Christina von Stommeln

Mystikerin (1242-1312)

Anja Ostrowitzki (Bonn)

Rekonstruktiv des Gesichts der Christina anhand des Schädelknochens, 2012. (Museum Zitadelle Jülich)

Chris­ti­na von Stom­meln war ei­ne Be­gi­ne, der mys­ti­sche Er­leb­nis­se zu­ge­schrie­ben wur­den, so dass sie in den Ruf der Hei­lig­keit ge­lang­te und im Ge­biet des Her­zog­tums Jü­lich so­wie im Erz­bis­tum Köln kul­tisch ver­ehrt wur­de.

Über die Le­bens­ge­schich­te der Be­gi­ne Chris­ti­na, die nach ih­rem Ge­burts­ort Stom­meln, heu­te ein Orts­teil von Pul­heim, be­nannt wird, ist für ei­ne Frau bäu­er­li­cher Her­kunft und da­ma­li­ge Ver­hält­nis­se au­ßer­ge­wöhn­lich viel über­lie­fert. Der so­ge­nann­te Co­dex Iu­li­a­cen­sis, ei­ne spät­mit­tel­al­ter­li­che Hand­schrift, die heu­te im Aa­che­ner Diö­ze­san­ar­chiv liegt, ent­hält li­te­ra­ri­sche Dar­stel­lun­gen ih­res Le­bens und ei­ne Samm­lung von Brie­fen. Die­se la­tei­ni­schen ­Tex­te ge­hen haupt­säch­lich auf den ge­lehr­ten Do­mi­ni­ka­ner Pe­trus von Da­ci­en (um 1235-1289) zu­rück, der aus Got­land stamm­te und als ers­ter li­te­ra­ri­scher Au­tor Schwe­dens gilt. Wäh­rend sei­nes Auf­ent­halts am Stu­di­um Ge­ne­ra­le des Or­dens in Köln hat­te er Chris­ti­na ken­nen­ge­lernt. Pe­trus er­kann­te in der from­men Frau ei­ne Mys­ti­ke­rin und des­we­gen ver­eh­rungs­wür­di­ge Hei­li­ge. Von die­sem Stand­punkt aus ge­stal­te­te er das Bild ih­rer Per­sön­lich­keit in sei­nen Schrif­ten. Dort ist zu le­sen, dass Chris­ti­na re­li­giö­se Ent­rü­ckungs­zu­stän­de er­lebt, Chris­tus­vi­sio­nen er­fah­ren und am Kör­per die Wund­ma­le Chris­ti ge­tra­gen ha­be. Vor al­lem aber be­rich­ten die im Co­dex Iu­li­a­cen­sis über­lie­fer­ten Tex­te breit und in vie­len ab­sto­ßen­den Ein­zel­hei­ten von aber­tau­sen­den Teu­feln und Dä­mo­nen, die Chris­ti­na be­stän­dig ge­quält hät­ten. Die His­to­rio­gra­phie steht un­ter an­de­rem vor der Schwie­rig­keit, dass von Chris­ti­na kei­ner­lei Selbst­zeug­nis er­hal­ten ist. Es ist da­her fast un­mög­lich, die his­to­ri­sche Per­son Chris­ti­na und de­ren re­li­giö­ses Er­le­ben über­haupt von der durch die ha­gio­gra­phi­schen Schrif­ten des Pe­trus und an­de­rer Ver­fas­ser ge­form­ten li­te­ra­ri­schen Ge­stalt zu un­ter­schei­den und zu be­ur­tei­len.

 

Chris­ti­nas Ge­burts­jahr er­rech­net sich aus der An­ga­be der Vi­ta, dass sie 1312 im Al­ter von 70 Jah­ren ge­stor­ben sei. Mit­hin ist sie 1242 als Toch­ter des wohl­ha­ben­den Bau­ern Hein­rich Bruso (ge­stor­ben 1278) und sei­ner Frau Hil­la (ge­stor­ben zwi­schen 1278 und 1282) ge­bo­ren. Sie wuchs mit zwei Brü­dern und zwei Schwes­tern in Stom­meln auf. Chris­ti­na konn­te le­sen. Wo sie die­se Fä­hig­keit er­wor­ben hat, ist nicht be­kannt. In­des muss­ten ihr la­tei­nisch­spra­chi­ge Brie­fe vor­ge­le­sen und über­setzt wer­den. Ei­ge­ne Brie­fe schrieb sie nicht selbst nie­der, son­dern Kle­ri­ker aus ih­rem Be­kann­ten­kreis über­tru­gen ins La­tei­ni­sche, was Chris­ti­na volks­sprach­lich dik­tier­te. Da­bei be­ar­bei­te­ten die­se die Tex­te wohl auch sti­lis­tisch.

