Lepra und Leprosorien in den Rheinlanden

Martin Uhrmacher (Trier)

Christus heilt den Aussätzigen - Codex Egberti, fol. 21v. Der Codex wurde für den Trierer Bischof Egbert zwischen 977 und 993 hergestellt. Die Miniatur zeigt den Aussätzigen mit zerfurchtem Gesicht und Lepramalen auf dem Körper. Als Warninstrument trägt er ein Horn an einer Schnur unter dem linken Arm; die rechte Hand ist bittend zu Christus ausgestreckt, der ihn segnet. Der aus der Gruppe der Apostel hervorgetretene Petrus beobachtet das Geschehen mit dem Gestus des Erstaunens, 977-993 n. Chr.

1. Einleitung

Die Le­pra lässt sich be­reits seit der An­ti­ke im öst­li­chen Mit­tel­meer­raum nach­wei­sen; sie gilt als ei­ne der äl­tes­ten Seu­chen der Mensch­heits­ge­schich­te. Zu­gleich ist sie auch ei­ne Krank­heit mit er­heb­li­chen recht­li­chen und so­zia­len Fol­gen für die Be­trof­fe­nen. Schon in dem Syn­onym "Aus­satz" zeigt sich dies deut­lich; denn die Ab­son­de­rung der Er­krank­ten cha­rak­te­ri­sier­te de­ren Son­der­sta­tus in der mit­tel­al­ter­li­chen und früh­neu­zeit­li­chen Le­bens­welt. Le­pra­kran­ke leb­ten des­halb bis zum Er­lö­schen der Krank­heit in Mit­tel­eu­ro­pa zu Be­ginn des 18. Jahr­hun­derts in Le­pros­ori­en, die auch Sie­chen­häu­ser ge­nannt wur­den. Da­bei han­del­te es sich um In­sti­tu­tio­nen, die spe­zi­ell zur Un­ter­brin­gung und Ver­sor­gung dien­ten und sich stets au­ßer­halb der Städ­te be­fan­den. Sie wa­ren in den Rhein­lan­den weit ver­brei­tet. In dem vom Ge­schicht­li­chen At­las der Rhein­lan­de er­fass­ten Ar­beits­raum konn­ten bis­her 191 Le­pros­ori­en nach­ge­wie­sen wer­den.[1]

Als Ur­sa­che für das „Aus­set­zen“ der Le­pra­kran­ken kann da­bei aber nicht al­lein die Angst vor ei­ner mög­li­chen An­ste­ckung mit ei­ner un­heil­ba­ren, ent­stel­len­den Krank­heit ge­se­hen wer­den. Denn es gab be­reits bib­li­sche Ge­bo­te, die die­se Pra­xis for­der­ten. So fin­den sich in den alt­tes­ta­men­ta­ri­schen Bü­chern Le­vi­ti­cus (13,45) und Nu­me­ri (5,1-3) kon­kre­te Vor­schrif­ten, al­le Aus­sät­zi­gen streng von den Wohn­stät­ten der Ge­sun­den ab­zu­son­dern. Auch wenn es sich bei dem hier be­schrie­be­nen „Aus­sat­z“ wohl nicht um Le­pra ge­han­delt hat, wa­ren die­se Vor­schrif­ten die Grund­la­ge der christ­lich ge­präg­ten Rechts­stel­lung der Le­pro­sen im Mit­tel­al­ter.

2. Das Leprosenwesen

2.1 Die historische Verbreitung der Lepra

Me­di­zi­nisch ge­se­hen ist die Le­pra ei­ne In­fek­ti­ons­krank­heit, de­ren Aus­lö­ser, das "my­co­bac­te­ri­um le­prae", 1873 von dem Nor­we­ger Ar­mau­er Han­sen (1841-1912) ent­deckt wur­de. Über­tra­gen wird das Bak­te­ri­um vor­wie­gend durch Tröpf­chen- oder Schmutz­in­fek­ti­on über den Na­sen–Ra­chen–Raum, zu ei­nem ge­rin­gen Teil kommt es auch zu Di­rekt­über­tra­gun­gen bei of­fe­nen Wun­den und an­de­ren äu­ße­ren Ver­let­zun­gen. Seit den 1950er Jah­ren ist ei­ne Le­pra-Er­kran­kung durch neu ent­wi­ckel­te Me­di­ka­men­te – vor al­lem An­ti­bio­ti­ka – und spe­zi­el­le The­ra­pie­me­tho­den auch im fort­ge­schrit­te­nen Sta­di­um heil­bar. Seit den 1980er Jah­ren ist ih­re Ver­brei­tung durch den groß­flä­chi­gen Ein­satz wir­kungs­vol­ler Me­di­ka­men­te auch in den En­de­mie­ge­bie­ten deut­lich zu­rück­ge­gan­gen, sie ist aber bis heu­te vor al­lem in Süd­ost­asi­en, Afri­ka und Bra­si­li­en noch im­mer prä­sent.

2.2 Die rechtliche Stellung der Leprosen

In den Rhein­lan­den sind durch das Tes­ta­ment des Dia­kons Ad­alg­i­sel Gri­mo von 634 erst­mals Le­pros­ori­en zur Auf­nah­me und Pfle­ge von Aus­sät­zi­gen be­legt. Sie be­fan­den sich in den Ka­the­dral­städ­ten Metz, Maas­tricht und Ver­dun. Zu die­ser Zeit wa­ren die Bi­schö­fe für die Ver­sor­gung der Le­pra­kran­ken mit Nah­rung und Klei­dung ver­ant­wort­lich. Bis ins 12. Jahr­hun­dert blie­ben Le­pros­ori­en wohl nur auf die Bi­schofs­städ­te be­schränkt. Die Mehr­zahl der Aus­sät­zi­gen leb­te in die­ser Zeit ver­mut­lich als so­ge­nann­te "Feld­sie­chen" in ein­fa­chen Hüt­ten au­ßer­halb der Sied­lun­gen oder sie zo­gen als Wan­der­bett­ler her­um.

Nach den Be­stim­mun­gen des Edic­tus Rotha­ri, ei­ner Ge­set­zes­samm­lung des lan­go­bar­di­schen Kö­nigs Rothar (636–652) aus dem Jah­re 643, galt der an Aus­satz Er­krank­te als tam­quam mor­tuus, al­so gleich­sam wie ein To­ter. Als Fol­ge die­ses recht­lich de­fi­nier­ten To­des wur­den die Be­trof­fe­nen aus der Rechts­ge­mein­schaft aus­ge­schlos­sen. Es war ih­nen nicht mehr ge­stat­tet, Be­sitz zu ver­wal­ten und Ver­käu­fe zu tä­ti­gen; zu­dem ver­lo­ren sie das Erbrecht und die Ge­richts­fä­hig­keit. Die Be­stim­mun­gen des Rothar-Edik­tes, die wohl auch in an­de­ren Rechts­krei­sen der ger­ma­ni­schen Welt Gül­tig­keit be­ses­sen ha­ben, mar­kie­ren den Be­ginn der ge­setz­lich fest­ge­leg­ten Iso­lie­rung der Le­pro­sen und ih­res recht­li­chen Sta­tus als "le­ben­de To­te".

