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Nur wenigen Eingeweihten in der SPD ist Willi Eichler heute noch ein Begriff. Dabei war er einer der wichtigsten Vordenker der SPD in der Nachkriegszeit und hat entscheidend zur Programmatik der Partei beigetragen. Die Wahlsiege Willy Brandts (1913-1992, Bundeskanzler 1969-1974) wären ohne ihn kaum denkbar gewesen. Rheinländer wurde er eher durch Zufall, verbrachte dann aber seine zweite Lebenshälfte in Köln und Bonn.
Geboren wurde Willi Eichler am 7.1.1896 als Sohn eines Postbeamten in Berlin, wo er auch aufwuchs. Die einfachen Lebensumstände der Familie führten dazu, dass er schon während der Schulzeit arbeitete; nach der Volksschule besuchte er die Handelsschule und durchlief eine kaufmännische Lehre in einem Bekleidungsgeschäft.
Es war ein Lehrer, der Eichler mit den Ideen des Göttinger Philosophen Leonard Nelson (1882-1927) bekannt machte, mit dem Eichlers Leben und Werk untrennbar verbunden sein sollte. Die von Nelson kultivierte Vorstellung, dass jeder durch vernunftorientiertes und logisches Denken die Prinzipien eines friedlichen und gerechten Zusammenlebens erkennen könne, besaß zeitlebens absolute Überzeugungskraft für Eichler.
Die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs – Eichler war ab 1915 als Soldat in Russland und Frankreich eingesetzt – machten seine Suche nach Prinzipien für ein friedliches Miteinander umso dringender und führten ihn noch stärker an Nelson heran. 1921 kam es zu einer ersten Begegnung mit ihm, 1924 wurde Eichler sein Privatsekretär. Damit war er im Zentrum einer kleinen, aber langfristig wirkmächtigen Organisation tätig. Der Internationale Jugendbund (IJB, später der Internationale Sozialistische Kampfbund, ISK) war eine von Nelson initiierte, straff hierarchisch organisierte politische Gruppe, in der nicht nur die ethischen Grundlagen einer an gleicher Freiheit orientierten Gesellschaft in den Blick genommen wurden, sondern in der auch junge Menschen ausgebildet wurden, die mit diesen Ideen ernst machten und sie in Gesellschaft und Politik, vor allem in die Organisationen der Arbeiterbewegung, trugen. Eichler sprach zu Recht von einem „Orden“, denn gleich einer Ordensgemeinschaft forderte der IJB/ISK absoluten Einsatz für die gemeinsame Sache. In den 1920er Jahren wurde Eichler erstmals auch Mitglied der SPD.
Nach Nelsons Tod 1927 wurde Eichler der Leiter des ISK. Seine bemerkenswerten journalistischen Fähigkeiten und sein enormes Arbeitspensum richteten sich in den folgenden Jahren zunehmend auf die Bekämpfung des Nationalsozialismus. In zahlreichen Artikeln setzte sich Eichler kritisch mit den Positionen der SPD und ihrem – aus Eichlers Sicht nicht ausreichenden – Widerstand gegen die Nationalsozialisten auseinander. Die Tageszeitung „Der Funke“, die der ISK ab 1932 herausgab, sprach sich auch für ein stärkeres Zusammengehen von SPD und KPD im Kampf gegen die Nationalsozialisten aus.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten ging Eichler 1933 zunächst ins französische Exil. Auch von Paris aus versuchte er, publizistisch den Nationalsozialismus zu bekämpfen und die bemerkenswerten Widerstandsaktivitäten des ISK in Deutschland zu koordinieren. Im Londoner Exil ab 1939 lernte Eichler Susanne Miller (1915-2008) kennen, mit der ihn bis an sein Lebensende eine enge Lebens- und Arbeitsgemeinschaft verband. In London traf er auf Exilanten anderer sozialistischer Splittergruppen, aber auch der SPD wie Erich Ollenhauer (1901-1963), Hans Vogel (1881-1945) oder Fritz Heine (1904-2002)
In diesem Umfeld wurden in zweifacher Hinsicht Entwicklungen eingeleitet, die für die Nachkriegsgeschichte der SPD bedeutsam wurden. Erstens kam es mit dem Zusammenschluss von ISK, SPD und anderen Gruppierungen zur „Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien“ 1941 zu einer organisatorischen Annäherung linker politischer Vereinigungen, die eine Voraussetzung für die spätere Volksparteiwerdung der SPD war. Zweitens wurden zahlreiche ideelle Grundlagen der Nachkriegs-SPD im Exil entwickelt, etwa in der von der „Union“ veröffentlichten Schrift „Zur Politik deutscher Sozialisten“. Vor dem Hintergrund dieser wachsenden Nähe zur SPD war es nicht überraschend, dass Eichler 1945 die Teile des ISK, die den Nationalsozialismus überstanden hatten, in die SPD eingliederte und den ISK als eigenständige Organisation auflöste. Große Herausforderungen – so Eichlers Überzeugung – bedürften auch großer politischer und gesellschaftlicher Bündnisse (Harder).
