Rudolf Carnap

Philosoph (1891-1970)

Susan Gottlöber (Maynooth)

Rudolf Carnap, Porträtfoto, Anfang der 1930er Jahre.

Ru­dolf Car­nap war ana­ly­ti­scher Phi­lo­soph und gilt als ei­ner der wich­tigs­ten Ver­tre­ter des lo­gi­schen Em­pi­ris­mus und ein­fluss­rei­cher Vor­den­ker des Wie­ner Krei­ses.

Paul Ru­dolf Car­nap wur­de am 18.5.1891 in Rons­dorf (heu­te Stadt Wup­per­tal) in ei­ne tie­fre­li­giö­se Fa­mi­lie hin­ein­ge­bo­ren. Der Va­ter, Jo­han­nes S. Car­nap, ent­stamm­te ei­ner ar­men We­ber­fa­mi­lie, die Mut­ter, An­na Car­nap, war Toch­ter des Leh­rers und päd­ago­gi­schen Au­tor­s Fried­rich Wil­helm Dör­pfeld. Es war da­s ­Be­stre­ben sei­ner Mut­ter, Le­ben und Werk ih­res Va­ters zu Pa­pier zu brin­gen, das in Car­nap nach ei­ge­nen An­ga­ben sei­ne Lie­be zum Schrei­ben weck­te.

1898, nach dem Tod des Va­ters, zog die Fa­mi­lie nach Bar­men (heu­te Stadt Wup­per­tal), wo Car­nap ein Gym­na­si­um mit dem Schwer­punkt klas­si­sche Spra­chen be­such­te. Ob­wohl er schon in jun­gen Jah­ren sei­ne re­li­giö­sen Über­zeu­gun­gen auf­gab, blieb er doch den hu­ma­nis­ti­schen Grundi­dea­len von Wahr­heit, To­le­ranz und So­li­da­ri­tät zeit­le­bens ver­pflich­tet, die auch sei­ne spä­te­re ve­he­men­te Ab­leh­nung so­wohl des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus wie auch je­des an­de­ren to­ta­li­tä­ren Sys­tems be­grün­de­ten. Sei­ne Fas­zi­na­ti­on für die in­ne­re Lo­gik von Sprach­sys­te­men zeig­te sich schon früh: So lern­te er mit 14 Jah­ren Es­pe­ran­to, von des­sen Kom­bi­na­ti­on von in­ne­rer Ord­nung mit gleich­zei­ti­gem Er­fin­dungs­reich­tum er sich be­ein­druckt zeig­te und er zu­dem in die­ser in­ter­na­tio­na­len Spra­che (er nahm im Lau­fe sei­nes Le­bens an ei­ni­gen Kon­gres­sen teil) das hu­ma­nis­ti­sche Ide­al ei­ner ver­bes­ser­ten Ver­stän­di­gung zwi­schen den Völ­kern ver­wirk­licht sah.

1909 über­sie­del­te die Fa­mi­lie nach Je­na, wo Car­nap auch sein Stu­di­um be­gann. Er stu­dier­te von 1910 bis 1914 zu­nächst in Je­na und spä­ter in Frei­burg Ma­the­ma­tik, Phi­lo­so­phie und Phy­sik. In die­ser Zeit wur­de er zu­dem in der Wan­der­vo­gel­be­we­gung ak­tiv und schloss sich dem Se­ra-Kreis, ei­nem eli­tär-stu­den­ti­schen Kul­tur­kreis um den Ver­le­ger Eu­gen Di­ede­richs (1867-1930) an.

