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Jens Tiedtke war ein professioneller, sehr erfolgreicher Handballspieler. Zwischen 1999 und 2015 bestritt er insgesamt 461 Spiele in der Handball-Bundesliga, in denen er 1.314 Tore erzielte. Neben zehn Junioren-Länderspielen trug er 64mal das Trikot der Nationalmannschaft und warf dabei 92 Tore. Seinen größten sportlichen Erfolg erreichte er bei der Weltmeisterschaft 2009 mit einem fünften Platz. Nach einer schweren Erkrankung 2006 schaffte er den Weg zurück in den Sport und in die Nationalmannschaft. Bis 2015 spielte Tiedtke in der Bundesliga, seine aktive Karriere beendete er 2016.
Jens Tiedtke wurde am 10.10.1979 in Koblenz geboren; die Familie stammt aus Bassenheim. Beim örtlichen TV Bassenheim 1911 erlernte Tiedtke das Handballspiel. Die erste Männermannschaft spielte seit 1987 in der Regionalliga und der Verein war für seine gute Jugendarbeit bekannt. Nach dem Abstieg schloss man sich 1991 mit der Handballspielgemeinschaft (HSG) Mülheim-Kärlich zur HSG Mülheim-Kärlich/Bassenheim zusammen. Wie bei vielen Handballerinnen und Handballern prägte auch die Familie bei Jens Tiedtke früh den weiteren sportlichen Lebensweg. Sein 2018 verstorbener Vater Jörg war ebenfalls Handballer, Spieler, Förderer und Ehrenmitglied des Vereins. Sohn Jens begann im Alter von gut zehn Jahren mit dem Handballspiel. Von der E-Jugend bis zur A-Jugend durchlief er alle Jugendmannschaften der Spielgemeinschaft. Als sein Entdecker und Förderer gilt Jugendtrainer Werner Klöckner, mit dem Tiedtke in der Serie 1993/1994 Deutscher Vizemeister der C-Jugend wurde. Klöckner erinnerte sich 2015 anlässlich von Tiedtkes Karriereende als Profi daran, dass dessen Potential schon damals erkennbar gewesen sei. Tiedtke habe nur durch seinen enormen Trainingsfleiß und die vielen individuellen Einheiten, die er bereitwillig in Kauf genommen hätte, ganz nach oben kommen können. Er sei sicher einer der motiviertesten Spieler gewesen, mit denen er, Klöckner, habe arbeiten dürfen.[1]
Ein weiterer Förderer Tiedtkes war sein erster Seniorentrainer Hermann Josef Häring, unter dem er aus der A-Jugend den Sprung in das Regionalligateam der Spielgemeinschaft schaffte und mit dieser in der Spielzeit 1997/1998 in die zweite Bundesliga aufstieg. In der anschließenden Saison übernahm der Solinger Heino Kirchhoff als Trainer das Team und führte Tiedtke und seine Mitspieler mit Platz 14 zum Klassenerhalt.
Obwohl der junge Kreisläufer vom Fachorgan „Handball-Magazin“ noch nicht als herausragender Zweitligaspieler bewertet wurde, verließ Tiedtke im Sommer 1999 zunächst seine Heimat, um bei dem etablierten TUSEM Essen in der Handball-Bundesliga Fuß zu fassen. Es war die Zeit der endgültigen Kommerzialisierung und Professionalisierung des Hallenhandballs. Viele Bundesligisten hatten nach dem Bosmann-Urteil 1995 auf spektakuläre Verpflichtungen ausländischer Stars und Nationalspieler gesetzt. Dafür wurde die eigene Nachwuchsförderung vernachlässigt, so dass überhaupt nur wenige deutsche Talente den Sprung in den Leistungssport schafften und Profi-Handballer werden konnten. Aus dieser immer kleiner werdenden Zahl an deutschen Spitzenspielern in der Handball-Bundesliga sollte der damalige Bundestrainer, die Handball-Legende Heiner Brand (geboren 1952), für die Olympischen Spiele sowie die Welt- und Europameisterschaften eine schlagkräftige Mannschaft bilden, die um Medaillen mitspielen und damit dem Anspruch des Deutschen Handball-Bundes (DHB) als mitgliederstärkstem Verband der Internationalen Handball-Förderation (IHF) gerecht werden sollte. Dem Drängen Brands nachgebend hatte der DHB zum Spieljahr 1998/99 ein sogenanntes Doppelspielrecht eingeführt, das es unter 23-jährigen Spielern ermöglichte, neben der Handball-Bundesliga auch in der Zweiten Bundesliga Spielpraxis zu sammeln.