 

3. Aufkommen und Verbreitung der Leprosorien

Erst im ho­hen Mit­tel­al­ter kam es zu ei­nem grund­le­gen­den Wan­del der Le­bens­um­stän­de von Le­pra­kran­ken und zur Aus­bil­dung von Le­pros­ori­en als ei­ner weit­ver­brei­te­ten und zu­neh­mend an­ge­se­he­nen In­sti­tu­ti­on. Ei­ne ent­schei­den­de Vor­aus­set­zung hier­für war das ei­ni­ger­ma­ßen ste­ti­ge Be­völ­ke­rungs­wachs­tum in Mit­tel­eu­ro­pa, das je nach Re­gi­on zwi­schen 850 und 1050 ein­setz­te und bis et­wa 1300 an­hielt. Die Ein­woh­ner­zah­len der Städ­te nah­men stark zu, gleich­zei­tig er­höh­te sich auch die An­zahl der Sied­lun­gen ins­ge­samt um ein Viel­fa­ches. Par­al­lel zur Be­völ­ke­rungs­ent­wick­lung dürf­te auch die Zahl der Le­pra­kran­ken ge­stie­gen sein; wahr­schein­lich ver­grö­ßer­te sich ihr An­teil an der Ge­samt­be­völ­ke­rung so­gar noch durch un­zu­rei­chen­de hy­gie­ni­sche Ver­hält­nis­se in den Städ­ten. Zur Un­ter­brin­gung und Ver­sor­gung der le­pra­kran­ken Bür­ger be­gan­nen des­halb vie­le Städ­te ab dem En­de des 12. Jahr­hun­derts mit dem Bau von Le­pros­ori­en vor ih­ren Mau­ern. Ent­schei­dend ge­för­dert wur­de die­se Ent­wick­lung durch Be­schlüs­se des drit­ten La­ter­an­kon­zils von 1179. Dem­nach soll­ten Le­pros­ori­en über ei­ge­ne Kir­chen, Fried­hö­fe und Seel­sor­ger ver­fü­gen  dies wa­ren die Grund­la­gen für ei­ne In­sti­tu­tio­na­li­sie­rung des Le­pro­sen­we­sens.

Nach dem La­ter­an­kon­zil kam es zu ei­nem re­gel­rech­ten 'Grün­dungs­boom' von Le­pro­sen­häu­sern; prä­zi­se Da­ten sind je­doch nicht über­lie­fert. Die äl­tes­ten Be­le­ge stam­men aus dem spä­ten 12. und dem frü­hen 13. Jahr­hun­dert: Köln (1180), Malme­dy (vor 1188) und Aa­chen (1230). Da sich die Erst­erwäh­nun­gen von rhei­ni­schen Le­pros­ori­en meist in Schen­kun­gen oder in Se­kun­där­be­le­gen wie bei­spiels­wei­se städ­ti­schen Rech­nun­gen fin­den, muss da­von aus­ge­gan­gen wer­den, dass vie­le Ein­rich­tun­gen be­reits lan­ge vor ih­rer ur­kund­li­chen Erst­erwäh­nung be­stan­den ha­ben.

Bis 1350 las­sen sich be­reits 19 Le­pros­ori­en nach­wei­sen, sie be­fin­den sich über­wie­gend in drei Re­gio­nen. So sind im Wes­ten und Süd­wes­ten der Rhein­lan­de mit Malme­dy (1188), Aa­chen (1230), Lu­xem­burg (1238), Vi­an­den (1261), zwei Le­pros­ori­en in Trier (bei­de 1283), Elvan­ge (1317) und Ech­ter­nach (1328) be­reits acht Ein­rich­tun­gen be­legt. Die­se Häu­fung ist wohl auf die Nä­he zu Frank­reich zu­rück­füh­ren, wo be­reits ab der Mit­te des 12. Jahr­hun­derts Le­pros­ori­en in gro­ßer Zahl do­ku­men­tiert sind. Die bei­den an­de­ren Ver­dich­tun­gen zei­gen sich ent­lang der bei­den wich­tigs­ten hoch­mit­tel­al­ter­li­chen Han­dels­we­ge: Am Rhein sind mit Köln (1180), Ko­blenz (1267), Lorch (1304), Bonn (1345) und Re­ma­gen (1347) fünf Le­pros­ori­en nach­ge­wie­sen, und auch am Hell­weg exis­tier­ten be­reits vier Ein­rich­tun­gen, näm­lich in Soest (1251), Dort­mund (1263), Es­sen (1322) und Werl (1330). Die an bei­den Ver­kehrs­ach­sen ge­le­ge­nen Städ­te hat­ten schon früh vom Fern­han­del pro­fi­tiert und ei­nen be­acht­li­chen wirt­schaft­li­chen Auf­schwung ge­nom­men. Sie er­füll­ten zwei Vor­aus­set­zun­gen, die zum Ent­ste­hen ei­nes Le­pro­so­ri­ums not­wen­dig wa­ren: Es gab hier ei­ne gro­ße Zahl von an Aus­satz er­krank­ten Bür­gern, die ei­ne ge­si­cher­te Un­ter­brin­gung und Ver­sor­gung be­nö­tig­ten. Die wohl­ha­ben­den Städ­te und ih­re Ein­woh­ner ver­füg­ten zu­dem über die nö­ti­gen Fi­nanz­mit­tel, um ein Le­pro­so­ri­um zu er­rich­ten und dau­er­haft zu er­hal­ten. Dies ge­schah durch Stif­tun­gen, Schen­kun­gen oder Spen­den. Ab­seits der drei ge­nann­ten Re­gio­nen be­fan­den sich die Le­pros­ori­en bei Ichen­dorf (zwi­schen 1196 und 1226) und Kai­sers­lau­tern (1348/49), auch sie la­gen an Fern­han­dels­rou­ten.

Darstellung eines Leprosen und eines Verkrüppelten vor einem Tor - Der Leprose hält eine dreiblättrige Klapper in der rechten und eine Schale in der linken Hand, er trägt einen breitkrempigen Hut, einen langen Mantel und Schuhe; die Lepraerkrankung wird auch durch Punkte im Gesicht, am Hals und an der Hand verdeutlicht, 12. Jahrhundert.

 

Ab 1350 be­stan­den Le­pros­ori­en dann in gro­ßer Zahl auch in an­de­ren kli­ma­tisch und ver­kehrs­geo­gra­phisch be­güns­tig­ten Re­gio­nen, vor al­lem ent­lang der Flüs­se. Hier hat­te sich be­reits im ho­hen Mit­tel­al­ter ein dich­tes Netz von Klein- und Mit­tel­städ­ten aus­ge­bil­det. Hin­ge­gen las­sen sich in den Hö­hen­la­gen von Huns­rück, Ei­fel, Wes­ter­wald, Sie­ger­land und Sau­er­land fast kei­ne Le­pros­ori­en nach­wei­sen. Das Feld­sie­chen­tum scheint in die­sen dörf­lich ge­präg­ten und nur dünn be­sie­del­ten Ge­bie­ten die üb­li­che Wei­se ge­we­sen zu sein, Aus­sät­zi­ge zu iso­lie­ren. Bis 1550 sind 63 Ein­rich­tun­gen in den Rhein­lan­den erst­mals ur­kund­lich be­legt. Hin­zu kom­men 78 Le­pros­ori­en, die erst nach 1551 in den Quel­len über­lie­fert sind so­wie noch 31 nicht da­tier­te be­zie­hungs­wei­se un­ge­si­cher­te Ein­rich­tun­gen.

4. Die Lepraschau

Be­stand der Ver­dacht ei­ner Le­pra-Er­kran­kung, konn­te ei­ne An­zei­ge hier­über – falls der Be­trof­fe­ne sich nicht selbst mel­de­te – von je­der­mann vor dem zu­stän­di­gen Gre­mi­um, ent­we­der dem Bür­ger­meis­ter oder dem Rat der Stadt oder so­gar di­rekt bei der Un­ter­su­chungs­kom­mis­si­on, er­stat­tet wer­den. In den meis­ten Fäl­len dürf­te die Mel­dung je­doch durch Ver­tre­ter be­stimm­ter Per­so­nen- oder Be­rufs­grup­pen vor­ge­nom­men wor­den sein, die bei Kennt­nis von Ver­dachts­mo­men­ten so­gar eid­lich zur An­zei­ge ver­pflich­tet wa­ren – hier­zu zähl­ten Ärz­te, Ba­der und Sche­rer. Zur end­gül­ti­gen Klä­rung der Fra­ge, ob mög­li­cher­wei­se ei­ne Le­pra-Er­kran­kung vor­lag, ord­ne­te das zu­stän­di­ge Gre­mi­um dann ei­ne of­fi­zi­el­le Le­pra­schau an.

