnähe gekennzeichneten Unternehmermilieu auf. Die für das Kaiserreich typische enge Verflechtung zwischen Unternehmertum und höherer Beamtenschaft zeigte sich bei ihm überdies in seiner Heirat mit Gertrud Zimmer (1869-1944), deren Vater Amtsgerichtsrat war. Aus der Ehe gingen vier Kinder hervor.
Die national-konservative, am politischen System des Kaiserreichs orientierte Grundhaltung des Protestanten Reusch wurde durch seine Mitgliedschaft in der Burschenschaft Saxonia und seinen Militärdienst (1890/1891) beim Ersten Bayerischen Feld-Artillerie-Regiment Prinzregent Luitpold in München gefestigt. Ein am monarchischen Prinzip ausgerichtetes Staatswesen mit starker Exekutive bildete dauerhaft sein Idealbild einer Staatsverfassung.
In beruflicher Perspektive erlebte Reusch innerhalb kürzester Zeit einen fulminanten Aufstieg. Nach dem Studium des Berg- und Hüttenwesens am Polytechnikum in Stuttgart (1886-1889) ergriff er die Chance, auf den von seinem Vater geführten Jenbacher Berg- und Hüttenwerken in Tirol als Assistent anzufangen. Damit gelangte er unmittelbar in die berufliche Lebenswelt der Montanindustrie. Im Anschluss an seinen Militärdienst fand er eine Anstellung als Ingenieur bei der Budapester Firma Ganz & Comp., Eisengießerei und Maschinen-Fabriks-AG (1891-1895), bevor er 1895 zur Witkowitzer Bergbau- und Hüttengewerkschaft in Mähren wechselte. Mit diesen beruflichen Erfahrungen gelang ihm 1901 der Wechsel ins Ruhrgebiet, wo er einen Direktorposten bei der Friedrich-Wilhelm-Hütte in Mülheim an der Ruhr übernahm. Damit vollzog er im Alter von 33 Jahren einen auf den ersten Blick außergewöhnlichen Karriereschritt für einen Revierfremden, auch wenn er mit seinem Hochschulabschluss den Anforderungen des modernen Managements genügte.
Schließlich trat er 1905 in den Vorstand der GHH in Oberhausen ein, die sich mehrheitlich im Besitz der Industriellenfamilie Haniel befand, und stieg dort 1909 zum Vorstandsvorsitzenden auf. Diese Position an der Spitze eines alteingesessenen Ruhrunternehmens sollte er in den folgenden 30 Jahren bekleiden. Als Leiter eines industriellen Großunternehmens erweiterte sich sein Handlungsspielraum enorm, zugleich wuchs er auf diese Weise in die überregionale Verbandslandschaft hinein. Mit seiner Ernennung zum „Kommerzienrat“ 1910 wurde er auch sozial in die Wirtschaftselite des Kaiserreichs integriert.
Nachdem er sich als Verantwortlicher für die GHH-Abteilung Sterkrade bewährt und anschließend den Vorstandsvorsitz übernommen hatte, verfolgte er zunächst das Ziel, die Erzgrundlage des Unternehmens zu erweitern. Hierzu investierte er unter anderem in die GHH-eigenen Minettevorkommen in Deutsch-Lothringen und Luxemburg. Bereits 1905 hatte die GHH den Rheinhafen Walsum (heute Stadt Duisburg) erbaut, um Erze kostengünstiger über den Wasserweg zu den Hüttenwerken zu transportieren und die Verfrachtung der geförderten Kohle auf gleichem Wege sicherzustellen. Darüber hinaus stieß Reusch schon vor dem Ersten Weltkrieg den Ausbau der Weiterverarbeitung an. Vor dem Hintergrund bestehender Kartell- und Syndikatsbestimmungen sah er im Ausbau nachgelagerter Produktionsstufen die Chance, die Eisen- und Stahlproduktion des Unternehmens zu erweitern und gegenüber konjunkturellen Schwankungen zu stabilisieren. Gleichzeitig setzte er mit den ersten Angliederungen, wie Boecker & Comp., dem Altenhundemer Walz- und Hammerwerk oder dem Osnabrücker Kupfer- und Drahtwerk, die im Sterkrader Maschinenbau bestehenden Entwicklungspfade der GHH fort.
