Zu den Kapiteln
Walter Lipgens war ein rheinischer Katholik, der sich als Historiker katholischer Kirchenfürsten im Erzbistum Köln profilierte und zum Pionier der Geschichtsschreibung der europäischen Einigung wurde.
Walter Lipgens wurde am 12.6.1925 als Sohn des Kaufmanns Karl Lipgens (gestorben 1957) und seiner Ehefrau Mathilde, geborene van Gulik, in Düsseldorf geboren. 1934 kam er mit seiner Familie ins westfälische Soest, wo er das Archigymnasium besuchte. 1940 folgte ein weiterer Umzug nach Münster/Westfalen, wo er das Schillergymnasium besuchte. Im Mai 1943 wurde er zum Kriegsdienst eingezogen. Nach einer Verwundung wurde er im April 1944 wieder entlassen und konnte nun ein Studium beginnen. Im unzerstörten Tübingen, während der Schrecken des „Endkampfes“ eine Oase für viele bedeutende Gelehrte, belegte Walter Lipgens die Fächer Geschichte, Philosophie, deutsche und lateinische Philologie.
Das geisteswissenschaftliche Studium diente nicht nur der Berufsvorbereitung. Dem jungen Rheinländer, der mit den Konsequenzen der nationalsozialistischen Weltanschauung in brutaler Weise konfrontiert worden war, ging es erkennbar auch um Orientierung und bald um Neuorientierung nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches und der deutschen Herrschaft über Europa. Seit ich 1942 als 17jähriger unter der Kanzel Bischof von Galens [Episkopat 1933-1946] stand, schrieb er 1964 in einem Brief an den ehemaligen deutschen Außenminister Heinrich von Brentano (1904-1964), ist mir das Ziel der föderalistischen Ordnung Europas vor Augen.[1]
Es entsprach der eigenen Befindlichkeit, dass sich Lipgens gleich in beiden geschichtswissenschaftlichen Qualifikationsschriften Persönlichkeiten widmete, die in Umbruchzeiten den Weg zu gelebter „katholischer Erneuerung“ gefunden und zur Neuformulierung katholischer Existenz in der Moderne beigetragen hatten. Die Dissertation, mit der er sein Studium im Frühjahr 1948 abschloss, beschäftigte sich mit dem Kölner Kirchenpolitiker und Theologen der Reformationszeit Johannes Gropper, der zu den Wegbereitern der katholischen Reform gehörte und als Großsiegler beim Erzbischof von Köln die Einführung der Reformation im Kölner Erzbistum durch Erzbischof Hermann von Wied verhinderte.
In der Habilitationsschrift ging es um den Umbruch vom Ancien Régime zum modernen Staat des 19. Jahrhunderts. Wieder stand eine katholische Persönlichkeit im Mittelpunkt der Betrachtung, wieder ein Kölner, diesmal der Erzbischof Ferdinand August Graf Spiegel (1764-1835), der die Abkehr vom System der absolutistischen Staatskirchenherrschaft vollziehen musste, dabei aber das christlich-abendländische Prinzip der Kirchenfreiheit wiederentdeckte und schätzen lernte. Lipgens‘ Beiträge zur Geschichte des Rheinlandes zeigten damit gleichzeitig auf, welchen Einfluss rheinische Kirchenführer auf die Entwicklung der katholischen Kirche und des deutschen Katholizismus hatten.
Beruflich konnte Lipgens nach der Promotion 1948 zunächst eine Stelle als Assistent bei Kurt von Raumer (1900-1982) an der Universität Münster antreten. 1951 erhielt er ein bescheidenes Habilitationsstipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), 1955 übernahm er eine Stelle als wissenschaftlicher Referent am Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Bonn. Parallel dazu hielt er Vorlesungen zur neueren Geschichte in der Diplomatenschule Speyer/Bonn. 1960 konnte sich Lipgens mit der Arbeit über Spiegel bei Werner Conze (1910-1986) in Heidelberg für das Fach Neuere Geschichte habilitieren. 1962 erhielt er in Heidelberg eine beamtete Dozentur für Neuere Geschichte. Seit 1956 war er verheiratet; aus der Ehe gingen zwei Söhne und eine Tochter hervor.
Politisch engagierte sich Walter Lipgens nach eigener Aussage seit 1949 für die Schaffung des europäischen Bundesstaates.[2] Als Westeuropa-Referent der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik hatte er in den Jahrbüchern „Die Internationale Politik“ über Stellung und Probleme der Staaten des kontinentalen Westeuropas in der Weltpolitik der Jahre 1955 bis 1957 zu berichten. Dies führte ihn notwendigerweise zu einer ersten wissenschaftlichen Darstellung der „relance européenne“ und der Entstehung der Römischen Verträge, mit denen 1957 die Europaische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM) gegründet wurden. Nach Abschluss des Habilitationsverfahrens plante er eine umfassende Gesamtdarstellung der Entstehung und Entwicklung des europäischen Einigungsgedankens von der Zeit des Ersten Weltkriegs bis zur Lancierung des Schuman-Plans 1950.
