Zu den Kapiteln
Schlagworte
Georg Wenker war als Sprachwissenschaftler wegweisend in der systematischen Erhebung, Auswertung und kartographischen Darstellung deutscher Dialekte. Die 40 Sätze, die er entworfen hat, um typische charakterisierende wie differenzierende grammatische (vor allem lautliche) und lexikalische Merkmale von Dialekträumen erfassen zu können, werden auch heute noch bei Erhebungen eingesetzt.
Johann Arnold Georg Wenker wurde am 25.2.1852 als Sohn des Buchbinders und Kunsthändlers Johann Gottfried Wenker und seiner Ehefrau Wilhelmine, geb. Petri in Düsseldorf geboren. Die Familie war evangelisch-reformiert. 1872 legte Wenker am Königlichen Gymnasium seiner Heimatstadt die Reifeprüfung ab und studierte anschließend an den Universitäten in Zürich, Bonn und Marburg Vergleichende Sprachwissenschaft, Germanische und Klassische Philologie, Philosophie und Geschichte. Im Juli 1876 wurde Wenker an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen mit einer Arbeit über die Verschiebung des Stammsilbenauslauts im Germanischen promoviert. Schon im April 1876 hatte er mit der Erhebung von Ortsdialekten begonnen, die ihn in seinem ganzen weiteren Berufsleben beschäftigten.
Neben der wissenschaftlichen Betätigung schlug Wenker ab 1877 eine Bibliothekarslaufbahn ein. Das Volontariat begann er an der Landesbibliothek in Düsseldorf, 1878 wechselte er an die Universitätsbibliothek in Marburg. Dort war er im Anschluss an das Volontariat als Bibliothekshilfsarbeiter, ab 1883 als Kustos und ab 1897 als Oberbibliothekar tätig. 1897 wurde er aufgrund besonderer wissenschaftlicher Verdienste an der Universität Marburg zum Professor für Deutsche Philologie ernannt. Verheiratet war er seit 1880 mit Lina Steinseifer. Er war Vater zweier Töchter und eines Sohnes. Am 17.7.1911 starb Georg Wenker in Marburg.
Das erste dialektologische Projekt Wenkers galt den Dialekten seiner Heimatregion. Sein Ziel war es, feste Grenzlinien zwischen den Dialekträumen zu ermitteln. Die Erhebungen wurden mittels Fragebogen durchgeführt, auf denen 42 Sätze („rheinische Sätze“) aus der Standardsprache in das Platt vor Ort übertragen werden sollten. Als Gewährspersonen schienen ihm ortsansässige Volksschullehrer beziehungsweise deren Schüler besonders geeignet. Um die Orte systematisch erheben zu können, brauchte Wenker Hilfe. Er nahm Kontakt zum Oberpräsidium der Rheinprovinz und zu den Regierungspräsidien auf und bat um die Verzeichnisse der Kreisschulinspektoren. Über diese konnte er in Kontakt mit Lehrern treten und die Fragebogen samt Anschreiben mit Anleitung verteilen lassen. Die Auswertung dieser Übersetzungen publizierte er schon im April 1877 im Selbstverlag. unter dem Titel „Das rheinische Platt. Den Lehrern des Rheinlandes gewidmet“. Den Grenzlinien gab er Namen, die bis heute in der Dialektologie und Regionalsprachenforschung verwendet werden, so zum Beispiel Benrather Linie und Uerdinger Linie (benannt nach Orten, wo die Linien den Rhein queren).