Mit der Rückkehr nach Deutschland 1946 setzte Eichlers Zeit im Rheinland ein. Die Anfänge in Köln waren bescheiden: Eichlers erste Wohnung in Klettenberg hatte zunächst keine Verglasung. Er übernahm – seinen journalistischen Fähigkeiten entsprechend - die Leitung der „Rheinischen Zeitung“ und stand damit in mittelbarer Nachfolge von Karl Marx. Darüber hinaus war es seine Aufgabe, die Partei im Rheinland wieder aufzubauen. Von 1946 bis 1948 gehörte er dem Nordrhein-Westfälischen Landtag an, von 1949 bis 1953 dem ersten Deutschen Bundestag. 1947-1953 war er Vorsitzender des SPD-Bezirks Mittelrhein.
Er wurde Mitglied im Parteivorstand der SPD, erst als Repräsentant der ISK-Anhänger; ab 1954 war er verantwortlich für die Vorbereitung eines neuen Grundsatzprogramms. Mit dieser neuen Stelle zog Eichler in den Bonner Stadtteil Kessenich, wo er bis zu seinem Tod wohnte.
Schon 1946 hatte Eichler die Klärung von zentralen programmatischen Begriffen gefordert. Neue gesellschaftliche Situationen erforderten neue Ordnungsvorstellungen. Kurt Schumacher(1895-1952), die unumstrittene Führungsfigur der SPD, sprach sich allerdings gegen eine umfassende Programmdiskussion aus. Nachdem eine Wahlniederlage auf die andere folgte, wurde die Notwendigkeit einer weitreichenden organisatorischen und inhaltlichen Neuausrichtung immer deutlicher.
Willi Eichler wurde 1954 von Erich Ollenhauer die Verantwortung für die Vorbereitung der programmatischen Erneuerung der Partei übertragen. Die von ihm geleitete „Kommission zur Weiterführung der Parteidiskussion“ war plural besetzt. Neben anderen Nelsonianern wie Gerhard Weisser (1898-1989) waren auch marxistisch geprägte Theoretiker wie Wolfgang Abendroth und Empiriker wie Otto Stammer (1900-1978) in der Kommission vertreten. Eichler selbst war keinem Parteiflügel eindeutig zuzuordnen. Was bei Abstimmungen auf Parteitagen nachteilig wirken konnte, erwies sich in den Programmdiskussionen als Vorteil.
Mit dem auf einem außerordentlichen Parteitag am 15.11.1959 in der Godesberger Stadthalle mit großer Mehrheit verabschiedeten Programm war in vielfacher Hinsicht ein Meilenstein gelungen. Die marxistische inspirierte Geschichtsmetaphysik, die noch das Heidelberger Programm der SPD von 1925 geprägt hatte, wurde aufgegeben. Nicht mehr eine naturnotwendige Entwicklung werde zwangsläufig zum Zusammenbruch des Kapitalismus und damit zu einer revolutionären Entwicklung führen. Die Verwirklichung des Sozialismus sei – so das neue Programm – eine dauernde Aufgabe, bei der es immer wieder darauf ankomme, Interessen friedlich auszuhandeln, mit dem Ziel maximaler Freiheit für alle Mitglieder der Gesellschaft gleichermaßen. In diesem Motiv der gleichen Freiheit war das kantsche Motive der Nelsonianer klar erkennbar.
