Die Kölner Buchmalerei des 10. und 11. Jahrhunderts gehört zu den bedeutendsten Zeugnissen mittelalterlicher Malerei überhaupt. Peter Bloch und Hermann Schnitzler haben 1967 und 1970 in zwei Bänden die erhaltenen Objekte dieser Buchmalereigruppe umfassend aufgearbeitet und systematisiert und doch blieben zahlreiche Fragen ungelöst, die in den folgenden Jahren die kunsthistorische Forschung beschäftigen sollten. Besonders hervorgetan hat sich hierbei Klaus Gereon Beuckers, der im Rahmen eines Forschungsprojekts zu den Kölner Handschriften des 10./11. Jahrhunderts bereits mehrere Monographien, Aufsätze und Sammelbände zu diesem Thema vorgelegt hat. Mit der Handschrift Wallraf 312 im Bestand 7010 des Historischen Archivs der Stadt Köln hat Beuckers in Zusammenarbeit mit Ursula Prinz, Doris Oltrogge, Beate Braun-Niehr und Robert Fuchs nun eine der bemerkenswertesten Handschriften aufgearbeitet.
Das Evangeliar W 312, auch bekannt unter dem Namen „Kaiserinnen-Evangeliar“, wurde 991 anlässlich der Bestattung Kaiserin Theophanus im Benediktinerkloster St. Pantaleon angefertigt. Es wird der sogenannten „Malerischen Gruppe“ (Bloch/Schnitzler) der Kölner Buchmalerei zugerechnet, die nach aktuellem Forschungsstand in die 980er und 990er Jahre zu datieren ist.
Beuckers beschreibt zunächst die Handschrift in großem Detailreichtum und ordnet sie schließlich in die Kölner Buchmalerei des 10. Jahrhunderts sowie in die zeitgenössische Buchmalerei anderer Skriptorien ein. Er macht auf das ungewöhnlich große Format des Kodex (32,8 x 24,2 cm) aufmerksam, betont aber, dass die Anordnung der Texte und Zierseiten sowie charakteristische Merkmale der Bildgestaltung den übrigen Handschriften der Kölner „Malerischen Gruppe“ weitestgehend entsprechen. Gerade das Ausstattungsniveau der Zierseiten, insbesondere der Rahmenornamentik, verdeutliche aber den hohen Anspruch des Kodex, was ihn zu einer monumentalisierenden und zierverdichteten Weiterentwicklung der „Malerischen Gruppe“ mache, an deren Ende er stehe.
Inhaltlich enthält das Evangeliar alle Evangelienvorreden, die vier Evangelien mit Prologen und Capitula sowie ein abschließendes Capitulare Evangeliorum, wobei vereinzelt Initialen, Explicits und Vorreden fehlen oder platzbedingt gekürzt wurden. Aufgrund dieser und weiterer Befunde, die auf Improvisation und Arbeitsteilung hindeuten, hält es Beuckers für wahrscheinlich, dass die Handschrift unter Zeitdruck hergestellt und bereits vor ihrer eigentlichen Vollendung eingesetzt wurde. Dies deute auf den engen Zeitraum zwischen Tod und Bestattung Theophanus hin. Er schließt mit einer Beschreibung und Einordnung der namengebenden Kaiserinnenseite (fol. 22r) an, die zugleich der Beginn des Matthäus-Evangeliums ist: LIBER GE(nerationis). Auf dem aufwändig gestalteten Rahmen sind vier Medaillons angeordnet, die das kreuznimbierte Lamm Gottes (oben) und eine männliche sowie zwei weibliche Personen zeigen, die mit Otto III. (rechts), seiner gerade verstorbenen Mutter Theophanu (unten) sowie deren Schwiegermutter Adelheid (links), die an ihrer Stelle die Regentschaft für den minderjährigen König übernommen hatte, identifiziert werden.