Christina von Stommeln, Figur von 1909 im neoromanischen Hochaltar der Propsteikirche Mariä Himmelfahrt Jülich, 2012. (Museum Zitadelle Jülich)

 

Als 13-Jäh­ri­ge ver­ließ Chris­ti­na ihr El­tern­haus und be­müh­te sich in Köln um die Auf­nah­me in ei­ne Be­gi­n­en­ge­mein­schaft. Ih­re ex­zen­tri­sche Fröm­mig­keit dürf­te der Grund da­für ge­we­sen sein, dass die Köl­ner Be­gi­nen sie schon bald wie­der aus­schlos­sen. So wird be­rich­tet, dass sie in der Do­mi­ni­ka­ner­kir­che bei der Be­trach­tung ei­nes Chris­tus­bil­des in ei­nen an­hal­ten­den Zu­stand völ­li­ger Lei­bes­star­re ge­fal­len sei. Die Be­gi­nen, so hei­ßt es wei­ter, hät­ten dies auf Epi­lep­sie oder Wahn­sinn zu­rück­ge­führt und Chris­ti­nas mys­ti­sche Er­leb­nis­se nicht für echt ge­hal­ten. Von den Be­gi­nen zu­rück­ge­wie­sen, leb­te die jun­ge Frau ei­ni­ge Zeit oh­ne fes­te Un­ter­kunft von Al­mo­sen in der Stadt. 1259 muss­te sie schlie­ß­lich in ihr Hei­mat­dorf und in den el­ter­li­chen Haus­halt zu­rück­keh­ren, denn auch die Stom­mel­ner Be­gi­nen lehn­ten ih­re über­mä­ßi­ge As­ke­se zu­nächst ab. Erst 1262 zog Chris­ti­na für drei Jah­re in das Be­gi­nen­haus am Ort. Spä­ter wohn­te sie wie­der auf dem el­ter­li­chen Hof, zeit­wei­se auch im Haus­halt des Stom­mel­ner Pfar­rers Jo­han­nes. Ob sie es nir­gends lan­ge aus­hielt oder nicht län­ger ge­dul­det wur­de, steht da­hin. Im Pfarr­haus be­geg­ne­te sie 1267 Pe­trus von Da­ci­en. Zwi­schen dem welt­läu­fi­gen Or­dens­mann und der from­men Frau ent­stand ei­ne in­ten­si­ve Bin­dung. Für die fol­gen­den drei Jah­re bis zu Pe­trus end­gül­ti­ger Rück­kehr nach Schwe­den sind zwölf wei­te­re Be­su­che be­zeugt. Da­nach kor­re­spon­dier­ten die bei­den bis zu sei­nem Tod 1289.

Christus überreicht Christina einen Ring. Gestickte Figuren auf den Seidenhandschuhen aus dem Schrein der Christina, 2012. (Museum Zitadelle Jülich)

 

1278 brann­te das Wohn­haus der Fa­mi­lie Bruso nie­der. Im glei­chen Jahr starb nach der Mut­ter auch der Va­ter. Es ge­lang den Ge­schwis­tern Chris­ti­na und Sig­win nicht, die el­ter­li­che Land­wirt­schaft zu er­hal­ten, 1281 muss­ten sie den Bau­ern­hof auf­ge­ben. Da Pe­trus von Da­ci­en sei­ne Freun­din be­kannt ge­macht hat­te, er­hielt sie meh­re­re Ein­la­dun­gen, nach Schwe­den zu zie­hen, um dort als Be­gi­ne oder Do­mi­ni­ka­ne­rin zu le­ben. Sie lehn­te ab, wäh­rend ihr Bru­der Sig­win in Schwe­den als Kon­ver­se in den Do­mi­ni­ka­ner­or­den ein­trat. Ver­mut­lich sorg­ten Wohl­tä­ter da­mals für Chris­ti­nas Le­bens­un­ter­halt. Mit Pe­trus Tod bre­chen die schrift­li­chen Quel­len über Chris­ti­nas Le­bens­weg ab. Jüngst sind ih­re Ge­bei­ne mit mo­der­nen me­di­zi­ni­schen Me­tho­den un­ter­sucht wor­den. Der Be­fund er­gab, dass sie im Al­ter von ei­ner de­ge­ne­ra­ti­ven Er­kran­kung der Wir­bel­säu­le be­trof­fen war. Sie muss un­ter star­ken Schmer­zen und Be­we­gungs­ein­schrän­kun­gen ge­lit­ten ha­ben. Im All­tag dürf­te sie des­we­gen auf frem­de Hil­fe an­ge­wie­sen ge­we­sen sein. Schrift­lich be­zeugt ist ihr To­des­tag, der 6.11.1312.