Als Anschlussprojekt nahm sich Wenker noch im selben Jahr die Erhebung von Westfalen vor, wo die Gewährspersonen 38, an das Erhebungsgebiet angepasste Sätze („westfälische Sätze“) übersetzen sollten. Daraus entstanden zwei handschriftliche Exemplare des „Sprach-Atlas der Rheinprovinz nördlich der Mosel sowie des Kreises Siegen [...]“. 1879-1880 folgte die Erhebung des gesamten nord- und mitteldeutschen Raums. Dafür modifizierte Wenker die Übersetzungsvorlage noch einmal. Im Ergebnis lagen 40 Sätze als Grundlage für alle weiteren Erhebungen vor. 1887 gelang es Wenker, aus einem kaiserlichen Dispositionsfond eine feste Finanzierung für das Sprachatlasunternehmen zu erhalten. Damit war verbunden, dass das Erhebungsgebiet auf den gesamtdeutschen Raum ausgedehnt wurde, mit dem Ziel einen „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ zu verfassen. Das Projekt wurde zu einer Institution des preußischen Innenministeriums mit Wenker als Leiter, womit dieser alle Rechte an den Sprachdaten verlor und auch einen bereits geschlossenen Verlagsvertrag zu einem Pronomenatlas von Norddeutschland annullieren lassen musste.
Für eine einheitlichere Datenbasis ließ Wenker in der Rheinprovinz nacherheben, später auch in Räumen und Orten, wo er mit der Rücklaufquote der Fragebogen nicht zufrieden war. Ab 1888 oder 1889 erfolgten weitere Nacherhebungen, zuerst in Luxemburg, dann in weiteren deutschsprachigen Gebieten Mitteleuropas außerhalb der Reichsgrenzen, im Sudetenland, in Österreich, in Liechtenstein, im Burgenland, in der Gottschee (heute Slowenien), in der Schweiz, in Polen jenseits der alten Reichsgrenze, in Südtirol, in den zimbrisch sprechenden Gemeinden im Nordosten Italiens, in Nord- und Ostfriesland. Dazu kamen Erhebungen in anderen Sprachen, zum Beispiel Jiddisch, Dänisch, Sorbisch und Polnisch. Insgesamt sind heute circa 58.870 Fragebogen bekannt, davon 46.011 aus dem Deutschen Reich. Wenker selbst war an vielen dieser Nacherhebungen nicht mehr beteiligt; diese und auch die mit dem „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ verbundene Publikationen sind jedoch untrennbar mit seinen Forschungsarbeiten und -leistungen verbunden.
Wenkers Konzept der Datenerhebung war dadurch, dass die Lehrer beziehungsweise deren Schüler als Gewährspersonen über die Verzeichnisse der Kreisschulinspektoren leicht erreichbar waren, organisatorisch einfach. Weil es überall, in vielen Dörfern wie auch in den Stadtteilen als kleinere Einheiten von Städten, Volksschulen gab, war eine flächendeckende Erhebung möglich. Die Fragebogen-Erhebungen waren deutlich kostengünstiger als Vor-Ort-Befragungen und der Organisationsaufwand war viel geringer; direkte Erhebungen wären in diesem Ausmaß gar nicht durchführbar gewesen. Die Kreis-, Schul- und Stadtinspektoren gaben die Bogen an die Lehrer weiter; über sie schickten die Lehrer die ausgefüllten Bogen zurück. Dass so viele Fragebogen ausgefüllt wurden, mag mit den Inspektoren als Mittlern zu tun haben, aber auch mit der glücklichen Wahl der Berufsgruppe, gleichwohl sich Wenker selbst überall eine noch höhere Beteiligung gewünscht hätte.