Zu diesem Zeitpunkt war der Bassenheimer Kreisläufer aber bereits ins Blickfeld von Brands Co-Trainer Bob Hanning (geboren 1968) geraten, der zu dieser Zeit die SG Solingen betreute. Hanning hatte den Ruf, gerade junge Spieler an die Bundesliga heranführen und sportlich wie menschlich weiterentwickeln zu können. Im Mai 1999 wurde Tiedtke daraufhin zu einem Lehrgang der B-Nationalmannschaft berufen, den Brand und Hanning als Perspektivkader und Unterbau zur langfristigen Leistungsentwicklung junger Handballtalente für die Nationalmannschaft geschaffen hatten. Obwohl das Doppelspielrecht genau für Spieler wie Tiedtke gedacht war, führte es bei ihm zunächst nicht zum gewünschten Erfolg. Brand, der für die Fachzeitung „Handball-Magazin“ alle Vereine vor Saisonbeginn 1999/2000 bewertet hatte, sah in Tiedtke lediglich eine Ergänzung des hochwertigen Essener Kaders, den er als Geheimfavoriten um die Meisterschaft einschätzte. Doch das Team von Trainer Jörn-Uwe Lommel (geboren 1958) erlebte eine sportliche Bruchlandung und befand sich zwischenzeitlich in einer Krise. Dies waren keine günstigen Voraussetzungen für einen jungen Spieler wie Tiedtke, um in der Bundesliga sofort Fuß fassen zu können. In der mit internationalen Stars gespickten Essener Mannschaft kam Tiedtke an den etablierten Kreisläufern Mark Dragunski (geboren 1970) und Maik Handschke (geboren 1966) nicht vorbei und erhielt kaum Einsatzzeiten, so dass er im Januar 2000 für wenige Monate wieder zur HSG Mülheim-Kärlich/Bassenheim zurückging. Dort wurde er sportlich gebraucht und half dabei, seiner Heimatspielgemeinschaft erneut den Klassenerhalt zu sichern. Tiedtke gehörte als junger Perspektivspieler weiterhin zum Kader der B-Nationalmannschaft und hatte am 19.10.1999 sein erstes Länderspiel in Cottbus beim 26:24 gegen Polen bestritten.[2]
Zur neuen Saison 2000/2001 wechselte der B-Nationalspieler zum HC Wuppertal, wo er wiederum auf Trainer Bob Hanning traf. Obwohl sein neuer Verein frühzeitig als Absteiger feststand, konnte er sich als Profi weiter in der Bundesliga etablieren. Anfang April 2001 sicherte der Kreisläufer mit vier Toren einen 22:20 Auswärtssieg beim TuS Nettelstedt, der ebenfalls im Abstiegskampf steckte. Damit konnte er seinem ehemaligen Essener Trainer Lommel, der nun auf der Nettelstedter Bank saß, für diesen nun schmerzhaft seine sportliche Tauglichkeit für die Eliteliga beweisen.[3] Dass Tiedtke dann nach nur einer Saison und dem Abstieg Wuppertals Hanning in Richtung des badischen SC Willstätt-Schutterwald folgte, spricht für die gegenseitige persönliche Wertschätzung und das Vertrauensverhältnis in dem häufig sehr kurzlebigen Geschäft eines Profihandballers. Tiedtke hatte es immerhin dank gewachsener Einsatzzeiten in der Bundesliga Mitte März 2001 zum Debüt in der A-Nationalmannschaft gebracht, wo Bundestrainer Brand angesichts einer nacholympischen Mammutsaison in Rostock gegen Norwegen gleich vier Debütanten testete.[4]
Nach dem Abstieg der Badener 2003 wechselte Tiedtke erneut innerhalb der Bundesliga und ging für zwei Jahre zur SG Wallau-Massenheim[5], die Martin Schwalb (geboren 1963)[6] trainierte. Zu diesem Zeitpunkt hatte der 24-jährige Kreisläufer sich mit 100 Bundesligapartien und 257 Toren sowie sechs Länderspielen längst fest als Profi-Handballer etabliert.[7] Infolge der Insolvenz der Wallau-Massenheimer zog es ihn 2005 schließlich zum Traditionsverein TV Großwallstadt. Inzwischen hatte er es nach knapp fünf Spielzeiten in der höchsten deutschen Spielklasse auf 40 Länderspiele, 168 Bundesligaspiele und 505 Treffer gebracht.[8] Dort blieb Tiedtke sieben Jahre, entwickelte sich zum Leistungsträger und fand im nahen Obernburg eine neue Heimat.