Zu Beginn des Ersten Weltkriegs war die GHH nicht auf einen langjährigen materialintensiven Konflikt eingerichtet, doch stellte Reusch die Produktion zügig auf Rüstungsgüter um. Aufgrund der exponierten Stellung der Ruhrunternehmen für die Versorgung mit Kohle und Rüstungsgütern wurde er zudem Mitglied im Beirat des Deutschen Rohstoffamtes sowie im Beirat des Waffen- und Munitionsbeschaffungsamtes (Wumba), einem Amt der Kriegsrohstoffabteilung. Umgekehrt war er nur teilweise bereit, die mit der Ausweitung der Rüstungsproduktion verbundenen unternehmerischen Risiken zu tragen, weshalb er sich um staatliche Absatzgarantien bemühte und vor allem Produktionsumstellungen vornahm, die eine spätere Friedensproduktion ermöglichten. Infolge staatlicher Rüstungsaufträge stiegen die Gewinne bald merklich. Sie konnten nur durch den von Reusch gebilligten Einsatz von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern erzielt werden und bildeten die finanzielle Grundlage für weitere Angliederungen.
Nach dem Ersten Weltkrieg beschleunigte Reusch die Expansion der GHH in Richtung Weiterverarbeitung. Zusammen mit der AEG und der HAPAG gründete er die Deutsche Werft in Hamburg und erwarb zahlreiche weitere Beteiligungen für die GHH, darunter die Aktienmehrheit der Maschinenfabrik Esslingen sowie die Haniel & Lueg GmbH und das Eisenwerk Nürnberg. Im Januar 1921 wurde mit der Rheinwerft Walsum zudem eine der größten und leistungsfähigsten Binnenwerften Europas eröffnet.
Da die Erzfelder in der Normandie und im lothringischen Minettegebiet mit dem Friedensvertrag von Versailles verloren waren, bemühte sich Reusch um eine Kompensation in Form süddeutscher Erzvorkommen und beteiligte die GHH an den 1921 neu gegründeten Schwäbischen Hüttenwerken, bei denen bereits sein Vater tätig gewesen war. Im Unterschied zu anderen Inflationsgewinnern basierte der Ausbau der GHH jedoch kaum auf Krediten, gleichwohl profitierte sie von den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Nachkriegszeit. Viele Übernahmekandidaten befanden sich in einer finanziell angeschlagenen Position und hatten daher ein starkes Interesse an einer Zusammenarbeit mit einem rohstoffreichen und finanzstarken Großunternehmen der Ruhrindustrie. Reusch akzeptierte in der Regel keine losen Interessen- oder Lieferverträge, sondern bestand meist auf der Übernahme der Aktienmehrheit und nutzte somit die Zwangslage der Weiterverarbeiter konsequent aus. Dies galt auch für die Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg (M.A.N.), mit deren Übernahme ihm 1920/1921 ein wahrer Coup gelang. Ihren Abschluss fand jene expansive Phase 1923 mit der Gründung der GHH-Holding-Gesellschaft in Nürnberg beziehungsweise der GHH Oberhausen AG im Zuge der Besetzung des Ruhrgebiets.
Während der Ruhrbesetzung entwickelte sich Reusch zu einem vehementen Verfechter des passiven Widerstands. Dieses Verhalten kulminierte darin, dass er im September 1923 aus Protest gegen die Entscheidung Gustav Stresemanns (1878-1929), den passiven Widerstand zu beenden, aus der Deutschen Volkspartei (DVP) austrat. Die politisch-gesellschaftlichen Prägungen der Wilhelminischen Welt mit dem Bild eines wirtschaftsliberalen, national-konservativen und zugleich hierarchisch-autoritären Staatsgebildes blieben für ihn Zeit seines Lebens kennzeichnend. Mit der Ausbau der GHH zu einem weitverzweigten Konzern ging auch ein Bedeutungsgewinn seiner Person über das Unternehmen hinaus einher. Seinen Aufstieg zu einem der einflussreichsten und bestinformierten Unternehmer der Weimarer Republik verdankte er vor allem seinen Aktivitäten als Verbandspolitiker. Bis Mitte der 1920er Jahre schuf er sich über die in Personalunion von ihm geführten Verbände, den Verein zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen (Langnamverein) und die Nordwestliche Gruppe des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller (Arbeitnordwest) eine Verbandsmacht, über die zu dieser Zeit kein zweiter Ruhrindustrieller verfügte. Dabei galt er selbst unter den Schwerindustriellen als „Scharfmacher“, der nicht nur gegen die Gewerkschaften, sondern auch gegen Republik, Parteien und Parlamentarismus einen kompromisslosen Kampf führte. Besonders eindrücklich zeigte sich dies im Ruhreisenstreit, der größten und folgenreichsten Aussperrung während der Weimarer Republik, als im November 1928 weit über 200.000 Arbeiter im rheinisch-westfälichen Industriebezirk ausgesperrt wurden. Zur Verbreitung seiner politisch-weltanschaulichen Ordnungsvorstellungen baute er sich überdies durch mehrere Beteiligungen an Zeitungsverlagen eine enorme Macht zur industriefreundlichen Beeinflussung der Presse auf.