Nach sei­nen ei­ge­nen Aus­sa­gen fas­zi­nier­ten ihn schon da­mals in der Phi­lo­so­phie be­son­ders die Zwei­ge Phi­lo­so­phie der Wis­sen­schaft und Er­kennt­nis­theo­rie, wäh­rend ihm als Schü­ler Gott­lob Fre­ges (1848-1925), den er 1913 hör­te, die Aus­füh­run­gen in Lo­gik völ­lig ver­al­tet schie­nen. Im sel­ben Jahr folg­ten auch im Rah­men ei­nes Dis­ser­ta­ti­ons­vor­ha­bens in Phy­sik ex­pe­ri­men­tel­le For­schun­gen. Aber schon zu Kriegs­be­ginn gab er das Pro­jekt auf und dien­te bis 1917 an der Front. Im Som­mer des­sel­ben Jah­res nach Ber­lin ver­legt, be­fass­te er sich bis zum Kriegs­en­de mit der Ent­wick­lung ei­nes draht­lo­sen Te­le­gra­phen für die For­schungs­ab­tei­lung des Hee­res

Nach dem Krieg er­folg­te die Rück­kehr nach Je­na und zu sei­nen Stu­di­en, die er 1921 mit ei­ner Pro­mo­ti­on beim Neu­kan­tia­ner Bru­no Bauch (1877-1942) zum The­ma „Der Raum. Ein Bei­trag zur Wis­sen­schafts­leh­re" ab­schloss. Aus­schlag­ge­bend wa­ren un­ter an­de­rem die Aus­füh­run­gen Bauchs über „Die Kri­tik der rei­nen Ver­nunft", die Car­nap mit der Auf­fas­sung Im­ma­nu­el Kants (1724-1804) in Be­rüh­rung brach­te, wo­nach die geo­me­tri­sche Struk­tur des Rau­mes we­sent­lich durch die Form un­se­rer Auf­fas­sung be­stimmt sei.

Nach der Pro­mo­ti­on zog es Car­nap nach Bu­chen­bach in der Nä­he von Frei­burg, wo er in den Fol­ge­jah­ren auch Vor­le­sun­gen bei Ed­mund Hus­serl (1859-1938) be­such­te, des­sen Phä­no­me­no­lo­gie ihn ne­ben dem Neu­kan­tia­nis­mus nach­hal­tig präg­te. Schlie­ß­lich war es schon Hus­serls An­lie­gen ge­we­sen, Phi­lo­so­phie und Wis­sen­schaft wie­der zu­sam­men­zu­füh­ren, in­dem er ver­such­te, die Phä­no­me­no­lo­gie als pri­ma phi­lo­so­phia und ers­te Wis­sen­schaft zu eta­blie­ren. Auf Ver­mitt­lung des Phi­lo­so­phen und Phy­si­kers Hans Rei­chen­bach (1891-1953), den er 1923 erst­mals traf und mit dem ihm bis zu des­sen Tod ei­ne le­bens­lan­ge Freund­schaft ver­bin­den soll­te, lern­te Car­nap Mo­ritz Schlick (1882-1936), den Be­grün­der des Wie­ner Krei­ses, ken­nen, der ihn ein­lud, als Do­zent für Phi­lo­so­phie an die Uni­ver­si­tät Wien zu kom­men. Wien er­wies sich für Car­nap als äu­ßerst frucht­ba­re Zeit, was we­sent­lich mit dem Wie­ner Kreis zu­sam­men­hing, ei­ner Grup­pe von Phi­lo­so­phen, Na­tur- und So­zi­al­wis­sen­schaft­lern, Lo­gi­kern und Ma­the­ma­ti­kern, die sich ein­mal wö­chent­lich un­ter der Lei­tung von Schlick zu­sam­men­fan­den, um Pro­ble­me aus Phi­lo­so­phie und Wis­sen­schaft, un­ter an­de­rem den Trac­ta­tus von Lud­wig Witt­gen­stein (1889-1951) zu dis­ku­tie­ren und zu des­sen lin­ken Flü­gel Car­nap in den fol­gen­den Jah­ren zu­sam­men mit Hans Hahn (1879-1934), Phil­ipp Frank (1884-1966) und Ot­to Neu­rath (1882-1945) zähl­te. Die en­ge Zu­sam­men­ar­beit von Lo­gi­kern, Na­tur­wis­sen­schaft­lern und Ma­the­ma­ti­kern hat­te zur Fol­ge, dass die wis­sen­schaft­li­che Stren­ge auch Ein­gang in die phi­lo­so­phi­sche Ar­gu­men­ta­ti­on fand. Die­se wis­sen­schaft­li­che Grund­über­zeu­gung soll­te aber nicht auf die Theo­rie be­schränkt blei­ben. Viel­mehr eta­blier­te sich die Idee, die ent­wi­ckel­ten Ide­en der­ge­stalt an die Le­bens­wirk­lich­keit rück­zu­bin­den, dass auch die Ba­sis für ein ge­sell­schafts­po­li­ti­sches Pro­gramm ge­ge­ben war.