Die Ausführung dieses Darstellungskonzepts erwies sich als ein mühevoller Prozess. Nach Arbeiten zur Politik Bismarcks (1815-1898) erschien 1966 ein erster umfangreicher Aufsatz über die Europäische Einigungsidee 1923-1930 und Briands Europaplan im Urteil der deutschen Akten. 1968 folgte eine Edition von Europa-Föderationsplänen der Widerstandsbewegungen 1940-45. Damit konnte Lipgens zeigen, dass die Idee eines europäischen Zusammenschlusses bei den Akteuren der Widerstandsbewegungen großen Anklang fand. Er betonte die „Besinnung“ auf alteuropäisch-naturrechtliche Bindungen als Grundlage des Widerstands und die Einsicht in die Notwendigkeit supranationaler Autorität als übereinstimmendes Fazit der vielfältigen Situationsanalysen.
Unterdessen hatte er im Wintersemester 1964/65 den Lehrstuhl von Max Braubach an der Universität Bonn vertreten. Das Studienjahr 1966/67 verbrachte er als Fellow am Institute for Advanced Studies und Gastprofessor in Princeton, New Jersey. Zum Wintersemester 1967/68 wurde er auf einen Lehrstuhl für Neuere Geschichte an der Universität des Saarlandes berufen. In Saarbrücken widmete er sich zunächst Teilthemen seines Europa-Projekts und schrieb dann einen ersten Teilband seiner Darstellung der Anfänge der europäischen Einigungspolitik, der die Jahre 1945 bis 1947 umfasste. Eingebettet in eine Analyse der weltpolitischen Entwicklung wurden hier die Europa-Diskussion der Nachkriegszeit und die Entstehung der europäischen Verbände nachgezeichnet.
Noch vor dem Erscheinen dieses Bandes wurde Lipgens eingeladen, für einen Zeitraum von drei Jahren am Aufbau der historischen Abteilung des Europäischen Hochschulinstituts in Florenz mitzuwirken. Er ist diesem Ruf ohne viel Zögern gefolgt. Die Schaffung einer europäischen Universität gehörte zu den Eckpunkten seines strategischen Denkens; daran mitzuwirken und damit die Forschungen zur Geschichte der europäischen Integration auf eine breitere Grundlage stellen zu können, war ihm Chance und Verpflichtung zugleich. In Florenz wollte er ein Dokumentationszentrum zur Geschichte der europäischen Integration etablieren. Ein Team ausgewiesener Autoren aus den unterschiedlichen Mitgliedsländern der Gemeinschaft sollte die von ihm bis 1950 geplante Darstellung in vier weiteren Bänden bis zur Gegenwart fortführen. Zu jedem Band sollte eine Auswahledition von Dokumenten nach dem Muster des Résistance-Bandes erstellt werden.
Von dem Plan der Gesamtdarstellung der Integrationsgeschichte wurde zunächst eine englische Übersetzung des Bandes zu 1945-1947 verwirklicht. Außerdem wurden eine thematisch erweiterte englische Ausgabe des Dokumentenbandes für 1940-1945 in zwei Bänden sowie zwei weitere Dokumentenbände für den Zeitraum 1945-1950 verabredet. Die wesentlich erweiterte englische Fassung der Dokumentation zu den Jahren des Zweiten Weltkriegs konnte erst nach Lipgens’ Rückkehr nach Saarbrücken 1979 fertiggestellt werden.
Die Arbeit an den weiteren Bänden musste gegenüber einem weiteren Editionsprojekt zurückstehen, das Lipgens im Hinblick auf die Verfassungsinitiative des Europäischen Parlaments vom März 1984 unternahm: Eine Sammlung von Entwürfen einer institutionellen Ordnung für die europäische Gemeinschaft von 1939 bis zur Gegenwart, verbunden mit wesentlichen Dokumenten zu ihrer Begründung wie zur Ablehnung durch Gegenkräfte, die er im Auftrag des Instituts für europäische Politik erstellte, sollte einmal mehr das Verständnis für die Notwendigkeit einer Stärkung der supranationalen Ebene der Europäischen Gemeinschaft fördern und so dazu beitragen, dass der Vertrag zur Gründung der Europäischen Union, den das Europäische Parlament mit überwältigender Mehrheit verabschiedet hatte, auch von den Regierungen angenommen und von den nationalen Parlamenten ratifiziert würde.
Zwei Wochen nach der Fertigstellung des Manuskripts des Verfassungs-Bandes ist Walter Lipgens am 29.4.1984 plötzlich an einem Herzversagen gestorben, sechs Wochen vor seinem 59. Geburtstag. Sein Beitrag zur Geschichte der europäischen Einigung blieb folglich ein Torso. Die Dokumentenbände für die Jahre 1945 bis 1950, für die zu diesem Zeitpunkt nur die Materialsammlungen und die Konzeption vorlagen, wurden vom Verfasser dieses Porträts unter Einbeziehung zahlreicher Mitarbeiter zu Ende geführt. Die darstellerische Bearbeitung der Jahre 1948 bis 1950 blieb den vereinten Bemühungen der Verbindungsgruppe der Historiker bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaften vorbehalten, die Lipgens nach seiner Rückkehr aus Florenz mitbegründet hatte.