Das ehemalige Trierer Leprosorium St. Jost - nahe bei dem heutigen Stadtteil Biewer an der Mosel gelegen. Im Vordergrund die Wohn- und Wirtschaftsgebäude, im Hintergrund die Kapelle, 2011, Foto: Martin Uhrmacher.

 

Die im spä­ten Mit­tel­al­ter und in der frü­hen Neu­zeit prak­ti­zier­te Le­pra­schau er­mög­lich­te bei ord­nungs­ge­mä­ßer Durch­füh­rung die Tren­nung der we­ni­gen wirk­li­chen Aus­sät­zi­gen von der Grup­pe der Le­pra­ver­däch­ti­gen; denn sie stütz­te sich auf ei­ne gan­ze Rei­he krank­heits­ty­pi­scher Sym­pto­me. Die für den Zeit­raum von 1491 bis 1664 über­lie­fer­ten Le­pra-Un­ter­su­chungs­pro­to­kol­le der Köl­ner Me­di­zi­ni­schen Fa­kul­tät  be­le­gen die in al­ler Re­gel sorg­fäl­tig und fach­kun­dig durch­ge­führ­te Be­se­hung: So wur­de bei 179 durch­ge­führ­ten und pro­to­kol­lier­ten Un­ter­su­chun­gen nur in zehn Fäl­len ei­ne Le­pra­er­kran­kung fest­ge­stellt.

Das in ei­nem be­sie­gel­ten Le­pra­schau-Brief fest­ge­leg­te Er­geb­nis der Un­ter­su­chung ent­schied dann über das wei­te­re Schick­sal der Pa­ti­en­ten. Drei Ur­teils­va­ri­an­ten wa­ren mög­lich: Mun­dus be­deu­te­te, dass kei­ne Le­pra fest­ge­stellt wor­den war, der Pa­ti­ent so­mit als 'rein' galt. Im­mun­dus et le­pro­sus be­zeich­ne­te den Pa­ti­en­ten als 'un­rein' und le­pra­krank, die so­for­ti­ge Ab­son­de­rung von den Ge­sun­den war die Fol­ge. Häu­fig wa­ren die Prü­fer je­doch auf­grund der schwie­ri­gen Dia­gno­se nicht in der La­ge, sich ab­schlie­ßend auf mun­dus oder im­mun­dus fest­zu­le­gen. In sol­chen Fäl­len wur­de ei­ne Nach­un­ter­su­chung des Pa­ti­en­ten an­ge­ord­net, bei der dann in al­ler Re­gel ein Ur­teil zu­stan­de kam.

Auf­grund der gro­ßen Be­deu­tung der Le­pra­schau für das Schick­sal der Aus­satz­ver­däch­ti­gen und we­gen des um­fang­rei­chen und kom­pli­zier­ten Dia­gno­se­sche­mas bil­de­ten sich im Spät­mit­tel­al­ter über­re­gio­na­le Un­ter­su­chungs­zen­tren her­aus, in de­nen ein mehr­köp­fi­ges Gre­mi­um, meist be­ste­hend aus den äl­tes­ten und er­fah­rens­ten Sie­chen des Le­pro­so­ri­ums, die Un­ter­su­chun­gen vor­nahm. In den Rhein­lan­den kam dem Köl­ner Sie­chen­haus Me­la­ten die zen­tra­le Be­deu­tung als Le­pra­schau­ort zu. Ab der Mit­te des 15. Jahr­hun­derts nahm dann auch die Me­di­zi­ni­sche Fa­kul­tät der Uni­ver­si­tät zu Köln sol­che Un­ter­su­chun­gen vor.

Für den Zeit­raum von 1491 bis 1664 sind die Pro­to­kol­le al­ler 179 hier vor­ge­nom­me­nen Un­ter­su­chun­gen über­lie­fert. Da­bei zei­gen die oft­mals weit von Köln ent­fernt ge­le­ge­nen Her­kunfts­or­te der Le­pra­ver­däch­ti­gen ein­drucks­voll, welch gro­ßes Pres­ti­ge die Fa­kul­tät als Ort der Le­pra­schau in den Rhein­lan­den und dar­über hin­aus ge­noss. Wie ein Blick auf die in der ne­ben­ste­hen­den Kar­te ver­zeich­ne­ten Her­kunfts­or­te ver­deut­licht, reich­te das Ein­zugs­ge­biet von Harps­tedt bei Bre­men im Nor­den über Ant­wer­pen im Wes­ten und bis nach Hei­del­berg im Süd­os­ten. Ein ähn­li­ches Bild zeigt die Kar­te auch bei der Lo­ka­li­sie­rung der Her­kunfts­or­te von Le­pra­ver­däch­ti­gen, für die als Un­ter­su­chungs­ort Köln-Me­la­ten vor­ge­se­hen war.

Lepraschau - Untersuchung eines Lepraverdächtigen durch drei Ärzte. Holzschnitt von Hans Wechtlin vom Beginn des 16. Jahrhunderts aus dem Feltbuch der Wundartzney von Hans von GERSTDORFF (fol. LXXIIr). Ein Arzt deute auf ein Geschwür am Kopf des Patienten und diskutiert mit seinem Kollegen. Der dritte Arzt betrachtet eine Urinprobe in einem Glaskolben. Ein Gehilfe am linken Bildrand ist mit dem Auswaschen des Blutkuchens in einer Schüssel beschäftigt, Beginn des 16. Jahrhundert. (bpk – Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte)

 

5. Lebensweise und soziale Stellung der Leprosen

Die so­zia­le Stel­lung der Le­pro­sen und ihr An­se­hen in der Ge­sell­schaft wur­den ma­ß­geb­lich durch die Ori­en­tie­rung an ei­ni­gen Bi­bel­stel­len zum "Aus­satz" be­stimmt. Da­bei ka­men vor al­lem zwei Ge­schich­ten zen­tra­le Be­deu­tung zu: der vom 'Dul­der' Hi­ob (Hi­ob 2,7), der trotz bös­ar­ti­ger Ge­schwü­re am gan­zen Kör­per im Glau­ben an Gott fest­hielt und des­halb von der Krank­heit er­löst wur­de, so­wie dem Gleich­nis vom 'rei­chen Pras­ser' und dem 'ar­men La­za­rus' (Lu­kas 16, 19-31), wo­nach der le­pra­kran­ke La­za­rus im Ge­gen­satz zum mit­leid­lo­sen Rei­chen al­le Lei­den be­reits zu Leb­zei­ten er­dul­de­te und nach dem Tod mit himm­li­schem Trost in Abra­hams Schoß be­lohnt wur­de. So­mit konn­ten die Le­pro­sen als von Gott Aus­er­wähl­te an­ge­se­hen wer­den, die durch das Er­lei­den der Krank­heit ih­re Sün­den be­reits zu Leb­zei­ten ver­bü­ß­ten und de­nen ei­ne himm­li­sche Er­lö­sung si­cher schien.