Car­nap muss­te ein sol­cher An­satz in vie­ler­lei Hin­sicht ent­ge­gen­kom­men: Sein Phi­lo­so­phiei­de­al war oh­ne­hin ge­prägt vom wis­sen­schaft­li­chen Den­ken. Ge­lin­gen soll­te die Um­set­zung die­ses Ide­als im Rah­men von lo­gi­schem Em­pi­ris­mus und Kon­struk­ti­vis­mus. In sei­ner Ha­bi­li­ta­ti­ons­schrift „Der lo­gi­sche Auf­bau der Welt" aus dem Jahr 1928 ver­such­te Car­nap in An­schluss an Fre­ge und Bertrand Rus­sel (1872-1970) erst­mals, den Lo­gi­schen Po­si­ti­vis­mus auch als Pro­gramm um­zu­set­zen, in­dem er mein­te zei­gen zu kön­nen, dass sich al­le wis­sen­schaft­li­chen Be­grif­fe und Aus­sa­gen auf die Grund­re­la­ti­on ein­zel­ner Ele­men­tar­er­leb­nis­se zu­rück­füh­ren las­sen und sich dar­aus ein ent­spre­chen­des be­griff­li­ches Kon­sti­tu­ti­ons­sys­tem ent­wi­ckeln lässt.

Über­haupt be­rief sich das sein ge­sam­tes Den­ken und Per­sön­lich­keit prä­gen­de To­le­ranz­prin­zip dar­auf, kon­trä­re oder gar kon­tra­dik­to­ri­sche Ge­gen­sät­ze auf ver­schie­de­ne, aber den­noch gleich­be­rech­tig­te Sprach­sys­te­me zu­rück­zu­füh­ren. Lo­gik muss­te für Car­nap kei­ner Mo­ral fol­gen, son­dern viel­mehr sei­ne ge­nau­en syn­tak­ti­schen Be­stim­mun­gen fest­le­gen. Aus die­sen Grün­den ge­hör­ten für ihn Phi­lo­so­phie, Ma­the­ma­tik und Lo­gik stets eng zu­sam­men. Für me­ta­phy­si­sche Über­le­gun­gen blieb da­mit in sei­nem Denk­sys­tem kein Raum. Die deut­li­chen Stel­lung­nah­men, die er un­ter an­de­rem in sei­nem eben­falls 1928 er­schie­nen Werk „Schein­pro­ble­me der Phi­lo­so­phie" aus­führ­te, in dem er die me­ta­phy­sik­kri­ti­schen Im­pli­ka­tio­nen des Lo­gi­schen Em­pi­ris­mus auf­zu­zei­gen such­te, brach­ten ihm so­gar den Ruf ei­nes ve­he­men­ten An­ti­m­e­ta­phy­si­kers ein.

Im Jahr 1931 er­hielt Car­nap ei­nen Ruf für den Lehr­stuhl für Na­tur­phi­lo­so­phie in Prag, der auf Vor­schlag Franks hin neu ge­schaf­fen wor­den war, und den er bis zu sei­ner Emi­gra­ti­on im Jahr 1935 in­ne­hat­te. In die­ser Zeit wand­te er sich un­ter dem Ein­fluss von Ot­to Neu­rath ei­ner phy­si­ka­lis­ti­schen Sprach­auf­fas­sung zu und hielt je­ne Vor­le­sun­gen, die im Jahr 1934 un­ter dem Ti­tel „Lo­gi­sche Syn­tax der Spra­che" ver­öf­fent­licht wur­den.

