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Der französische Beamte Paul Tirard bekleidete von 1920 bis 1930 das Amt des Präsidenten der Interalliierten Rheinlandkommission („Haute Commission Interalliée des Territoires Rhénans") mit Dienstsitz in Koblenz. In den ereignisreichen Jahren nach dem Ersten Weltkrieg repräsentierte Tirard dadurch die oberste politische Instanz der Besatzungsverwaltung im Rheinland und gestaltete die rheinische Politik in dieser Zeit maßgeblich mit.
Als Sohn einer politisch engagierten Industriellenfamilie wurde Tirard am 2.6.1879 in Nogent-le-Rotrou im Département Eure-et-Loire (Zentralfrankreich) geboren. Sein Vater war ein bekannter Provinzpolitiker und übte zugleich den Beruf eines Schiffbauingenieurs aus. Nach dem Jura-Studium in Paris begann 1903 Tirards rasche Karriere eines hohen Verwaltungsbeamten beim französischen Staatsrat (Conseil d’Etat). Er galt als ehrgeizig, talentiert und politisch interessiert, gehörte allerdings keiner Partei an. Weitere Stationen seiner beruflichen Laufbahn bildeten Ministerposten (Chef de Cabinet) im Kolonial- und im Justizministerium.
Von 1912/1913 bis 1914 sammelte Tirard weitere wichtige Erfahrungen im Verwaltungswesen, als er mit dem Aufbau eines französischen Protektorats in Marokko betraut war. Auch während seines Einsatzes als Offizier im Ersten Weltkrieg übte Tirard Verwaltungstätigkeiten aus. Als „Chef de Service" leitete er die Zivilverwaltung von 1914 besetzten Gebieten im Oberelsass, in den Landkreisen Thann, Dannemarie und im Fechttal, die dem französischen Militär unterstanden.
Am 12.11.1918, einen Tag nach Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens, erhielt Tirard im Stab des alliierten Oberbefehlshabers Marschall Ferdinand Foch (1851-1929) als Leiter der alliierten Besatzungsverwaltung im Rheinland eine politisch-administrative Spitzenposition. Von Luxemburg aus kontrollierte er die deutschen Behörden im linksrheinischen Gebiet, errichtete einen Verwaltungsapparat zur Aufsicht der militärischen Besetzung des Rheinlands und verfolgte dabei insgesamt die Ziele der französischen Rheinlandpolitik.
Nach Inkrafttreten des Rheinlandabkommens und Gründung der Rheinlandkommission („Haute Commission Interalliée des Territoires Rhénans") 1920 nahm Tirard diese Aufgaben von Koblenz aus als Präsident der Kommission und Oberkommissar wahr. Damit stand erstmals kein Militärvertreter, sondern ein hoher Verwaltungsbeamter an der Spitze der Besatzungsverwaltung. Dank seiner diplomatischen und verwaltungspolitischen Gewandtheit meisterte Tirard diese Doppelrolle: Einerseits vertrat er als französischer Hoher Kommissar (auch Oberkommissar genannt, „Haut Commissaire de la République française") die Interessen Frankreichs am Rhein, andererseits war er in der Lage, erfolgreich mit seinen alliierten Kommissarskollegen und Mitarbeitern die Besatzungsangelegenheiten im Rheinland nach dem Ersten Weltkrieg zu regeln und juristisch abzusichern. Tirards Ziele waren auf eine erfolgreiche Zusammenarbeit der Behörden, die Entwicklung einer politischen Zukunft für das Rheinland und auf die positive Beeinflussung der rheinischen Bevölkerung für Frankreichs Ziele gerichtet. Insgesamt schätzte er die Haltung der Rheinländer jedoch falsch ein. So war er der festen Überzeugung, dass weite Teile der hiesigen Bevölkerung die Gründung einer eigenständigen rheinischen Republik befürworten und gegen Preußen mit Frankreich sympathisieren würden. Tirard selbst schwebte ein Protektorat Frankreichs im Rheinland vor, das sich der direkten Verwaltung enthalten solle. Maßgeblich trieb er deshalb Frankreichs Taktik der friedlichen Durchdringung („pénétration pacifique") und diskreten Beeinflussung der Bevölkerung des Rheinlands voran.
So förderte Tirard neben profranzösischer Kulturpropaganda auch separatistische Bestrebungen im Rheinland, wie etwa von Hans Adam Dorten in Wiesbaden, die jedoch erfolglos blieben. In Frankreich sah er sich Vorwürfen ausgesetzt, er unterstütze die Separatisten nicht ausreichend. Massive Kritik erfuhr er insbesondere seitens der französischen Rheinland-Lobby und des Ministerpräsidenten Raymond Poincaré. Das Verhältnis zu letzterem war deutlich gespannt. Dabei erkannte Tirard im Gegensatz zu Poincaré die Aussichtslosigkeit der Separatisten, kam aber nicht umhin, sie zu protegieren, da dies von Frankreich politisch gewünscht war. Vom Erfolg der Besetzungen von Düsseldorf und Duisburg im Jahr 1921 überzeugt, beabsichtigte Tirard vielmehr eine Zusammenarbeit Frankreichs mit rheinischen Politikern und Industriellen. Die Separatistenunruhen in Aachen 1923 überraschten ihn und ihr Verlauf enttäuschte ihn zugleich. Sein Modell einer gemäßigten rheinischen Republik mit Zustimmung Englands scheiterte ebenfalls. In Zeiten hitziger Diskussionen um die politische Zukunft des Rheinlands bewies Tirard, dass er die Krisensituationen – trotz seiner französischen Perspektive – realistisch einzuschätzen wusste und um eine ausgleichende, rational geführte Verwaltungspolitik bemüht war.
Am 28.6.1930 tagten Tirard und die Rheinlandkommission zum letzten Mal. Noch im gleichen Jahr veröffentlichte er seine Erfahrungen in einem Buch mit dem Titel „La France sur le Rhin" und ging in den Ruhestand. Informationen über Tirards weiteres Leben sind rar. Er lebte bis zu seinem Tod 1945 zurückgezogen in Frankreich. Eine umfangreiche Studie zu seiner Biographie steht aus. Akten zu Tirards Verwaltungstätigkeit befinden sich unter anderem in den Archives Nationales in Paris und im Landeshauptarchiv Koblenz.
Quellen
Tirard, Paul, La France sur le Rhin, Paris 1930.
Literatur
Jardin, Pierre, La politique rhénane de Paul Tirard (1920-1923), in: Revue d’Allemagne 21 (1989), S. 208-216.
Köhler, Henning, Paul Tirard (1879–1945), in: Rheinische Lebensbilder 12 (1991), S. 257-273.
Online
Akten der Interalliierten Rheinlandkommission (Erschließungsprojekt des DHI Paris in Zusammenarbeit mit den Archives nationales). [Online]
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Theis, Kerstin, Paul Tirard, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/paul-tirard/DE-2086/lido/57c93fddacbaa5.48066651 (abgerufen am 01.12.2024)