Das Einzugsgebiet des Lepraschau-Zentrums Köln. (Martin Uhrmacher)

 

Ne­ben die­ser po­si­ti­ven Be­wer­tung der Krank­heit konn­te man im Al­ten Tes­ta­ment je­doch auch Stüt­zen für die Auf­fas­sung fin­den, dass die Le­pra ei­ne Fol­ge von Sün­de und Aus­druck gött­li­cher Stra­fe sei: So be­kam Mi­ri­am Aus­satz, weil sie miss­ach­tend von ih­rem Bru­der Mo­ses ge­spro­chen hat­te (Nu­me­ri 12, 9-16), und bei Kö­nig Usi­ja zeig­te sich nach ei­ner Fre­vel­tat wäh­rend ei­ner Op­fer­hand­lung "Aus­satz auf der Stirn" (2 Kö­ni­ge 15, 5). Die­se ne­ga­ti­ve In­ter­pre­ta­ti­on der Le­pra­er­kran­kung als Stra­fe Got­tes war vor al­lem in der mit­tel­al­ter­li­chen Li­te­ra­tur ein be­lieb­tes und weit­ver­brei­te­tes Mo­tiv.

Der of­fen­kun­di­ge Ge­gen­satz zwi­schen zwei glei­cher­ma­ßen bib­lisch fun­dier­ten Sicht­wei­sen präg­te das Ver­hal­ten der Ge­sell­schaft den Le­pra­kran­ken ge­gen­über: Ei­ner­seits wur­den die Aus­sät­zi­gen mit dem Vor­ur­teil der durch sünd­haf­tes Le­ben selbst­ver­schul­de­ten Krank­heit kon­fron­tiert, an­de­rer­seits leb­ten sie in den Le­pros­ori­en als 'Aus­er­wähl­te Got­tes' in ei­ner klos­ter­ähn­li­chen, bru­der­schaft­lich ge­präg­ten Ge­mein­schaft, der in be­son­de­rem Ma­ße Stif­tun­gen und Al­mo­sen zu­ka­men. Ei­ner un­ge­recht­fer­tigt ein­sei­ti­gen Deu­tung der Krank­heit als selbst­ver­schul­de­te Stra­fe stand auch ei­ne ge­wis­se Furcht vor An­ste­ckung ge­gen­über, die zahl­rei­che Vor­schrif­ten zur Ver­mei­dung ei­nes zu en­gen Kon­takts mit den Kran­ken wi­der­spie­geln.

In der Diö­ze­se Trier gal­ten für die Le­pro­sen un­ter an­de­rem fol­gen­de Be­stim­mun­gen:

Sie durf­ten nicht mit Ge­sun­den, son­dern nur in Ge­mein­schaft mit Aus­sät­zi­gen es­sen und trin­ken. Kir­chen, Märk­te, Müh­len, Wirts­häu­ser, Back­öfen und Volks­ver­samm­lun­gen durf­ten nicht be­sucht wer­den. Ver­bo­ten wa­ren der Bei­schlaf, auch mit dem Ehe­part­ner, so­wie das Wa­schen an Quel­len und Bä­chen. Die Le­pro­sen muss­ten ei­ne spe­zi­el­le Tracht tra­gen, durf­ten Ge­län­der nur mit Hand­schu­hen und Ge­gen­stän­de beim Kauf nur mit ei­nem Stäb­chen be­rüh­ren. Zu­dem soll­ten sie beim Ge­spräch mit Ge­sun­den aus der Wind­rich­tung ge­hen und nicht ge­ra­den We­ges auf je­man­den zu­lau­fen.

Grund­sätz­lich dür­fen die Aus­sät­zi­gen nicht als ho­mo­ge­ne Grup­pe be­trach­tet wer­den, son­dern man muss zwi­schen den 'in­sti­tu­tio­na­li­sier­ten' Le­pro­sen, das hei­ßt den­je­ni­gen, die dau­er­haft Auf­nah­me in ei­nem Sie­chen­haus ge­fun­den hat­ten, und den va­gie­ren­den Le­pro­sen, die als Wan­der­bett­ler um­her­zo­gen, un­ter­schei­den. Da zum Ein­tritt in ein Le­pro­so­ri­um in der Re­gel ei­ne Pfrün­de  er­wor­ben wer­den muss­te, war es für ar­me oder mit­tel­lo­se Le­pra­kran­ke schwie­rig, ei­nen Platz in ei­nem Sie­chen­haus zu er­hal­ten, zu­mal die An­zahl der Pfründ­ner ge­wöhn­lich be­schränkt war und wohl­ha­ben­de Aus­sät­zi­ge be­vor­zugt auf­ge­nom­men wur­den. Falls ein Le­pro­se in der nä­he­ren Um­ge­bung sei­nes Hei­mat­or­tes kei­ne dau­er­haf­te Un­ter­kunft fand, war es für ihn fast un­mög­lich, in an­de­ren, wei­ter ent­fern­ten Le­pros­ori­en ei­nen Platz zu er­hal­ten, da die Städ­te bei der Zu­las­sungs­ent­schei­dung sehr streng zwi­schen Ein­hei­mi­schen und Frem­den dif­fe­ren­zier­ten. Da die Pfründ­ner ei­nes Sie­chen­hau­ses so­mit in der Re­gel aus der zu­ge­hö­ri­gen Stadt oder ih­rer un­mit­tel­ba­ren Um­ge­bung stamm­ten, konn­ten sie ih­re so­zia­len und fa­mi­liä­ren Kon­tak­te wei­ter­hin, wenn­gleich ein­ge­schränkt, auf­recht­er­hal­ten. Folg­lich ge­nos­sen sie auch ein viel hö­he­res So­zi­al­pres­ti­ge als va­gie­ren­de Sie­chen, die sich ih­ren Le­bens­un­ter­halt er­bet­teln muss­ten. Wie groß die Zahl der bet­telnd um­her­zie­hen­den Aus­sät­zi­gen wäh­rend des Mit­tel­al­ters und der frü­hen Neu­zeit war, lässt sich nicht be­stim­men. Um zu über­le­ben, wa­ren sie al­lein auf Al­mo­sen an­ge­wie­sen und auf­grund der feh­len­den Un­ter­kunft zu stän­di­gem Um­her­zie­hen ge­zwun­gen.

5.1 Kleidung

Bild­li­che Dar­stel­lun­gen und Be­klei­dungs­vor­schrif­ten in den Le­pro­sen­ord­nun­gen be­le­gen, dass sich spä­tes­tens seit dem 14. Jahr­hun­dert ei­ne cha­rak­te­ris­ti­sche Tracht der Le­pro­sen her­aus­ge­bil­det hat­te. In der Re­gel be­stand sie aus ei­nem lan­gen grau­en oder schwar­zen Man­tel, lan­gen Ho­sen, ei­nem breit­krem­pi­gen Hut, ähn­lich der Kopf­be­de­ckung von Pil­gern, aus Hand­schu­hen, Schuh­werk und ei­nem Warn­in­stru­ment, meis­tens ei­ner drei­tei­li­gen Le­pro­sen­klap­per. Er­gänzt wur­de die­se Aus­stat­tung in ei­ni­gen Fäl­len noch durch ei­ne Trink­fla­sche und ei­nen Zei­ge­stock. In Köln be­stand der Le­pro­sen­ha­bit aus Jop­pe, Knie­ho­se, ei­nem bis zu den Kni­en rei­chen­den wei­ten Man­tel, wei­ßen Hand­schu­hen, ei­nem gro­ßen Hut und der ob­li­ga­to­ri­schen Klap­per. Das so­ge­nann­te Köl­ner Le­pro­sen­männ­chen, ei­ne Sand­stein­plas­tik von 1629/1630, die aus der Köl­ner Le­pro­se­rie Me­la­ten stammt, zeigt die­se Klei­dungs­stü­cke.