Ethische Grundlage des Programms bildete die Orientierung an den drei Grundwerten Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Sie waren schon in den Anfängen der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert gegenwärtig, dann aber von der marxistisch geprägten Klassenanalyse überlagert. Mit dem wieder stärkeren Bezug auf ethische Prinzipien war nicht nur für die innerparteiliche Willensbildung ein wichtiges Signal gesetzt, sondern auch für die Offenheit der Sozialdemokratie nach außen. Letztbegründungen wie Weltanschauungen oder Religionen zu diskutieren war aus Perspektive Eichlers nicht weiterführend. Werte allerdings könnten die verbindende Grundlage für gemeinsames Handeln sein, egal ob man sie aus religiösen, aus philosophischen oder anderen Motiven ableitet.
Es ist kein Zufall, dass das Godesberger Programm auch heute noch mit einer klaren, kraftvollen und schönen Sprache beeindruckt. Eichler, der selbst mit einem beachtlichen Sprachgefühl ausgestattet war, übertrug dem Journalisten Fritz Sänger (1901-1984) die Verantwortung für den sprachlichen „Feinschliff“ des Dokuments.
Es wäre allerdings falsch, das Godesberger Programm allein auf die Beratungen in der SPD nach 1945 zurückzuführen. Mit dem Programm wurden Diskussionsstränge aufgegriffen, die sich nicht nur zu den Diskussionen der Jungsozialisten in der Weimarer Republik zurückverfolgen lassen, sondern auch von der Revisionismusdebatte und dem Bernsteinschen Impuls zur Erneuerung der SPD-Programmatik aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts profitieren.
Mit dem Godesberger Programm gelang die gesellschaftliche Öffnung der SPD. Exemplarisch ist das Verhältnis Kirchen zu nennen. Von Wahl zu Wahl konnte die SPD auf Grundlage dieses zeitgemäßen Programms immer mehr Zustimmung gewinnen und 1969 – zehn Jahre nach der Verabschiedung des Godesberger Programms – mit Willy Brandt den Bundeskanzler stellen.
Vielleicht war es Willi Eichlers eigene Biographie, die ihn für die besondere Bedeutung von Bildung sensibilisierte. Als „schon zu seiner Zeit selten gewordene(r) Fall eines hochgebildeten Autodidakten“ (Grebing) war ihm bewusst, dass Bildung nicht nur für die individuelle Entfaltung einer eigenen Persönlichkeit, sondern auch für politische Bewegungen insgesamt entscheidend ist.
Besondere Bedeutung kam aus seiner Sicht einer richtig verstanden Erwachsenenbildung zu, die zum kritischen Denken befähigt: „Erwachsenenbildung sehen viele an als eine Art von Nachhilfeunterricht für schlecht weggekommene Volksschüler [...]. Aber Erwachsenenbildung ist mehr als Wissens- und Fertigkeitsvermittlung. Sie kann nur geleistet werden, wenn die ihr gewidmeten Heime und Schulen Stätten der Begegnung werden, die Gelegenheit geben zu wirklichen Gesprächen, in den Vorurteile überwunden werden und die Möglichkeit eröffnet wird, in Arbeits- und Lebensgemeinschaften wirkliche Selbstverständigung und Verständigung mit anderen zu erleben […]“[1]
Für seine Arbeit als programmatischer Vordenker hat er einen umfassenden Diskussionsprozess in der gesamten Partei und darüber hinaus initiiert. Er selbst war auf allen Ebenen der Partei in hunderten von Diskussionsveranstaltungen engagiert und nahm sich dafür bewusst Zeit. Außerdem schuf er Strukturen, die den offenen Dialog nachhaltig ermöglichen und befördern sollten.
So sollte die Einrichtung einer Heimvolkshochschule der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bergneustadt (1956) den Weg nach Godesberg ebenso vorbereiten wie die Gründung einer wertorientierten, aber geistig offenen Zeitschrift. „Die Neue Gesellschaft“ (heute „Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte) sollte ab 1954 zwar von „Genossen herausgegeben, aber […] nicht das Sprachrohr des Parteivorstands“ sein (Eichler auf SPD-Parteitag Juli 1954). Ein Debattenmagazin sollte entstehen, das die grundsätzlichen Fragen zur Sozialen Demokratie stellt und in dem die besten Argumente miteinander abgewogen werden und nicht nur die, die dem Parteivorstand genehm sind.