Schädelreliquie der Christina, 1911. (Museum Zitadelle Jülich)

 

Chris­ti­na wur­de an der Kir­chen­mau­er, al­so an pri­vi­le­gier­ter Stel­le be­stat­tet. In den Au­gen der Zeit­ge­nos­sen muss sie dem­nach ho­hes An­se­hen ge­nos­sen ha­ben. Heu­te er­in­nert ein neu­go­ti­sches Denk­mal an der Nord­sei­te des Turms der al­ten Stom­mel­ner Pfarr­kir­che St. Mar­tin an die­se Grab­stel­le. Ein ers­tes Wun­der am Grab soll sich 1338 er­eig­net ha­ben: Graf Diet­rich VII./IX. von Kle­ve, der in­fol­ge ei­nes Gicht­lei­dens na­he­zu be­we­gungs­un­fä­hig war, sei ­nach der Be­rüh­rung ih­res Ge­beins ge­heilt da­von­ge­rit­ten. 1342 wur­den die Re­li­qui­en in die Stifts­kir­che der jü­lich­schen Re­si­denz­burg Nideg­gen um­ge­bet­tet. Die Ka­no­ni­ker hat­ten die Auf­ga­be, für die Me­mo­ria des Jü­li­cher Gra­fen und Her­zogs­ge­schlechts zu sor­gen. Es ent­wi­ckel­te sich ein re­gio­nal be­schränk­ter, volks­tüm­li­cher Hei­li­gen­kult um Chris­ti­na, die be­son­ders ge­gen Kopf­schmer­zen und Läh­mun­gen an­ge­ru­fen wur­de. Be­mü­hun­gen um ei­ne Ka­no­ni­sa­ti­on blie­ben er­folg­los. Nach­dem das Kol­le­gi­at­stift 1569 in die neue Re­si­denz­stadt Jü­lich ver­legt wor­den war, folg­ten die Re­li­qui­en und wur­den wohl 1592 in die dor­ti­ge Propstei­kir­che Ma­ria Him­mel­fahrt über­tra­gen. Bei­de Um­bet­tun­gen sind dar­auf zu­rück­zu­füh­ren, dass Chris­ti­na zur Pa­tro­nin des Her­zog­tums Jü­lich auf­ge­rückt und ihr Kult eng mit der po­li­ti­schen Ent­wick­lung des Ter­ri­to­ri­ums ver­knüpft war. Im 19. Jahr­hun­dert, nach dem Kul­tur­kampf, be­trieb der Jü­li­cher Pfar­rer und spä­te­re De­chant An­dre­as Es­ser (1838-1910) die Pfle­ge des Kul­tes und die Se­lig­spre­chung. Er­geb­nis die­ser Be­mü­hun­gen war die kir­chen­recht­li­che An­er­ken­nung der Ver­eh­rung im Erz­bis­tum Köln durch die Se­lig­spre­chung, die Papst Pi­us X. (Pon­ti­fi­kat 1903-1914) 1908 vor­nahm. In der Chris­ti­na-Kir­mes, ei­nem mehr­tä­gi­gen Jahr­markt im No­vem­ber, lebt die Er­in­ne­rung an die Se­li­ge fort, de­ren Kult heu­te in Ver­ges­sen­heit ge­ra­ten ist.

Literatur

Bers, Gün­ter, Die Ver­eh­rung der se­li­gen Chris­ti­na von Stom­meln in Jü­lich vom 16. zum 20. Jahr­hun­dert. Zur Kult­ge­schich­te ei­ner Volks­hei­li­gen, Jü­lich 1986.
Got­tes­schau & Got­tes­lie­be. Die Mys­ti­ke­rin Chris­ti­na von Stom­meln 1242-1312, hg. v. Gui­do von Bü­ren, Su­san­ne Rich­ter und Mar­cell Per­se, Re­gens­burg 2012.
Ruhr­berg, Chris­ti­ne, Der li­te­ra­ri­sche Kör­per der Hei­li­gen. Le­ben und Vi­ten der Chris­ti­na von Stom­meln (1242-1312) Tü­bin­gen/Ba­sel 1995.

Quellen

Aa­chen, Diö­ze­san­ar­chiv, Hs. 599: Co­dex Iu­li­a­cen­sis. [On­line]

Schrein der Christina von Stommeln in der Propsteikirche St. Mariä Himmelfahrt, Jülich, 2012. (Museum Zitadelle Jülich)

 
Zitationshinweis

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Ostrowitzki, Anja, Christina von Stommeln, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/christina-von-stommeln-/DE-2086/lido/57c68bded2a1e3.50488730 (abgerufen am 19.03.2024)