Im De­zem­ber 1935 hol­te der Phi­lo­soph Charles Mor­ris (1903-1979) Car­nap, der auf­grund der po­li­ti­schen Si­tua­ti­on Prag ver­las­sen woll­te, nach Chi­ca­go, im Win­ter­se­mes­ter 1935/1936 zu­nächst als Gast- und ab Ok­to­ber 1936 als or­dent­li­cher Pro­fes­sor. 1940/1941 er­hielt er ei­ne Gast­pro­fes­sur in Har­vard und eben­falls 1941 die ame­ri­ka­ni­sche Staats­bür­ger­schaft. Do­zen­tu­ren in Il­li­nois (Früh­jahrs­se­mes­ter 1950) und Prin­ce­ton (1952-1954), wo er di­ver­se Ge­sprä­che mit Al­bert Ein­stein (1879-1955) führ­te, folg­ten. 1954 ging Car­nap nach Los An­ge­les, um die Stel­le sei­nes ver­stor­be­nen Freun­des Rei­chen­bach zu über­neh­men, die er bis zu sei­ner Eme­ri­tie­rung im Jahr 1961 be­hielt.

Die letz­te Schaf­fens­pha­se Car­naps war von sei­nem Stre­ben ge­prägt, ei­ne Theo­rie des in­duk­ti­ven Schlie­ßens und der Wahr­schein­lich­keit zu ent­wi­ckeln, über­schat­tet vom Selbst­mord sei­ner seit Jah­ren an schwe­ren De­pres­sio­nen lei­den­den Frau Ina im Jahr 1964. Die Plä­ne, in Deutsch­land sei­nen Le­bens­abend zu ver­brin­gen, konn­te er nicht mehr um­set­zen. Nach­dem schon al­le Vor­be­rei­tun­gen ge­trof­fen wor­den wa­ren, ver­starb Car­nap nach kur­zer Krank­heit am 14.9.1970 in San­ta Mo­ni­ca (Ka­li­for­ni­en).

Am Ge­burts­haus der Vil­la Car­nap in Wup­per­tal-Rons­dorf er­in­nert noch heu­te ei­ne Ge­denk­ta­fel an den Phi­lo­so­phen. In Born­heim ist ei­ne Stra­ße nach ihm be­nannt.

Werke

Der lo­gi­sche Auf­bau der Welt, Ha­bi­li­ta­ti­ons­schrift, Ber­lin 1928.
Lo­gi­sche Syn­tax der Spra­che, Wien 1934.
Mea­ning and Ne­ces­si­ty, Chi­ca­go 1947.
Mein Weg in die Phi­lo­so­phie (1963), Stutt­gart 1993.
Der Raum. Ein Bei­trag zur Wis­sen­schafts­leh­re, Dis­ser­ta­ti­ons­schrift, Ber­lin 1922.
Schein­pro­ble­me der Phi­lo­so­phie, Ber­lin 1928.

Ei­ne Ge­samt­aus­ga­be wird vom Ver­lag Open Court (Chi­ca­go/La­Sal­le) vor­be­rei­tet.

Literatur

Krauth, Lo­thar, Die Phi­lo­so­phie Car­naps, Wien 1970.
Mor­mann, Tho­mas, Ru­dolf Car­nap, Mün­chen 2000.
Schilpp, Paul Ar­thur (Hg.), The Phi­lo­so­phy of Ru­dolf Car­nap, La­sal­le 1991.

Online

Samm­lung Ru­dolf Car­nap (In­for­ma­ti­on des Phi­lo­so­phi­schen Ar­chivs der Uni­ver­si­tät Kon­stanz). [On­line]
The Ru­dolf Car­nap Collec­tion (Car­nap-Kol­lek­ti­on in der di­gi­ta­len Bi­blio­thek der Uni­ver­si­tät Pitts­burgh). [On­line]
A pa­ge of in­for­ma­ti­on about Ru­dolf Car­nap (1891-1970) (Samm­lung von Links zu Car­nap). [On­line]

 
Zitationshinweis

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Gottlöber, Susan, Rudolf Carnap, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/rudolf-carnap-/DE-2086/lido/57c6888d009eb4.35926884 (abgerufen am 18.04.2024)