Obwohl Reusch 1932 einen Burgfrieden mit Adolf Hitler (1889-1945) geschlossen hatte, indem er ihm zusicherte, Angriffe der von ihm kontrollierten Medien auf den Nationalsozialismus fortan zu unterbinden, trennte ihn seine wirtschaftsliberale Haltung von der NS-Vorstellungswelt. Zwar ebnete Reusch den Nationalsozialisten mit seinen ständigen Attacken auf das parlamentarische System in gewisser Weise den Weg, doch an der „Machtergreifung“ 1933 war er nicht unmittelbar beteiligt. Trotzdem passte er den Konzern konsequent an die Aufrüstungswünsche des NS-Regimes an. Die wirtschaftliche Erholung zahlreicher GHH-Tochtergesellschaften in den 1930er Jahren steht deshalb in direktem Zusammenhang mit dem Einstieg in die Rüstungsproduktion. Gleichzeitig führte Reuschs Eigenwilligkeit zu mehreren Konflikten mit den NS-Machthabern, welche schließlich in seinen erzwungenen Rücktritt mündeten.
Mit seinem Abgang 1942 verabschiedete sich Reusch aus dem Ruhrgebiet und zog sich auf sein schwäbisches Landgut, den Katharinenhof, zurück. Gleichwohl blieben viele persönliche Verbindungen zwischen der Eigentümerfamilie Haniel und der Managerfamilie Reusch bestehen. Seinem ältesten Sohn Hermann Reusch (1896-1971), der 1935 in den Vorstand der GHH bestellt und von den Alliierten als „Unbelasteter“ eingestuft worden war, gelang es daher nach dem Zweiten Weltkrieg, an die Konzernspitze der GHH zurückzukehren und die Managerdynastie der Reuschs fortzusetzen. Die Gründung der Bundesrepublik erlebte Paul Reusch zwar noch mit, doch blieb er bis zum seinem Tod am 21.12.1956 in der Vorstellungswelt des Kaiserreichs verhaftet und lehnte den neuen demokratischen Parteien- und Sozialstaat daher weitgehend ab.
Mit dem Aufbau eines modernen Montan- und Maschinenbaukonzerns, der in den 1920er Jahren seine Eigenständigkeit gegenüber der imposanten Vereinigte Stahlwerke AG verteidigte, und seiner machtvollen Position im Verbandswesen gehörte Paul Reusch zweifellos zu den wirtschaftlich erfolgreichsten und politisch einflussreichsten Unternehmern der Weimarer Republik. Gleichwohl vermochte er seine politischen Ziele kaum durchzusetzen. Dabei unterschätzte er besonders den Machtwillen der Nationalsozialisten, deren umfassender Machtanspruch mit seinem eigenen „Herr-im-Hause“-Standpunkt kollidierte und zu seinem erzwungenen Rücktritt führte.
Quellen
Haniel-Archiv der Franz Haniel & Cie. GmbH, Duisburg: PD 29, Paul Reusch (1868-1956).
Historisches Archiv der MAN AG, Augsburg: A 1.2.1, Paul Reusch.
Stiftung Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv zu Köln: 130 Gutehoffnungshütte, 130-300193 Nachlass Kommerzienrat Dr. Paul Reusch, 130-4001012 Nachlass Kommerzienrat Dr. Paul Reusch, 130-234 bis 130-263 Familienakten Reusch.
Staatsarchiv Ludwigsburg: StAL EL 902/3 Bü 7702 Entnazifizierungsakte Paul Reusch.
Literatur
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Langer, Peter, Paul Reusch und die Gleichschaltung der "Münchener Neuesten Nachrichten" 1933, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 53/2 (2005), S. 203-240.
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Marx, Christian, Paul Reusch - ein politischer Unternehmer im Zeitalter der Systembrüche. Vom Kaiserreich zur Bundesrepublik, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 101/3 (2014), S. 273-299.
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Rauh-Kühne, Cornelia, Zwischen „verantwortlichem Wirkungskreis“ und „häuslichem Glanz“. Zur Innenansicht wirtschaftsbürgerlicher Familien im 20. Jahrhundert, in: Ziegler, Dieter (Hg.), Großbürger und Unternehmer. Die deutsche Wirtschaftselite im 20. Jahrhundert, Göttingen 2000, S. 215-248.
Reusch, Johannes, Die Familie Reusch, Reutlingen 1990.
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Marx, Christian, Paul Reusch, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/paul-reusch/DE-2086/lido/632d7f6707b710.94837001 (abgerufen am 09.12.2024)