Beuckers hält es für wahrscheinlich, dass das Evangeliar keine Auftragsarbeit der kaiserlichen Familie war, sondern vom Konvent St. Pantaleon unter seinem Gründungsabt Christian (amt. 964/965-1001) anlässlich der dortigen Bestattung der Kaiserin für die feierliche Liturgie angefertigt wurde. Zugleich sieht der Autor in der Handschrift W 312 einen Ausdruck der betonten Herrschernähe des Klosters, das durch den Tod Theophanus seiner großen Förderin beraubt war und sich eine Fortsetzung der Unterstützung durch Otto und Adelheid erhofft habe. Beuckers bilanziert, dass das Evangeliar ein historisch und kunsthistorisch herausragendes Zeugnis für die ottonische Zeit in Köln und die Blüte St. Pantaleons sei. Er wendet sich zugleich endgültig gegen die ältere Forschung, die das Evangeliar stets im St. Gereonstift verortet hatte.
Die Untersuchung des Evangeliars abrundend geht zunächst Beate Braun-Niehr auf das Capitulare evangeliorum, das sich am Ende des Kodex befindet (fol. 197r-220v), ein. Das Verzeichnis führt alle Sonn- und hohen Feiertage und die relevanten Heiligenfeste sowie die jeweils vorzutragenden Perikopen auf. Zahlreiche Korrekturen, Satzzeichen und weitere Hinweise für das richtige Vortragen belegen den regen Einsatz des Evangeliars im Gottesdienst. Die Auswahl und Anordnung der Heiligenfeste ist in der Forschung in verschiedene Gruppen eingeteilt worden. Auffälligerweise könne man W 312 keiner dieser Gruppen sicher zuordnen, bzw. lasse sich hier eine an die liturgischen Bedürfnisse St. Pantaleons angepasste Version einer älteren Liste fassen.
Abschließend liefern Doris Oltrogge und Robert Fuchs einige Beobachtungen zu den Farbmitteln und der Maltechnik des Evangeliars; hierzu verarbeiten sie die Erkenntnisse einer kunsttechnologischen Untersuchung, die sie nach dem Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln zwecks Feststellung eventueller Schäden an der Handschrift vorgenommen hatten. Bis auf eine partielle Verschwärzung von Mennigeschrift ließen sich erfreulicherweise keine Schäden feststellen. Oltrogge und Fuchs beschreiben zunächst die Schreib- und Farbmittel, sowie die Metalle in ihrer Zusammensetzung. Anschließend gehen sie auf Entwurf und Ausführung sowie Maltechnik ein. Sie heben hervor, wie durch Maltechnik spezifische Materialitäten evoziert werden. Diesbezüglich einzigartig in der Kölner Buchmalerei des 10. Jahrhunderts sei die Evokation von Porphyr.
Hervorzuheben ist der Anhang, der alle Seiten des Kaiserinnen-Evangeliars, die Bilder, Zierinitialen und Zierschriften enthält, und als hochauflösendes Faksimile präsentiert. Der Leser vermisst einzig ein Verzeichnis der zum Vergleich herangezogenen Handschriften bzw. deren Abbildungen. Insgesamt bietet der Band eine ausführliche und ausgewogene Untersuchung des Kaiserinnen-Evangeliars und ist damit ein würdiger Abschluss für die Reihe an Einzeluntersuchungen, die in den vergangenen zwölf Jahren zur Kölner Buchkunst erschienen sind.
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Raith, Lea, Beuckers, Klaus Gereon, Das Kölner Kaiserinnen-Evangeliar W 312. Ein ottonisches Prachtevangeliar aus St. Gereon im Historischen Archiv der Stadt Köln (Forschungen zu Kunst, Geschichte und Literatur des Mittelalters - Bd. 11), Wien/Köln 2024, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Verzeichnisse/Literaturschau/beuckers-klaus-gereon-das-koelner-kaiserinnen-evangeliar-w-312.-ein-ottonisches-prachtevangeliar-aus-st.-gereon-im-historischen-archiv-der-stadt-koeln-forschungen-zu-kunst-geschichte-und-literatur-des-mittelalters---bd.-11-wienkoeln-2024/DE-2086/lido/66cee37f0d4f30.13330377 (abgerufen am 06.10.2024)