Ohne Zweifel hat Walter Lipgens in seinen politisch akzentuierten Schriften die Leistungsfähigkeit des modernen Staates allzu mechanisch an seiner bloßen Größe gemessen. Beim Nachweis des hohen Maßes an Übereinstimmung europapolitischer Einsichten über nationale und weltanschauliche Grenzen hinweg ging ihm häufig der Blick für gleichwohl vorhandene Unterschiede, Inkonsistenzen und Entwicklungen verloren, die die europäische Einigungsbewegung insgesamt nicht so stark werden ließen, wie sie in seinen Darstellungen erscheint. Die Stilisierung der Résistance zur Auftraggeberin des europäischen Projekts war ebenso überzogen wie die Charakterisierung der Föderalisten-Verbände als Transmissionsriemen der europäischen Idee.
Gleichwohl ist Lipgens mit der Erschließung umfangreicher Quellenbestände unterschiedlichster Provenienz zum eigentlichen Begründer der zeitgeschichtlichen Erforschung des europäischen Einigungsprozesses geworden. Er war ein Pionier in der Ausweitung der deutschen Geschichtswissenschaft auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und auf internationale Fragestellungen. Als Wissenschaftsorganisator sorgte er seit der zweiten Hälfte der 1970er Jahre dafür, dass sich die Geschichtsschreibung zur europäischen Integration zu einem frühen Zeitpunkt international vernetzte. Mit dem universalgeschichtlichen Ansatz, an dem er dabei, aus katholischer Tradition kommend, stets festhielt, setzte er Maßstäbe, an denen sich andere Versuche, den historisch neuartigen Prozess der europäischen Integration zu erklären, messen lassen müssen.
Quellen
Die Europa-bezogenen Teile des Nachlasses von Walter Lipgens befinden sich im Historischen Archiv der Europäischen Union in Florenz. Alle anderen Nachlass-Teile werden im Universitätsarchiv der Universität des Saarlandes in Saarbrücken aufbewahrt.
Schriften (Auswahl)
Kardinal Johannes Gropper 1503-1559 und die Anfänge der katholischen Reform in Deutschland, Münster 1951.
Stellung und Probleme der Staaten des kontinentalen Westeuropas in der Weltpolitik, in: Die Internationale Politik 1955, München 1958, S. 217-329.
Stellung und Probleme der Staaten des kontinentalen Westeuropa in der Weltpolitik, in: Die Internationale Politik 1956 und 1957, München 1961, S. 263-378.
Ferdinand August Graf Spiegel und das Verhältnis von Kirche und Staat 1789-1835. Die Wende vom Staatskirchentum zur Kirchenfreiheit, Band 1: Darstellung, Band 2: Quellen und Verzeichnisse, Münster 1965.
Europäische Einigungsidee 1923-1930 und Briands Europaplan im Urteil der deutschen Akten, in: Historische Zeitschrift 203 (1966), S. 46-89 u. 316-363.
(Hg.), Europa-Föderationspläne der Widerstandsbewegungen 1940-1945, München 1968.
Die Anfänge der europäischen Einigungspolitik 1945-1950. Erster Teil: 1945-1947. Mit zwei Beiträgen von Wilfried Loth, Stuttgart 1977.
A History of European Integration 1945-1947. The Formation of the European Unity Movement. With contributions by Wilfried Loth and Alan Milward, Oxford 1982.
(Hg.), Documents on the History of European Integration 1939-1950, 4 Bände, Berlin / New York 1985-1991, Reprint 2019.
(Hg.), 45 Jahre Ringen um die Europäische Verfassung. Dokumente 1939-1984. Von den Schriften der Widerstandsbewegung bis zum Verfassungsentwurf des Europäischen Parlaments, Bonn 1986.
Literatur
Kaiser, Wolfram, „Überzeugter Katholik und CDU-Wähler“. Zur Historiographie der Integrationsgeschichte am Beispiel Walter Lipgens, in: Journal of European Integration History 8 (2002), Heft 2, S. 119-128.
Loth, Wilfried, Walter Lipgens (1924-1984), in: Duchhard, Heinz/Morawice, Malgorzata/Schmale, Wolfgang/Schulze, Winfried (Hg.), Europa-Historiker. Ein biographisches Handbuch, Band 1, Göttingen 2006, S. 217-236.
Loth, Wilfried, Walter Lipgens et la construction transnationale des études européennes, in: Larat, Fabrice/Mangenot, Michel/Schirmann, Sylvain (Hg.), Les études européennes. Genèse et institutionnalisation, Paris 2018, S. 73-88.
Bitte geben Sie beim Zitieren dieses Beitrags die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Loth, Wilfried, Walter Lipgens, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/walter-lipgens-/DE-2086/lido/6762ae040d3b01.22773382 (abgerufen am 19.01.2025)