Paul Tirard

Präsident der Rheinlandkommission (1879-1945)

Kerstin Theis (Köln)

Paul Tirard, Porträtfoto. (Landeshauptarchiv Koblenz)

Der fran­zö­si­sche Be­am­te Paul Ti­rard be­klei­de­te von 1920 bis 1930 das Amt des Prä­si­den­ten der In­te­r­al­li­ier­ten Rhein­land­kom­mis­si­on („Hau­te Com­mis­si­on In­te­r­al­liée des Ter­ri­toires Rhén­ans") mit Dienst­sitz in Ko­blenz. In den er­eig­nis­rei­chen Jah­ren nach dem Ers­ten Welt­krieg re­prä­sen­tier­te Ti­rard da­durch die obers­te po­li­ti­sche In­stanz der Be­sat­zungs­ver­wal­tung im Rhein­land und ge­stal­te­te die rhei­ni­sche Po­li­tik in die­ser Zeit ma­ß­geb­lich mit.

Als Sohn ei­ner po­li­tisch en­ga­gier­ten In­dus­tri­el­len­fa­mi­lie wur­de Ti­rard am 2.6.1879 in No­gent-le-Ro­trou im Dé­par­te­ment Eu­re-et-Loire (Zen­tral­frank­reich) ge­bo­ren. Sein Va­ter war ein be­kann­ter Pro­vinz­po­li­ti­ker und üb­te zu­gleich den Be­ruf ei­nes Schiff­bau­in­ge­nieurs aus. Nach dem Ju­ra-Stu­di­um in Pa­ris be­gann 1903 Ti­rards ra­sche Kar­rie­re ei­nes ho­hen Ver­wal­tungs­be­am­ten beim fran­zö­si­schen Staats­rat (Con­seil d’Etat). Er galt als ehr­gei­zig, ta­len­tiert und po­li­tisch in­ter­es­siert, ge­hör­te al­ler­dings kei­ner Par­tei an. Wei­te­re Sta­tio­nen sei­ner be­ruf­li­chen Lauf­bahn bil­de­ten Mi­nis­ter­pos­ten (Chef de Ca­bi­net) im Ko­lo­ni­al- und im Jus­tiz­mi­nis­te­ri­um.

Von 1912/1913 bis 1914 sam­mel­te Ti­rard wei­te­re wich­ti­ge Er­fah­run­gen im Ver­wal­tungs­we­sen, als er mit dem Auf­bau ei­nes fran­zö­si­schen Pro­tek­to­rats in Ma­rok­ko be­traut war. Auch wäh­rend sei­nes Ein­sat­zes als Of­fi­zier im Ers­ten Welt­krieg üb­te Ti­rard Ver­wal­tungs­tä­tig­kei­ten aus. Als „Chef de Ser­vice" lei­te­te er die Zi­vil­ver­wal­tung von 1914 be­setz­ten Ge­bie­ten im Oberel­sass, in den Land­krei­sen Thann, Dan­ne­ma­rie und im Fecht­tal, die dem fran­zö­si­schen Mi­li­tär un­ter­stan­den.

Am 12.11.1918, ei­nen Tag nach Un­ter­zeich­nung des Waf­fen­still­stands­ab­kom­mens, er­hielt Ti­rard im Stab des al­li­ier­ten Ober­be­fehls­ha­bers Mar­schall Fer­di­nand Foch (1851-1929) als Lei­ter der al­li­ier­ten Be­sat­zungs­ver­wal­tung im Rhein­land ei­ne po­li­tisch-ad­mi­nis­tra­ti­ve Spit­zen­po­si­ti­on. Von Lu­xem­burg aus kon­trol­lier­te er die deut­schen Be­hör­den im links­rhei­ni­schen Ge­biet, er­rich­te­te ei­nen Ver­wal­tungs­ap­pa­rat zur Auf­sicht der mi­li­tä­ri­schen Be­set­zung des Rhein­lands und ver­folg­te da­bei ins­ge­samt die Zie­le der fran­zö­si­schen Rhein­land­po­li­tik.

Paul Tirard, Porträtfoto. (Gemeinfrrei/Library of Congress, Prints & Photographs Division, LC-B2- 5081-10)

 

Nach In­kraft­tre­ten des Rhein­land­ab­kom­mens und Grün­dung der Rhein­land­kom­mis­si­on („Hau­te Com­mis­si­on In­te­r­al­liée des Ter­ri­toires Rhén­ans") 1920 nahm Ti­rard die­se Auf­ga­ben von Ko­blenz aus als Prä­si­dent der Kom­mis­si­on und Ober­kom­mis­sar wahr. Da­mit stand erst­mals kein Mi­li­tär­ver­tre­ter, son­dern ein ho­her Ver­wal­tungs­be­am­ter an der Spit­ze der Be­sat­zungs­ver­wal­tung. Dank sei­ner di­plo­ma­ti­schen und ver­wal­tungs­po­li­ti­schen Ge­wandt­heit meis­ter­te Ti­rard die­se Dop­pel­rol­le: Ei­ner­seits ver­trat er als fran­zö­si­scher Ho­her Kom­mis­sar (auch Ober­kom­mis­sar ge­nannt, „Haut Com­mis­sai­re de la Ré­pu­bli­que françai­se") die In­ter­es­sen Frank­reichs am Rhein, an­de­rer­seits war er in der La­ge, er­folg­reich mit sei­nen al­li­ier­ten Kom­mis­sars­kol­le­gen und Mit­ar­bei­tern die Be­sat­zungs­an­ge­le­gen­hei­ten im Rhein­land nach dem Ers­ten Welt­krieg zu re­geln und ju­ris­tisch ab­zu­si­chern. Ti­rards Zie­le wa­ren auf ei­ne er­folg­rei­che Zu­sam­men­ar­beit der Be­hör­den, die Ent­wick­lung ei­ner po­li­ti­schen Zu­kunft für das Rhein­land und auf die po­si­ti­ve Be­ein­flus­sung der rhei­ni­schen Be­völ­ke­rung für Frank­reichs Zie­le ge­rich­tet. Ins­ge­samt schätz­te er die Hal­tung der Rhein­län­der je­doch falsch ein. So war er der fes­ten Über­zeu­gung, dass wei­te Tei­le der hie­si­gen Be­völ­ke­rung die Grün­dung ei­ner ei­gen­stän­di­gen rhei­ni­schen Re­pu­blik be­für­wor­ten und ge­gen Preu­ßen mit Frank­reich sym­pa­thi­sie­ren wür­den. Ti­rard selbst schweb­te ein Pro­tek­to­rat Frank­reichs im Rhein­land vor, das sich der di­rek­ten Ver­wal­tung ent­hal­ten sol­le. Ma­ß­geb­lich trieb er des­halb Frank­reichs Tak­tik der fried­li­chen Durch­drin­gung („pé­né­tra­ti­on pa­ci­fi­que") und dis­kre­ten Be­ein­flus­sung der Be­völ­ke­rung des Rhein­lands vor­an.