6. Die Leprosorien – Typologie der Bauform und der inneren Organisation

Der Be­griff „Le­pro­so­ri­um“ be­zeich­net al­le Ein­rich­tun­gen, die spe­zi­ell zur Un­ter­brin­gung Le­pra­kran­ker ge­dient ha­ben. Bei nä­he­rer Be­trach­tung zeigt sich je­doch, dass die Le­pros­ori­en in Grö­ße und Aus­stat­tung stark va­ri­ier­ten. Von der ein­fa­chen Hüt­te ei­nes Feld­sie­chen reicht das Spek­trum bis zu klos­ter­ähn­li­chen, wirt­schaft­li­chen Groß­be­trie­ben mit Ver­wal­tern und Dienst­per­so­nal, ei­ner ei­ge­nen Ka­pel­le und ei­nem mit­un­ter be­acht­li­chen Ver­mö­gen. Trotz die­ser fun­da­men­ta­len Un­ter­schie­de las­sen sich ei­ni­ge für ein Le­pro­so­ri­um cha­rak­te­ris­ti­sche Merk­ma­le de­fi­nie­ren.

Der Reiche und der arme Lazarus. - Darstellung nach Lk 16, 19–31, Echternacher Evangeliar aus dem 10. Jh. Der Reiche sitzt mit seiner Frau und einem Sohn im Haus am reich gedeckten Tisch, ein Diener bringt gerade eine weitere Schüssel mit Speisen herein. Am rechten Rand des Bildes hockt Lazarus vor der offenen Tür des Hauses und hebt bittend die rechte Hand; die Geschwüre an seinen Füßen werden dabei gemäß der biblischen Vorlage von den Hunden des Reichen geleckt. Der Körper des nur mit einem leichten Hemd bekleideten Lazarus – sein Name steht in senkrechter Schrift über seinem Kopf – ist ähnlich wie bei den Hiob-Darstellungen mit dreieckig gemalten Geschwüren überdeckt, die keine spezifischen Krankheitssymptome wiedergeben; Künstler: Meister des Codex Aureus Epternacencis - Buchmalerei, Schule von Reichenau unter Abt Humbert von Echternach (1028-1051).

 

An ers­ter Stel­le sind die ty­pi­schen Stand­ort­fak­to­ren zu nen­nen. So be­fan­den sich Le­pros­ori­en stets vor den To­ren der zu­ge­hö­ri­gen Stadt oder Ort­schaft, meist in ei­ner Ent­fer­nung von ma­xi­mal fünf Ki­lo­me­tern. Da die Ein­rich­tun­gen ei­nen be­deu­ten­den Teil ih­rer Ein­nah­men aus Al­mo­sen be­strit­ten, war es wich­tig, dass sie di­rekt an den wich­tigs­ten Zu­fahrts­stra­ßen la­gen, be­son­ders häu­fig an Kreu­zun­gen und Weg­ga­be­lun­gen. Hier war der Durch­gangs­ver­kehr von Händ­lern, Rei­sen­den und Pil­gern am grö­ß­ten und die Ein­nah­men aus den an der Stra­ße auf­ge­stell­ten Al­mo­sen­käs­ten und Op­fer­stö­cken wa­ren am höchs­ten. Auch die Nä­he zu ei­nem flie­ßen­den Ge­wäs­ser war wich­tig, um ei­ne aus­rei­chen­de Was­ser­ver­sor­gung des Le­pro­so­ri­ums zu ge­währ­leis­ten. Was­ser spiel­te über­dies ei­ne wich­ti­ge Rol­le für die Be­hand­lung der Kran­ken.

Ne­ben den ge­trenn­ten Wohn­stät­ten der Aus­sät­zi­gen und ih­rer Pfle­ge- und Hilfs­kräf­te konn­te ein Le­pro­so­ri­um noch wei­te­re Ge­bäu­de um­fas­sen. Nach den Be­schlüs­sen des drit­ten La­ter­an­kon­zils von 1179 soll­te je­des Le­pro­so­ri­um über ei­ne Ka­pel­le mit Fried­hof ver­fü­gen. Die Um­set­zung die­ser Vor­schrift hing je­doch von der Fi­nanz­kraft der zu­ge­hö­ri­gen Stadt und ih­rer Be­woh­ner ab. Ei­ge­ne Ka­pel­len be­sa­ßen des­halb nur die Le­pros­ori­en re­la­tiv gro­ßer, fi­nanz­kräf­ti­ger Städ­te wie Köln, Aa­chen, Bonn, Es­sen, Dort­mund, We­sel, Trier und Lu­xem­burg. Klei­ne­re Ein­rich­tun­gen ver­füg­ten mit­un­ter le­dig­lich über ei­nen Ka­pel­len­raum im Le­pro­sen­haus. Falls den Le­pro­sen kei­ne Ka­pel­le zur Ver­fü­gung stand, muss­ten sie ei­ne Kir­che mit ei­nem so­ge­nann­ten „Ha­gio­skop“ auf­su­chen. Da­bei han­del­te es sich um ei­nen Durch­bruch in ei­ner Kir­chen­mau­er, ähn­lich ei­nem Fens­ter­schlitz, der den Aus­sät­zi­gen trotz des Ver­bots, ei­ne Kir­che zu be­tre­ten, ei­ne Teil­nah­me am Got­tes­dienst er­mög­lich­te. Auf dem Le­pro­sen­hof konn­ten sich zu­dem je nach der Grö­ße des land­wirt­schaft­li­chen Be­sit­zes  noch Scheu­nen, Stäl­le und Schup­pen be­fin­den. Das ge­sam­te Ge­bäu­de­en­sem­ble war schlie­ß­lich mit ei­ner Mau­er, ei­nem Gra­ben oder ei­nem Ge­bück um­schlos­sen.

Die Trierer Leprosorien Estrich und St. Jost - Die Karte zeigt exemplarisch die typische Lage von Leprosorien an Hauptstraßen im städtischen Umland. Hier befinden sich beide Leprosorien exponiert an Engstellen zwischen Moselufer und Berghängen. Reisende und Passanten mussten die Einrichtung mit ihren Opferstöcken und repräsentativen Kapellen ganz nah passieren.

 

6.1 Innere Organisation

Die Ver­wal­tung des Le­pro­so­ri­ums wur­de meist von den in ei­ner Bru­der­schaft zu­sam­men­ge­schlos­se­nen Be­woh­nern selbst or­ga­ni­siert. Ei­ne sol­che Le­pro­sen­bru­der­schaft war al­so ei­ne Ge­mein­schaft von Lai­en, die sich durch ei­ne klos­ter­ähn­li­che Le­bens­wei­se aus­zeich­ne­te und ei­nen fest­ge­leg­ten Bru­der­schafts­zweck ver­folg­te. Cha­rak­te­ris­ti­sche Kenn­zei­chen ei­ner sol­chen Bru­der­schaft wa­ren die in münd­li­cher oder schrift­li­cher Form tra­dier­ten Sta­tu­ten der Ge­mein­schaft, re­gel­mä­ßi­ge ge­mein­sa­me Mahl­zei­ten und ge­mein­schaft­li­che re­li­giö­se Ver­rich­tun­gen in der Le­pro­sen­ka­pel­le. Dar­über hin­aus stell­te das ge­nos­sen­schaft­li­che Ele­ment ei­ne wich­ti­ge Grund­la­ge je­der Le­pro­sen­bru­der­schaft dar. So wur­de das durch Pfrün­den­gel­der, Spen­den, Ver­mächt­nis­se und sons­ti­ge Ein­künf­te er­wach­se­ne Ver­mö­gen der Ge­mein­schaft in der Re­gel selbst ver­wal­tet.