Die Fragebogen wurden zusammen mit einem Anschreiben (mit der Anrede Sehr geehrter Herr!) verschickt, in dem die Lehrer instruiert wurden. Zu übersetzen waren Sätze wie „Er ißt die Eier immer ohne Salz und Pfeffer.“ (Satz 7) oder „Was sitzen da für Vögelchen oben auf dem Mäuerchen?“ (Satz 36). Für Pfeffer kamen in unterschiedlichen Regionen Formen wie Pepper, Peffer, Feffer und Pfeffer zurück, bei den Verkleinerungsformen -ken bzw. -chen oder auch -la, -le, -li, -el bzw. -erl als Varianten von -lein. Die Anleitungen im binnendeutschen Raum wurden nach den Auswertungen immer wieder angepasst, was zu veränderten Ergebnissen führte. Aufgrund unterschiedlicher Rahmenbedingungen wurden die Begleitschreiben für die Erhebung des Deutschen in Sprachinseln oder anderer Sprachen verändert. Während das Forschungsinteresse bei den Erhebungen innerhalb des Deutschen Reichs dezidiert der „echten, unvermischten Volksmundart“ (so im Instruktionsanschreiben Wenkers an die Schulinspektoren 1887 vermerkt) galt, wurden Gewährspersonen in Sprachinseln zum Teil darauf hingewiesen, dass sie die Ortssprache festhalten sollen, auch wenn sie „nahezu ganz hochdeutsch“ (so im Instruktions- und Vorlagenblatt für Polen) sei.
Schon von Zeitgenossen wurde Wenker für die Art der Datenerhebung kritisiert. Ihm selbst waren die damit verbundenen Schwierigkeiten bewusst und er hatte mehrere Methoden für eine kritische Datenprüfung entwickelt, zum Beispiel stellte er selbst direkte Erhebungen an, die auf Antrag vom Ministerium finanziert wurden. Aus heutiger Sicht erweisen sich die ortsansässigen Schüler beziehungsweise Lehrer als ausgezeichnete Kenner ihres Dialekts, die diesen zumeist auch schriftlich sehr gut wiedergeben konnten. Offensichtliche Fehler der Gewährspersonen, Veränderungen oder Druckfehler in den Vorlagen usw. ändern aufgrund der Masse der flächendeckenden Erhebungen und ihrer Vergleichbarkeit nichts an der Güte der Daten.
Die Ergebnisse der Erhebungen hielten Georg Wenker und seine Mitarbeiter Ferdinand Wrede (1863-1934) und Emil Maurmann (1864-1937) ab 1889 in zwei Manuskripten fest. Bis zur Einstellung der Arbeiten 1923 hatten sie 1.653 farbige Blätter im Format von circa 140 x 140 cm gezeichnet. Jeweils ein Nordwest-, ein Nordost- und ein Südwestblatt bildeten eine Karte im Maßstab 1:1.000.000. Aufgrund der Größe und der Vielfarbigkeit waren die Karten nicht für den Druck geeignet und so mussten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die sich für das Material interessierten, zur Einsichtnahme nach Marburg reisen. Die beiden Manuskripte sind in unterschiedlichen Zuständen erhalten: Das vollständige Exemplar wird im Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas in Marburg archiviert, das heute unvollständige Exemplar, das für das preußische Innenministerium als Geldgeber gezeichnet wurde, befindet sich neben einer Einleitung zum Sprachatlas und Erläuterungen zu den Karten auch heute noch in der Staatsbibliothek zu Berlin Stiftung Preußischer Kulturbesitz.
Erst zwischen 1927-1956 veröffentlichten Ferdinand Wrede (Wenkers Nachfolger), Bernhard Martin (1889-1983) und Walther Mitzka (1888-1976) unter dem Titel „Deutscher Sprachatlas“ (DSA) 128 der Karten. Diese waren in der Größe reduziert und um die Gebiete erweitert, die erst nach Wenkers Tod erhoben worden waren. Zwischen 1984 und 1999 erschien ein „Kleiner Deutscher Sprachatlas“ (KDSA), der bei nochmals reduzierter Datengrundlage computerbasierte Reproduktionen mit Neuauswertungen bietet. Im 21. Jahrhundert wurden viele der Fragebogen sowie die Originalkarten digitalisiert. Diese sind als „Digitaler Wenker-Atlas“ (DiWA) über die Plattform „Regionalsprache.de“ (REDE) abrufbar. Schließlich wurden in Form einer dreibändigen Monographie auch die Einleitungstexte Wenkers und die handschriftlichen Kartenkommentare der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Der von Georg Wenker initiierte „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ gilt als der älteste und bis heute umfangreichste Atlas einer Nationalsprache weltweit. Die Methode der Fragebogen-Erhebung kam schon vorher zum Einsatz, allerdings nicht in einer solch breiten und systematischen Anwendung. Wenker hat mit den für die Erhebung von Dialekten entwickelten Sätzen, den daraus hervorgegangenen Fragebogen und den Sprachkarten als Forschungsinstrument für die Wissenschaft Quellen von unschätzbarem Wert vorgelegt. Sie machen es möglich, regionalsprachliche Entwicklungen vergleichend vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart zu untersuchen.