So för­der­te Ti­rard ne­ben pro­f­ran­zö­si­scher Kul­tur­pro­pa­gan­da auch se­pa­ra­tis­ti­sche Be­stre­bun­gen im Rhein­land, wie et­wa von Hans Adam Dor­ten in Wies­ba­den, die je­doch er­folg­los blie­ben. In Frank­reich sah er sich Vor­wür­fen aus­ge­setzt, er un­ter­stüt­ze die Se­pa­ra­tis­ten nicht aus­rei­chend. Mas­si­ve Kri­tik er­fuhr er ins­be­son­de­re sei­tens der fran­zö­si­schen Rhein­land-Lob­by und des Mi­nis­ter­prä­si­den­ten Ray­mond Poin­ca­ré. Das Ver­hält­nis zu letz­te­rem war deut­lich ge­spannt. Da­bei er­kann­te Ti­rard im Ge­gen­satz zu Poin­ca­ré die Aus­sichts­lo­sig­keit der Se­pa­ra­tis­ten, kam aber nicht um­hin, sie zu pro­te­gie­ren, da dies von Frank­reich po­li­tisch ge­wünscht war. Vom Er­folg der Be­set­zun­gen von Düs­sel­dorf un­d Duis­burg im Jahr 1921 über­zeugt, be­ab­sich­tig­te Ti­rard viel­mehr ei­ne Zu­sam­men­ar­beit Frank­reichs mit rhei­ni­schen Po­li­ti­kern und In­dus­tri­el­len. Die Se­pa­ra­tis­ten­un­ru­hen in Aa­chen 1923 über­rasch­ten ihn und ihr Ver­lauf ent­täusch­te ihn zu­gleich. Sein Mo­dell ei­ner ge­mä­ßig­ten rhei­ni­schen Re­pu­blik mit Zu­stim­mung Eng­lands schei­ter­te eben­falls. In Zei­ten hit­zi­ger Dis­kus­sio­nen um die po­li­ti­sche Zu­kunft des Rhein­lands be­wies Ti­rard, dass er die Kri­sen­si­tua­tio­nen – trotz sei­ner fran­zö­si­schen Per­spek­ti­ve – rea­lis­tisch ein­zu­schät­zen wuss­te und um ei­ne aus­glei­chen­de, ra­tio­nal ge­führ­te Ver­wal­tungs­po­li­tik be­müht war.

Am 28.6.1930 tag­ten Ti­rard und die Rhein­land­kom­mis­si­on zum letz­ten Mal. Noch im glei­chen Jahr ver­öf­fent­lich­te er sei­ne Er­fah­run­gen in ei­nem Buch mit dem Ti­tel „La Fran­ce sur le Rhin" und ging in den Ru­he­stand. In­for­ma­tio­nen über Ti­rards wei­te­res Le­ben sind rar. Er leb­te bis zu sei­nem Tod 1945 zu­rück­ge­zo­gen in Frank­reich. Ei­ne um­fang­rei­che Stu­die zu sei­ner Bio­gra­phie steht aus. Ak­ten zu Ti­rards Ver­wal­tungs­tä­tig­keit be­fin­den sich un­ter an­de­rem in den Ar­chi­ves Na­tio­na­les in Pa­ris und im Lan­des­haupt­ar­chiv Ko­blenz.

Quellen

Ti­rard, Paul, La Fran­ce sur le Rhin, Pa­ris 1930.

Literatur

Jar­din, Pier­re, La po­li­tique rhé­na­ne de Paul Ti­rard (1920-1923), in: Re­vue d’Al­le­ma­gne 21 (1989), S. 208-216.
Köh­ler, Hen­ning, Paul Ti­rard (1879–1945), in: Rhei­ni­sche Le­bens­bil­der 12 (1991), S. 257-273.

Online

Ak­ten der In­te­r­al­li­ier­ten Rhein­land­kom­mis­si­on (Er­schlie­ßungs­pro­jekt des DHI Pa­ris in Zu­sam­men­ar­beit mit den Ar­chi­ves na­tio­na­les). [On­line]

Paul Tirard (Mitte), Feier am General-Hoche-Denkmal am 15. Juli 1928, Weißenthurm. (Landeshauptarchiv Koblenz)

 
Zitationshinweis

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Theis, Kerstin, Paul Tirard, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/paul-tirard/DE-2086/lido/57c93fddacbaa5.48066651 (abgerufen am 01.12.2024)