Trotz die­ser weit­ge­hen­den Au­to­no­mie der Le­pros­ori­en lag die Ober­auf­sicht üb­li­cher­wei­se in den Hän­den von Pro­vi­so­ren. Sie stamm­ten aus der städ­ti­schen Füh­rungs­schicht und wur­den vom Rat er­nannt. Nach au­ßen führ­ten sie al­le wich­ti­gen Ge­schäf­te des Hau­ses, über­prüf­ten die Fi­nanz­ver­wal­tung, ent­schie­den über die Auf­nah­me oder den Aus­schluss ei­nes Aus­sät­zi­gen, er­nann­ten die Be­diens­te­ten und ver­tra­ten die Le­pro­sen in recht­li­chen und wirt­schaft­li­chen An­ge­le­gen­hei­ten. Bei grö­ße­ren Le­pro­sen­häu­sern ist häu­fig auch ein fest an­ge­stell­ter, nicht le­pra­kran­ker Ver­wal­ter, der so­ge­nann­te "Schel­lenk­necht", be­legt, der für die Le­pro­sen Al­mo­sen sam­mel­te. Sein Na­me lei­tet sich von der Sie­chen­klap­per oder der Schel­le ab, mit der er sein Kom­men an­kün­dig­te. Nur aus den be­deu­tends­ten Le­pros­ori­en sind schrift­lich fi­xier­te Sta­tu­ten über­lie­fert; ei­ni­ge wa­ren zu­dem Haupt­sitz ei­ner über­re­gio­na­len Le­pro­sen­bru­der­schaft.

6.2 Statuten

In den Rhein­lan­den sind ins­ge­samt neun Sta­tu­ten von sie­ben Le­pros­ori­en über­lie­fert; für die Le­pro­sen­häu­ser in Soest-zur Mar­be­ke und Trier-St. Jost lie­gen je­weils zwei Sta­tu­ten vor. Man kann sie als ei­ne Samm­lung von Vor­schrif­ten be­schrei­ben, die das Zu­sam­men­le­ben der Be­woh­ner, ih­re Kon­tak­te mit der Au­ßen­welt und die recht­li­che Stel­lung der Ein­rich­tung re­gel­ten. Sie spie­geln vie­le Le­bens­um­stän­de in den be­tref­fen­den Le­pros­ori­en wi­der und bie­ten Ein­bli­cke in die ad­mi­nis­tra­ti­ven Struk­tu­ren der Ein­rich­tung, in das nor­ma­ti­ve Ide­al­bild ge­mein­schaft­li­chen Zu­sam­men­le­bens so­wie in den All­tag der Be­woh­ner.

Leprosorium der Stadt Wesel - Die Abbildung zeigt das vor der Stadt Wesel an der Ecke Reeser/Hamminkelner Landstraße gelegene Leprosorium. Das Gelände des Anwesens besteht aus vier voneinander abgegrenzten Parzellen; es ist zur Straße hin mit einer Mauer umgeben. Im Zentrum der Anlage steht die Kapelle. Rechts von der Kapelle befindet sich eine Parzelle, die als 'Melaten vor Wesel' bzw. 'Leprosen vor weesel' bezeichnet ist. Darin liegt ein repräsentatives zweigeschossiges Haus mit einem gotischen Treppengiebel und einem großen Kamin, das Wohnhaus der Leprosen, 17. Jahrhundert. (Landesarchiv NRW)

 

Die Sta­tu­ten ent­hal­ten je­doch kei­ne grund­le­gen­de Ord­nung der Le­bens­um­stän­de in den rhei­ni­schen Le­pros­ori­en. Sie sind viel­mehr als er­gän­zen­de Re­ge­lun­gen zu be­trach­ten, als Re­ak­tio­nen auf kon­kre­te Vor­fäl­le aus der Pra­xis oder auch als Spie­gel­bild sich ab­zeich­nen­der Wand­lungs­pro­zes­se. Ge­ra­de in die­ser Hin­sicht er­mög­li­chen die Sta­tu­ten ei­nen Blick auf das all­täg­li­che Le­ben in den Le­pros­ori­en, das sich oft­mals doch deut­lich von dem weit­ver­brei­te­ten Bild un­ter­schied, das die über­lie­fer­ten Nor­men des Le­pro­sen­rechts sug­ge­rie­ren und das in der Li­te­ra­tur viel­fach pla­ka­tiv ge­zeich­net wird: le­bens­lan­ge voll­kom­me­ne Iso­la­ti­on und strengs­te Re­gle­men­tie­rung des All­tags als "le­ben­de To­te". Dass die­ses Bild in vie­len Be­rei­chen nicht der Rea­li­tät ent­sprach, zei­gen die an der Pra­xis ori­en­tier­ten Nor­men der Le­pros­ori­en­sta­tu­ten. Sie wer­fen un­ter an­de­rem ein neu­es Licht auf den ho­hen Grad an Selbst­ver­wal­tung durch die Le­pro­sen­bru­der­schaft und ei­ne in der Pra­xis of­fen­bar we­nig stren­ge Iso­la­ti­on der Be­woh­ner.

6.3 Siegel

Mehr noch als al­le bis­her ge­nann­ten Kri­te­ri­en sym­bo­li­siert die Exis­tenz ei­nes Sie­gels Grö­ße, Be­deu­tung und An­se­hen so­wie ei­nen ho­hen Grad von Selbst­ver­wal­tung ei­nes Le­pro­so­ri­ums. Aus die­sem Grund ver­wun­dert es nicht, dass von den rhei­ni­schen Sie­chen­häu­sern nur die­je­ni­gen in Aa­chen, Köln-Me­la­ten und Trier-St. Jost ei­ge­ne Sie­gel führ­ten; bei den an­de­ren Le­pros­ori­en be­dien­te man sich wohl frem­der Sie­gel, die den städ­ti­schen Pro­vi­so­ren oder den Geist­li­chen der Le­pro­sen­ka­pel­le zur Ver­fü­gung stan­den. Das Aa­che­ner Sie­gel ist nur ein­mal, an ei­ner Ur­kun­de von 1422 hän­gend, in sehr schlech­tem Zu­stand er­hal­ten. Es zeigt den hei­li­gen Ge­org als Rit­ter mit Schwert und Schild.

Das Sie­gel des Trie­rer Le­pro­so­ri­ums St. Jost ist nicht im Ori­gi­nal er­hal­ten, es wird je­doch in den Sta­tu­ten vom 28.8.1448 an­ge­kün­digt. Aus dem Text­zu­sam­men­hang geht deut­lich her­vor, dass das Le­pro­so­ri­um ein ei­ge­nes Sie­gel be­saß, das von den Pro­vi­so­ren oder der In­sas­sen­bru­der­schaft ge­führt wur­de. Da­ge­gen sind vom Köl­ner Le­pro­so­ri­um Me­la­ten seit der ers­ten Hälf­te des 13. Jahr­hun­derts meh­re­re ver­schie­de­ne Sie­gel­ty­pen er­hal­ten. Erst­mals er­wähnt wird das Me­la­te­ner Sie­gel in ei­ner Ur­kun­de von 1227, das äl­tes­te über­lie­fer­te Sie­gel hängt an ei­ner Ur­kun­de von 1242, be­son­ders gut er­hal­ten ist es an ei­ner Ur­kun­de von 1249.

