Zu den Kapiteln
Der Remscheider Unternehmer Reinhard Mannesmann sen. hat die Feilenproduktion entscheidend verbessert und schließlich industrialisiert; durch seine Unternehmertätigkeit und sein Wirken für die Stadt und das Land hat er sich hohes Ansehen erworben; im Umgang mit seinen Mitarbeitern und bei der Ausbildung seiner Söhne hat er außerordentlichen Weitblick und Verantwortung bewiesen.
Reinhard Mannesmann sen., der Vater der berühmten Erfinder Reinhard jun. und Max Mannesmann, wurde am 17.11.1814 als zweiter Sohn von insgesamt sechs Kindern des Ehepaares Johann Arnold Mannesmann sen. (1773-1827) und Dorothea Mannesmann (1786-1828) in Remscheid geboren. Sein Großvater, der Schmied Heinrich (Henrich) Mannesmann (1750-1815), war Anfang der 1770er Jahre aus Sulenbecke bei Meinerzhagen in der brandenburg-preußischen Grafschaft Mark nach Remscheid gekommen, hatte in der Gemarkung Bliedinghausen Arbeit und Unterkunft bei einem Feilenschmied gefunden und 1772 durch die Heirat mit der Tochter seines Brotherrn Heimatrecht und ersten Besitz sowie Beziehungen zu den politisch und gesellschaftlich führenden Familien der bedeutenden Gewerberegion erworben. 1776 hatte er sich als Verleger von Feilen und Qualitätswerkzeugen, der das Härten und Heften selbst übernahm, selbständig gemacht.
Dessen Sohn Arnold, der Vater von Reinhard, hatte das Unternehmen in der ersten Hälfte der 1790er Jahre durch die Errichtung einer Feilenfabrik erweitert, ohne den Verkauf der Werkzeuge, unter anderem in West-, Südwest- und Osteuropa, zu vernachlässigen. Er war dabei so erfolgreich, dass er zu Beginn der 1820er Jahre ein stattliches Herrenhaus in der Nähe erwerben konnte (1975 in das LVR-Freilichtmuseum Kommern transloziert). Als er mit erst 54 Jahren infolge eines Herzschlags verstarb, führte seine Frau das Unternehmen weiter und sorgte für eine gute Ausbildung ihrer noch unmündigen Kinder. Ihre vier Söhne absolvierten, den damaligen Vorstellungen bergischer Unternehmerfamilien entsprechend, eine kaufmännische Lehre; außerdem erlernten sie die Herstellung von Feilen.
Reinhard Mannesmann kam nach der mittleren Reife 1831 zu dem Luxemburger Bankhaus Pescatore der befreundeten Familie Röser, zu dem auch eine Kolonialwarenhandlung und eine Tabakfabrik gehörte, in die Lehre; gleichzeitig genügte er 1834/1835 in der damaligen Bundesfestung seiner militärischen Dienstpflicht als Einjähriger. Danach trat er als Teilhaber in das Familienunternehmen ein, dessen Leitung inzwischen der älteste Bruder Arnold übernommen hatte und an dem er seitdem mit 25 Prozent beteiligt war. Während seine Brüder für den Vertrieb verantwortlich waren und dafür oft lange Reisen durch weite Teile Europas unternahmen, war Reinhard Mannesmann für die Herstellung der Feilen zuständig. Dabei beschritt er neue Wege und entwickelte als Erster in Deutschland die noch handwerklich ausgerichtete Fertigung zum industriellen Betrieb. Zunächst vereinigte er alle bis dahin dezentral organisierten Fertigungsabschnitte der Produktion in einem zentralen Gebäude unter seiner fachkundigen Aufsicht. Dadurch steigerte er nicht allein die Stückzahlen, sondern verbesserte auch die Qualität und die Termintreue; hinzu kamen neue Verfahren beim Glühen und Härten sowie schließlich auch die Erzeugung eines eigenen Qualitätsstahls nach dem damals in Deutschland erst in Essen und Bochum beherrschten Tiegelstahlverfahrens („Diamantstahl“).
Auf der ersten Weltausstellung 1851 in London wurden seine Feilen als einzige des Kontinents durch die Verleihung einer Preismedaille ausgezeichnet. Dieser Erfolg ließ ihn jedoch nicht übersehen, dass die maschinell gefertigten englischen Feilen wegen ihrer günstigen Verkaufspreise das Interesse bemerkenswert vieler Besucher fanden. Kurzentschlossen fuhr er nach Sheffield, um die neue Fertigungsmethode kennenzulernen. Er erwarb einige Feilenhaumaschinen und engagierte außerdem einen Meister, der seine Mitarbeiter in Remscheid in deren Bedienung unterrichtete. Fortan wurden neben den von Hand behauenen auch maschinell gefertigte Feilen hergestellt und angeboten.