Als Abschluss seines politischen Wirkens übernahm er folgerichtig das Amt des hauptamtlichen Vorstandsmitglieds der Friedrich-Ebert-Stiftung (1968-1971). Willi Eichler starb am 17.10.1971 in Bonn und wurde dort auf dem Südfriedhof begraben. Die Trauerrede hielt Willy Brandt.
Das von Eichler geprägte und 1959 vorgelegte Grundwerteverständnis wurde seitdem mehrfach weiterentwickelt und auf veränderte Zeiten bezogen. Grundsätzlich in Frage gestellt wurde es nie. Aber nicht nur dieser Beitrag zum programmatischen Kern der SPD ist es, was von Eichler bleibt. Es ist auch die Methode seines Denkens und Handelns, die von ungebrochener Aktualität ist. Geistige Offenheit und Bereitschaft zum echten Dialog bei gleichzeitig klarer Wertorientierung sind eine vielversprechende Haltung in einem Zeitalter, in dem zu Recht umfassende Partizipation eingefordert und verbindende Werte in einer auseinanderstrebenden Gesellschaft immer nötiger werden.
1977 wurde in Köln das Willi-Eichler-Bildungswerk (WEB) gegründet, das 2015 mit dem Verein für politische Bildung und Information e. V. (VPI Bonn) zur Willi-Eichler-Akademie e. V. fusionierte. Dem Erbe Willi Eichlers verpflichtet, dient die Akademie der Weiterbildung von Erwachsenen mit dem vorrangigen Ziel der politischen Bildung.
Werke
Eine Gesamtedition des umfangreichen Werks von Willi Eichler liegt nicht vor. Ausgewählte Publikationen finden sich in: Weltanschauung und Politik. Reden und Aufsätze, hg, von Gerhard Weisser, Frankfurt a.M. 1967. Zur Einführung in den demokratischen Sozialismus, hg. von Horst Heidermann, Bonn 1972.
Willi Eichlers Beiträge zum demokratischen Sozialismus. Eine Auswahl aus dem Werk, hg.von Klaus Lompe/Lothar F. Neumann, Bonn 1979. [Darin eine Auswahl-Bibliographie].
Literatur
Grebing, Helga, Geschichte des Sozialismus in Deutschland, in: Grebing, Helga (Hg.), Die Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland, Wiesbaden 2005, S. 355-595.
Harder, Ernesto, Vordenker der „ethischen Revolution“. Willi Eichler und das Godesberger Programm der SPD, Bonn 2013.
Klär, Karl-Heinz (1982): Zwei Nelson-Bünde. Internationaler Jugendbund (IJB) und Internationaler Sozialistischer Kampfbund im Licht neuer Quellen. In: Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 18 (1982), S. 310-360.
Krell, Christian, Willi Eichler, in: Krell, Christian (Hg.), Vordenkerinnen und Vordenker der Sozialen Demokratie. 49 Porträts, Bonn 2016, S. 98-104.
Krell, Christian/Woyke, Meik (2015): Die Grundwerte der Sozialdemokratie. Historische Ursprünge und politische Bedeutung, in Krell, Christian/Mörschel, Tobias (Hg.), Werte und Politik, Wiesbaden 2015, S. 93-138.
Lemke-Müller, Sabine, Ethischer Sozialismus und Soziale Demokratie. Der politische Weg Willi Eichlers vom ISK zur SPD, Bonn 1988.
Lindner, Heiner, „Um etwas zu erreichen, muss man sich etwas vornehmen, von dem man glaubt, dass es unmöglich ist“. Der Internationale Sozialistische Kampfbund (ISK) und seine Publikationen, Bonn 2006.
Online
Informationen zu Willi Eichler auf der Seite der Friedrich-Ebert-Stiftung. [Online]
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Krell, Christian, Willi Eichler, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/willi-eichler-/DE-2086/lido/5f5743c3c3ab28.46178626 (abgerufen am 10.10.2024)