Dar­ge­stellt wird der ers­te Teil der Ge­schich­te vom rei­chen Pras­ser und dem ar­men La­za­rus nach Lu­kas 16, 19-21, die für das Selbst­ver­ständ­nis der Aus­sät­zi­gen von zen­tra­ler Be­deu­tung war. Auf der rech­ten Sei­te sitzt der als DI­VES ge­kenn­zeich­ne­te rei­che Pras­ser an ei­nem üp­pig ge­deck­ten Tisch in ei­nem sche­ma­ti­siert dar­ge­stell­ten Haus. Links vor der Tür steht der nur halb be­klei­de­te LA­ZA­RUS mit ei­nem um­ge­häng­ten Beu­tel und auf ei­nen Krück­stock ge­stützt. Die rech­te Hand hat er bit­tend zum Rei­chen er­ho­ben, doch die­ser weist ihn mit eben­falls er­ho­be­ner Hand ab. Dem Text des Evan­ge­li­ums ent­spre­chend hat der Sie­gel­schnei­der auch ei­nen Hund dar­ge­stellt, der die Ge­schwü­re an den Bei­nen des La­za­rus leckt. Als Zei­chen der be­vor­ste­hen­den Er­lö­sung er­scheint über dem Aus­sät­zi­gen die seg­nen­de Hand Got­tes. Die Um­schrift des Sie­gels lau­tet: SI­GIL­LUM LE­PRO­SORUM CO­LO­NIEN­I­SI­UM, wo­bei das über­zäh­li­ge I auf man­geln­de La­tein­kennt­nis­se des Sie­gel­schnei­ders ver­weist. Von be­son­de­rer Be­deu­tung ist die mit 87 mm Durch­mes­ser au­ßer­ge­wöhn­li­che Grö­ße des Sie­gels, wel­ches das For­mat der meis­ten Stadt­sie­gel im Rhein­land deut­lich über­trifft und so­mit nicht nur die her­aus­ra­gen­de Stel­lung Me­la­tens un­ter den rhei­ni­schen Le­pros­ori­en un­ter­streicht, son­dern auch die Wirt­schafts­kraft und das Selbst­ver­ständ­nis der Ein­rich­tung wi­der­spie­gelt.

6.4 Leprosorien als städtische Repräsentationsobjekte

Um­fang und Aus­stat­tung ei­nes Le­pro­so­ri­ums wa­ren di­rekt von der Grö­ße und Be­deu­tung der zu­ge­hö­ri­gen Stadt ab­hän­gig. Auf­grund ih­rer be­son­ders pro­mi­nent und ex­po­niert aus­ge­wähl­ten Stand­or­te an Kreu­zun­gen, Brü­cken und Haupt­aus­fall­stra­ßen gal­ten sie als prä­sen­te und das städ­ti­sche Um­land prä­gen­de kom­mu­na­le Ein­rich­tun­gen, die ein fes­ter Be­stand­teil der städ­ti­schen Le­bens­welt wa­ren. Sie dien­ten nicht da­zu, ih­re Be­woh­ner zu ver­ste­cken, son­dern wa­ren viel­mehr mit Stif­tun­gen und Spen­den ver­se­he­ne städ­ti­sche Ein­rich­tun­gen, die vom Rat und den Bür­gern auch als Pres­ti­ge­ob­jek­te be­trach­tet wur­den. Dies zeigt sich in der re­prä­sen­ta­ti­ven bau­li­chen Ge­stal­tung vie­ler Ka­pel­len und Wohn­häu­ser rhei­ni­scher Le­pros­ori­en, der An­brin­gung städ­ti­scher Wap­pen und nicht zu­letzt auch der für die grö­ß­ten Ein­rich­tun­gen über­lie­fer­ten Sie­gel­füh­rung. 

7. Der Rückgang der Lepra und das Ende der rheinischen Leprosorien

Im 13. und 14. Jahr­hun­dert hat­te die Le­pra­durch­seu­chung der Be­völ­ke­rung in Mit­tel­eu­ro­pa wahr­schein­lich ih­ren Hö­he­punkt er­reicht. Ein all­mäh­li­cher Rück­gang der Le­pra setz­te dann ab der zwei­ten Hälf­te des 14. Jahr­hun­derts ein; er führ­te schlie­ß­lich über ei­nen Zeit­raum von meh­re­ren Jahr­hun­der­ten zum Ver­schwin­den der Krank­heit. Die Ur­sa­chen hier­für sind nicht ein­deu­tig zu be­stim­men. In­fol­ge der schlech­ten Quel­len­la­ge ist der Rück­gang zu­dem nur durch In­di­zi­en punk­tu­ell greif­bar, da nur we­ni­ge ver­ein­zel­te In­sas­sen­zah­len von Le­pros­ori­en über­lie­fert sind. Spä­tes­tens ab der Mit­te des 17. Jahr­hun­derts war die Le­pra in Mit­tel­eu­ro­pa weit­ge­hend zu­rück­ge­drängt; sie blieb je­doch in ge­rin­gem Ma­ße bis zum En­de des Jahr­hun­derts und ver­ein­zelt so­gar noch in den ers­ten De­ka­den des 18. Jahr­hun­derts nach­weis­bar, be­vor sie voll­kom­men ver­schwand. Die­se Ent­wick­lung lässt sich für die Rhein­lan­de we­nigs­tens als Ten­denz an­hand der in Ab­hän­gig­keit vom Be­darf ver­rin­ger­ten Ak­ti­vi­tät des Le­pra­schau­zen­trums der Me­di­zi­ni­schen Fa­kul­tät der Uni­ver­si­tät zu Köln nach­wei­sen. So sind hier im Zeit­raum zwi­schen 1491 und 1580 173 Un­ter­su­chun­gen durch­ge­führt wor­den (= 96,7 Pro­zent der ins­ge­samt 179 be­leg­ten Pro­to­kol­le), wäh­rend auf die Jah­re 1581 bis 1664 le­dig­lich noch sechs der über­lie­fer­ten Pro­to­kol­le (= 3,3 Pro­zent) ent­fal­len.

Die Statuten des Trierer Leprosoriums St. Jost von 1464 - Das Schaubild visualisiert am Beispiel des Trierer Leprosoriums St. Jost die in den Statuten enthaltenen Angaben und verdeutlicht in vereinfachter Form die Zusammenhänge. Die Graphik zeigt somit eine Momentaufnahme der Verfassung eines Leprosoriums.

 

Die rück­läu­fi­gen Kran­ken­zah­len be­wirk­ten seit dem 15. Jahr­hun­dert ei­nen grund­sätz­li­chen Wan­del in der Or­ga­ni­sa­ti­ons­form und Fi­nanz­si­tua­ti­on der Le­pros­ori­en. Es zeich­ne­te sich bei ih­nen, ähn­lich wie bei den Hos­pi­tä­lern, ei­ne ver­stärk­te Aus­bil­dung des Pfrün­den­we­sens ab, wo­durch das Prin­zip der un­ent­gelt­li­chen Auf­nah­me von Hilfs­be­dürf­ti­gen zu­neh­mend dem Prin­zip der Ent­gelt­lich­keit für die Leis­tun­gen der Spi­tal­pfle­ge wich. Die­ser Wan­del re­sul­tier­te nicht zu­letzt aus dem Be­stre­ben der Für­sor­ge­ein­rich­tun­gen be­zie­hungs­wei­se ih­rer Pro­vi­so­ren, zur Be­stands­si­che­rung neue Ein­nah­me­quel­len zu er­schlie­ßen. Ne­ben Le­pra­kran­ken wur­den nun – zu­nächst nur zö­ger­lich und un­ter be­stimm­ten Be­din­gun­gen – auch ge­sun­de Pfründ­ner in das Le­pro­so­ri­um auf­ge­nom­men. In Köln stamm­te der äl­tes­te über­lie­fer­te Pfründ­ver­trag Nicht-Le­pra­kran­ker mit dem Le­pro­so­ri­um Me­la­ten be­reits aus dem Jah­re 1428. Al­ler­dings er­hiel­ten die Pfründ­ner, ein Köl­ner Ehe­paar, ei­ne Woh­nung in der Stadt, sie wa­ren folg­lich nicht dem di­rek­ten Kon­takt mit Sie­chen aus­ge­setzt.