Auch auf den weiteren Weltausstellungen sind die traditionell mit der Windmühle als Marke präsentierten Präzisionswerkzeuge von Mannesmann prämiert worden. Anlässlich der Ausstellung von 1867 in Paris ist von der Jury, die den Erzeugnissen die Goldene Ausstellungsmedaille zuerkannt hatte, der Antrag gestellt worden, der Kaiser, Napoleon III. (Staatspräsident 1848-1852, Kaiser 1852-1870), möge Reinhard Mannesmann zusätzlich das Kreuz der Ehrenlegion verleihen. Nachdem dieser es abgelehnt hatte, einen Preußen derart zu ehren, zeichnete ihn der preußische König mit dem Kronenorden 4. Klasse aus. Der Marineminister verfügte, dass in allen Häfen, die von deutschen Schiffen regelmäßig angelaufen wurden, die dort ansässigen Geschäfte und Arsenale Feilen von Mannesmann vorrätig halten sollten. Mit der Inbetriebnahme von Dampfmaschinen, den ersten in der deutschen Feilenherstellung, schloss Reinhard Mannesmann die Entwicklung seiner Feilenfabrik zum industriellen Betrieb ab.
Reinhard Mannesmann war als Unternehmer außerordentlich erfolgreich und angesehen. Das förderte auch seine gesellschaftliche Anerkennung und seinen politischen Einfluss. Während der Revolutionswirren von 1848 wählten ihn seine Mitbürger zum Hauptmann der bewaffneten und unter der schwarz-rot-goldenen Fahne agierenden Bürgerwehr. Reinhard Mannesmann war „freisinnig“, jedoch ein Befürworter der Monarchie; später war er überzeugter Bismarckanhänger. 1873, als in Remscheid und Umgebung mehr als 6.000 Feilenhauer für längere Zeit streikten, wurde er von diesen – mit Zustimmung seiner Unternehmerkollegen – zum Vermittler gewählt. Es gelang ihm tatsächlich, den Arbeitskampf innerhalb weniger Tage mit einem für beide Seiten tragbaren Ergebnis zu beenden. Der von ihm gefällte Schiedsspruch blieb bis 1914 Grundlage der Akkordlöhne. 1878/1879 wurde Mannesmann von Reichskanzler Otto von Bismarck (1815-1898) in den Enquête-Ausschuss berufen, der über die Einführung eines Schutzzolls beraten sollte. Der von Reinhard Mannesmann erarbeitete Vorschlag ist von den Reichstagsabgeordneten fast wörtlich in das dann verabschiedete Gesetz übernommen worden.
Reinhard Mannesmann war rund drei Jahrzehnte Mitglied des Remscheider Stadtrats. Er zählte zu den Befürwortern des Baus einer Talsperre im Eschbachtal, die in der ersten Hälfte der 1880er Jahre zur Behebung des Wassermangels in den Haushalten und Gewerbebetrieben errichtet wurde. Mit Nachdruck und letztlich mit Erfolg warb er für die Wiederaufforstung der zahlreichen kahl geschlagenen Flächen des Stadtwaldes; auch die Fischzucht in Teichen geht auf seinen Vorschlag zurück. Dadurch stärkte er nicht allein den primären Wirtschaftssektor, sondern verbesserte auch die Ernährungsgrundlage und steigerte den Erholungswert der Region. Er war Mitgründer und langjähriger Vorsteher der 1868 gegründeten Remscheider Volksbank. Für seine Mitarbeiter in der Feilenfabrik fühlte er sich im recht verstandenen paternalistischen Sinne verantwortlich. Er zahlte gute Löhne und half ihnen und ihren Familien in den Wechselfällen des Lebens. Als erster Fabrikant in Remscheid gründete er eine Kranken- und Sterbekasse. Beim Bau von Eigenheimen unterstützte er seine Arbeiter durch die Überlassung von Baumaterial aus der Fabrikziegelei. Außerdem unterwies er sie in der Pflege und Veredlung von Obstbäumen sowie im Gemüseanbau. 1892 veröffentlichte er seine „Gedanken zur Erziehung eines gesunden Menschengeschlechts“.