Schriften
Das rheinische Platt. Den Lehrern des Rheinlandes gewidmet, Düsseldorf 1877.
Sprach-Atlas der Rheinprovinz nördlich der Mosel sowie des Kreises Siegen nach systematisch aus ca. 1500 Orten gesammeltem Material zusammengestellt, entworfen und gezeichnet, Marburg 1878.
Sprach-Atlas von Nord- und Mitteldeutschland. Aufgrund von systematisch mit Hülfe der Volksschullehrer gesammeltem Material aus circa 30 000 Orten. Bearbeitet, entworfen und gezeichnet von Dr. G. Wenker. Text. Einleitung, Straßburg/London.
Sprachatlas des Deutschen Reichs. Handgezeichnetes Original von Emil Maurmann, Georg Wenker und Ferdinand Wrede, Marburg 1888-1923. Publiziert als Digitaler Wenker-Atlas (DiWA), Marburg 1888-1923. [Online]
Schriften zum „Sprachatlas des Deutschen Reichs“. Gesamtausgabe, hg. von Alfred Lameli. Unter Mitarbeit von Johanna Heil und Constanze Wellendorf, 3 Bände, Hildesheim [u.a.] 2013-2014.
Literatur
Cysouw, Michael, Wenkerbögen neu kartiert, in: Sprachspuren: Berichte aus dem Deutschen Sprachatlas 2, 2022. [Online]
Elspaß, Stephan, Georg Johann Arnold Wenker, in: König, Christoph (Hg.), Internationales Germanistenlexikon 1800-1950. Bearb. von Birgit Wägenbaur, Berlin/New York 2003, S. 2013–2015.
Fleischer, Jürg, Geschichte, Anlage und Durchführung der Fragebogen-Erhebungen von Georg Wenkers 40 Sätzen: Dokumentation, Entdeckungen und Neubewertungen, Hildesheim [u.a.] 2017.
Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas, Abriss der Institutsgeschichte. [Online]
Jahres-Bericht über das Königliche Gymnasium zu Düsseldorf für das Schuljahr 1871-1872, mit welchem zu den am 30. und am 31. August und am 2. September abzuhaltenden öffentlichen Prüfungen einladet der Director des Gymnasiums Dr. Karl Kiesel. […], Düsseldorf 1872.
Knoop, Ulrich/Putschke, Wolfgang/Wiegand, Herbert Ernst, Die Marburger Schule: Entstehung und frühe Entwicklung der Dialektgeographie, in: Besch, Werner/Knoop, Ulrich/Putschke, Wolfgang/Wiegand, Herbert Ernst (Hg.), Dialektologie. Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung, Berlin/New York 1982, S. 38–91.
Lameli, Alfred, Was Wenker noch zu sagen hatte... Die unbekannten Teile des ‚Sprachatlas des deutschen Reichs‘, in: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 75 (2008), S. 255–281.
Online
Georg Wenker, in: Dat Portal | Sprache im Rheinland. [Online]
Bitte geben Sie beim Zitieren dieses Beitrags die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Wich-Reif, Claudia, Georg Wenker, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/georg-wenker/DE-2086/lido/65ae53c01583d5.89355690 (abgerufen am 13.12.2024)