Epochen
„Ich bin am 22. August 1860 in Kaldenkirchen, Rheinprovinz, Regierungsbezirk Düsseldorf geboren". So nüchtern wie exakt beginnen die autobiographischen Aufzeichnungen, die der jüdische Arzt Julius Grunewald im Alter von 56 Jahren „für meine Kinder und so Gott will Kindeskinder" aufschrieb.
Autobiographische Texte von niederrheinischen Juden sind eine große Seltenheit. Die einzige vergleichbare publizierte Quelle stellen die 1982 von Gregor Hövelmann herausgegebenen „Erinnerungen" des aus Geldern stammenden Juden Heinrich Kempenich (1866-1932) dar. Die Aufzeichnungen von Julius Grunewald stehen ihr in der Aussagekraft nicht nach. Grunewalds Schilderungen zeichnen sich durch gute Beobachtungsgabe, Detailreichtum und Anschaulichkeit aus und vermitteln eine einmalige Binnensicht jüdischen Alltags am Niederrhein zwischen 1860 und 1880.
Die Leserinnen und Leser erhalten lebendige Einblicke in die jüdische Lebenswelt einer niederrheinischen Kleinstadt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Grunewald beschreibt das religiöse Leben in der rabbinerlosen Gemeinde, das Einhalten der jüdischen Speisegesetze in einem koscher geführten Haushalt, die typischen Berufe der Landjuden, die religiöse Unterweisung der jüdischen Kinder und das christlich-jüdische Miteinander in der Schule und im Geschäftsleben. So schildert er, wie er und die anderen jüdischen Kinder am christlichen Religionsunterricht teilnahmen: „Es ist nicht vorgekommen, dass durch Teilnahme an dem Unterrichte in der christlichen Religion Zweifel an der Güte unserer Sache in uns erweckt worden wären, noch weniger dass ein jüdisches Kind zur christlichen Religion übergetreten wäre! Wir nahmen das ganz harmlos „Jeder mot sin Denge hohn", das heißt jeder muss seine angeborene Religion halten, war ein Grundsatz, der damals in schönen toleranten Zeiten als etwas Selbstverständliches galt" (S. 32).
Julius Grunewalds Kinder- und Jugenderinnerungen enden mit seiner Promotion 1882. Dass viel über seinen weiteren Lebensweg und den seiner „Kinder und Kindeskinder" bekannt ist, verdanken wir den Lebenserinnerungen seiner Frau Julie Grunewald (1864-1966), die den zweiten Teil des Buches einnehmen. Ihre Schilderungen, die sie als 90-jährige im Jahr 1954 in den USA verfasste, vervollständigen die deutsch-jüdische Familiengeschichte.
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Grübel, Monika, Peters, Leo (Hg.), Eine jüdische Kindheit am Niederrhein. Die Erinnerungen des Julius Grunewald (1860 bis 1929), Köln/Weimar/Wien 2009, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Verzeichnisse/Literaturschau/peters-leo-hg.-eine-juedische-kindheit-am-niederrhein.-die-erinnerungen-des-julius-grunewald-1860-bis-1929-koelnweimarwien-2009/DE-2086/lido/57d265b3125c38.17057409 (abgerufen am 04.05.2024)