Reinhard Mannesmann lebte einfach; er heiratete erst mit fast 40 Jahren. Zur Frau wählte er Klara Rocholl (1834-1910), die Tochter eines protestantischen Pfarrers aus Groß-Ottersleben bei Magdeburg, der vorher in Remscheid tätig gewesen war. Das Paar hatte elf Kinder, fünf Töchter und sechs Söhne. In dem kleinen Haus in der Nähe des Werkes gab es Petroleumlicht sowie Wasser zum Trinken aus dem Ziehbrunnen im Hof, zum Waschen aus der Regentonne. Eine Art von Luxus leistete sich die Familie für das samstägliche Bad: warmes Wasser. Dazu wurden aus der Fabrik heiße Stahlblöcke gebracht, in die Wanne gelegt und mit einem Rost aus dicken Holzlatten bedeckt. 1870, inzwischen war das Domizil für die auf elf Personen angewachsene Familie zu klein geworden, bezog man einen größeren Neubau. Obwohl es auch jetzt noch keine zentrale Wasser-, Gas- und insbesondere Stromversorgung gab, ließ Reinhard Mannesmann bereits beim Bau des Hauses alle erforderlichen Anschlüsse verlegen. Sogar ein Badezimmer wurde eingebaut; das Wasser lieferte vorerst ein im obersten Stockwerk installierter Vorratsbehälter, der von Hand aufgefüllt werden musste.
Trotz seiner Tüchtigkeit und Strebsamkeit ist Reinhard Mannesmann bei der Umsetzung einiger seiner Pläne an Grenzen gestoßen, weil sein Wissen und sein Können nicht ausreichten. Daher beschritt er auch bei der Ausbildung seiner Söhne neue Wege. In der Erkenntnis, dass die durch eine kaufmännische und handwerkliche Lehre vermittelten Fertigkeiten zur Bewältigung der zur Lösung anstehenden Probleme allein nicht mehr ausreichten, ließ er seine Söhne das Gymnasium bis zur Hochschulreife besuchen und anschließend zu Ingenieuren und Naturwissenschaftlern ausbilden. Als dann seinen Söhnen Reinhard und Max die revolutionäre Erfindung, nahtlose Stahlrohre aus dem massiven Stahlblock allein durch Walzen herzustellen, gelungen war, schied er aus der Feilenfabrik aus und errichtete 1887 mit seinen Söhnen in direkter Nachbarschaft eine Röhrenfabrik. In der 1890 gegründeten Deutsch-Österreichischen Mannesmannröhren-Werke AG war er bis zu seinem Tod stellvertretender Vorsitzender des Aufsichtsrats.
Reinhard Mannesmann starb am 27.4.1894 in Remscheid. Seine Grabstele, ein Obelisk von etwa 2,5 Meter Höhe, befindet sich zur Zeit im Mannesmann-Park in Remscheid-Bledinghausen und soll vor die Erfinderhalle transloziert werden.
Bezeichnend für Person und Wirken Reinhard Mannesmanns dürfte eine Episode zu sein, die sich 1891 ereignet hat. Der inzwischen 76-Jährige hielt sich in Kairo auf und begegnete im Mena Hotel Herbert von Bismarck (1849-1904), dem Sohn des wenige Monate zuvor zurückgetretenen Reichskanzlers. Darüber schrieb er an die Familie: „Als ich ihn im Vorbeigehen grüßte, fixierte er mich, kam einen Schritt auf mich zu; ich machte es ebenso und sagte, ich hätte seinen durchlauchtigsten Herrn Vater wiederholt in Kissingen gesehen und freute mich, ihn hier begrüßen zu können. Als ich meinen Namen nannte, erwiderte er sofort: „Ach von Remscheid! Ich habe viel von Ihnen gehört und freue mich, Sie persönlich kennen zu lernen. Sie haben Großes geleistet!“ Ich erwiderte: „Man thut sein Bestes!“[1].
Werke
Gedanken zur Erziehung eines gesunden Menschengeschlechts, 1892.
Quellen
Salzgitter AG-Konzernarchiv/Mannesmann-Archiv; Bestände M 20 und M 40.
Literatur
Brandt-Mannesmann, Ruthilt, Dokumente aus dem Leben der Erfinder, Remscheid 1965.
Wessel, Horst A., Die Familie Mannesmann, die Feilenfabrik und die Erfindung des Schrägwalz-Verfahrens (1772-1887), in: Wessel, Horst A., (Hg.), Die Geburtsstätte des nahtlos gewalzten Stahlrohres. Das Mannesmannröhren-Werk in Remscheid, die Erfinder und die Mechanische Werkstatt, Essen 2012, S. 13-52.
Wessel, Horst A., Kontinuität im Wandel. 100 Jahre Mannesmann. 1890-1990, Düsseldorf 1990, S. 14-22.
Wessel, Horst A., Die Techniker der Familie Mannesmann, in: Weber, Wolfhard (Hg.), Ingenieure im Ruhrgebiet, Münster 1999, S. 123-148.
Online
Hatzfeld, Lutz, „Mannesmann, Reinhard“, in: Neue Deutsche Biographie 16 (1990), S. 60-62. [Online]
Bitte geben Sie beim Zitieren dieses Beitrags die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Wessel, Horst A., Reinhard Mannesmann, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/reinhard-mannesmann/DE-2086/lido/57c947486a9986.30939519 (abgerufen am 06.10.2024)