Ab dem En­de des 16. Jahr­hun­derts führ­te der fort­schrei­ten­de Rück­gang der Le­pra­er­kran­kun­gen ver­stärkt zur Un­ter­be­le­gung und in­fol­ge­des­sen zum Ver­fall, zur Auf­lö­sung oder zur Zweck­ent­frem­dung von Le­pros­ori­en. Die Ein­künf­te, Ren­ten und Stif­tun­gen der Ein­rich­tun­gen fie­len dann meist Hos­pi­tä­lern oder an­de­ren so­zia­len Ein­rich­tun­gen zu.

7.1 Ein spektakulärer Prozess als Auslöser für die Schließung von Leprosorien

Die für vie­le rhei­ni­sche Le­pros­ori­en be­leg­te Schlie­ßung und Zer­stö­rung zwi­schen 1712 und 1719 er­folg­te in ur­säch­li­chem Zu­sam­men­hang mit dem Pro­zess ge­gen die Mit­glie­der der so­ge­nann­ten "Gro­ßen Sie­chen­ban­de" in den Jah­ren 1710 bis 1712. Am En­de ei­nes lang­wie­ri­gen und auf­se­hen­er­re­gen­den Ver­fah­rens, das die Le­pros­ori­en des Her­zog­tums Jü­lich-Berg in das Blick­feld der Jus­tiz ge­rückt hat­te, konn­ten den Mit­glie­dern der Räu­ber­ban­de ins­ge­samt 18 Mor­de und Mord­ver­su­che, Raub­de­lik­te so­wie wei­te­re Straf­ta­ten wie Heh­le­rei, Un­ter­schla­gung, Ehe­bruch, Pro­sti­tu­ti­on, In­zest und Kinds­mord nach­ge­wie­sen wer­den, die seit 1698 ver­übt wor­den wa­ren.

Im Zu­ge der Er­mitt­lun­gen zeig­te sich, dass ein be­sie­gel­ter Le­pra­schau­brief kei­nes­wegs mehr als Be­leg für ei­ne ord­nungs­ge­mä­ße und fach­kun­di­ge Un­ter­su­chung durch ein Un­ter­su­chungs­gre­mi­um aus ver­ei­dig­ten Spe­zia­lis­ten an­ge­se­hen wer­den konn­te. Ob­wohl al­le ver­meint­li­chen Sie­chen der von der Un­ter­su­chung be­trof­fe­nen Le­pros­ori­en über ei­nen Schau­brief ver­füg­ten, stell­te sich schon bald her­aus, dass kein Mit­glied der Sie­chen­ban­de tat­säch­lich an Le­pra er­krankt war; viel­mehr hat­ten sich die­se des fal­schen Sie­chen-Man­tels und der fal­schen Sie­chen-Klap­pern be­die­net, al­so die cha­rak­te­ris­ti­sche Le­pro­sen­tracht imi­tiert. Of­fen­bar gab es we­gen kaum noch auf­tre­ten­der Neu­er­kran­kun­gen schon lan­ge kei­ne of­fi­zi­el­le Un­ter­su­chungs­kom­mis­si­on mehr, was da­zu ge­führt hat­te, dass der Küs­ter des Köl­ner Sie­chen­hau­ses Me­la­ten in al­lei­ni­ger Ver­ant­wor­tung und oh­ne je­de ärzt­li­che Kon­trol­le be­sie­gel­te Le­pra­schau­brie­fe aus­stel­len konn­te. Der zu­dem mit ei­ni­gen Ban­den­mit­glie­dern ver­wand­te Küs­ter nutz­te die sich bie­ten­de Chan­ce und ver­kauf­te Le­pra­schau­brie­fe an Mit­glie­der der Sie­chen­ban­de und an Per­so­nen aus de­ren Um­feld.

Der Er­werb ei­nes Sie­chen­brie­fes stell­te für vie­le Bett­ler, De­ser­teu­re, Die­be und Gau­ner ei­ne loh­nen­de In­ves­ti­ti­on dar: reiz­voll war die vor­städ­ti­sche La­ge der Le­pros­ori­en bei gleich­zei­ti­ger Nä­he zu Haupt­ver­kehrs­stra­ßen, ei­ne ge­wis­se Furcht der Be­völ­ke­rung vor An­ste­ckung, die vie­le von den Häu­sern fern­hielt, und vor al­lem das Recht, sich mit ei­nem Schau­brief über­all aus­wei­sen und gleich­zei­tig in je­dem Sie­chen­haus ein Ob­dach er­hal­ten zu kön­nen. Auf­grund die­ser Vor­aus­set­zun­gen konn­te sich ein re­gel­rech­tes Netz­werk von ehe­ma­li­gen Le­pros­ori­en aus­bil­den, in de­nen gan­ze Gau­ner­fa­mi­li­en leb­ten, die un­ter­ein­an­der in en­gem Kon­takt stan­den und ge­mein­sam Ver­bre­chen ver­üb­ten. Die Ban­de hat­te dem­nach die trotz des star­ken Rück­gangs der Le­pra­er­kran­kun­gen vie­ler­orts im­mer noch in­tak­te In­fra­struk­tur der Le­pros­ori­en ge­nutzt und mit ei­nem ei­ge­nen Be­zie­hungs­ge­flecht über­la­gert.

Nach der 1712 voll­streck­ten Hin­rich­tung der meis­ten Ban­den­mit­glie­der ord­ne­te Kur­fürst  Jo­hann Wil­helm un­ver­züg­lich die Auf­he­bung und Zer­stö­rung al­ler Le­pros­ori­en in den Her­zog­tü­mern Jü­lich und Berg an. Dar­über hin­aus ließ der Kur­fürst ei­nen de­tail­lier­ten Be­richt des Sach­ver­hal­tes aus den Kri­mi­nal­ak­ten dru­cken, den er an be­nach­bar­te Lan­des­her­ren schick­te. Dar­in for­der­te er die­se aus­drück­lich zur all­ge­mei­nen Auf­he­bung der Sie­chen­häu­ser auf. Die­ser Auf­ruf führ­te je­doch of­fen­bar zu kei­nen di­rek­ten Re­ak­tio­nen; denn vie­le Le­pros­ori­en be­stan­den wei­ter, man­che wur­den erst vie­le Jahr­zehn­te spä­ter end­gül­tig auf­ge­ho­ben. Al­lein in Kur­k­öln folg­te man dem Bei­spiel von Jü­lich-Berg.

Auch das En­de des ehe­mals grö­ß­ten und be­deu­tends­ten Le­pro­so­ri­ums der Rhein­lan­de in Köln-Me­la­ten war ei­ne Fol­ge des Pro­zes­ses; denn nach ei­ner 1712 vom Rat der Stadt Köln durch­ge­führ­ten Un­ter­su­chung, in de­ren Ver­lauf sich her­aus­stell­te, dass le­dig­lich ei­ne Be­woh­ne­rin von Me­la­ten leich­te Le­pra­sym­pto­me auf­wies, war das En­de der Ein­rich­tung nach über 500-jäh­ri­gem Be­ste­hen end­gül­tig be­sie­gelt.

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Lepra-Untersuchungen an der Medizinischen Fakultaet der Universität zu Köln von 1491 bis 1670. - Im Zeitraum zwischen 1491 und 1664 wurden hier 179 Lepra-Untersuchungen durchgeführt und protokolliert. Der Rückgang der Lepraverdachtsfälle lässt sich an der zeitlichen Verteilung der Untersuchungen gut ablesen.

 
Zitationshinweis

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Uhrmacher, Martin, Lepra und Leprosorien in den Rheinlanden, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/lepra-und-leprosorien-in-den-rheinlanden/DE-2086/lido/57d11f7d7901b1.00768832 (abgerufen am 19.03.2024)