Im Spätsommer 2006 klagte er immer häufiger über Kopfschmerzen und gelegentlich auftretende Sehstörungen, woraufhin bei ihm ein Hirntumor diagnostiziert wurde. Für den inzwischen als Nationalspieler etablierten Kreisläufer war dies gleich in zweierlei Hinsicht ein schwerer Schicksalsschlag. Tiedtke gehörte zum anderen zum Kandidatenkreis für die Weltmeisterschaft 2007 im eigenen Land, obwohl er für die Europameisterschaft Anfang 2006 in der Schweiz nicht von Bundestrainer Brand nominiert worden war.[9] Aus sportlicher Sicht habe ihn, so Tiedtke später, die Nichtnominierung mehr belastet, als der aus gesundheitlichen Gründen verpasste Weltmeistertitel 2007. Nach seiner Rehabilitation äußerte er sich, dass die Nationalmannschaft für ihn derzeit ganz weit weg sei, auch gedanklich. Aber er glaube, wenn er Leistung bringe, wieder an seine Chance, für Deutschland zu spielen.[10]
Der gutartige Tumor wurde im November erfolgreich operativ in der Universitätsklinik Frankfurt/Main entfernt.[11] Jens Tiedtke feierte bereits am 28.4.2007 sein Comeback beim Auswärtsspiel der Großwallstädter gegen HBW Balingen-Weilstetten. Im Dezember 2007 wurde er erstmals wieder in die Nationalmannschaft berufen.[12] Dort zeigte er mit sieben Toren in den beiden Testspielen gegen Schweden, dass er trotz oder vielleicht auch gerade wegen seines gesundheitlichen Schicksalsschlages das frühere Leistungsniveau wieder erreicht hatte. Anschließend gehörte er zum 20-köpfigen Kader zur Europameisterschaft 2008. Aber der 28-jährige Student schaffte es nicht, einen der beiden anderen Kreisläufer Andrej Klimovets (geboren 1974) oder Sebastian Preiß (geboren 1981) deren Stammplatz abzunehmen, zumal auch Abwehrspezialist Oliver Roggisch (geboren 1978) diese Position spielen konnte.[13] Da Tiedtke weiterhin konstant gute Leistungen im Verein brachte, nominierte ihn Bundestrainer Brand für die Weltmeisterschaft 2009 in Kroatien. Dort hatte der mannschaftsdienliche Spieler mehrere Einsätze und konnte als einer der wenigen Spieler des in der Hauptrunde an Dänemark gescheiterten Titelverteidigers überzeugen. In Kroatien dabei zu sein, sei die Vollendung und Belohnung der harten Arbeit der vergangenen zwei Jahre, äußerte sich der damals 29-Jährige gegenüber der „Handballwoche“.[14] Seine Karriere im Trikot der deutschen Nationalmannschaft endete mit dem siegreichen Spiel um Platz fünf gegen Ungarn mit einem 28:25 Erfolg nach 64 Länderspielen mit sechs Treffern. Brand leitete nun den Umbruch mit jüngeren Spielern ein. Tiedtke gehörte noch für weitere zwei Jahre zu den absoluten Leistungsträgern des TV Großwallstadt.[15] Den inzwischen 33-Jährigen zog es zum Ende seiner Profikarriere 2012 nochmal für drei Jahre zum hessischen Bundesligisten HSG Wetzlar.[16]
Der Kontakt zu seinem Stammverein TV Bassenheim riss während seiner langen Karriere nie ab. Noch Anfang 2014 durften die Mini-Handballerinnen und Handballer aus seinem Heimatort die Mannschaft ihres Idols beim Einlaufen begleiten. Nach insgesamt 16 Jahren bei sechs Vereinen, für die er 461 Spiele mit 1.314 Toren bestritt, beendete Tiedtke 2015 seine Bundesligakarriere. Sein erster Seniorentrainer Hermann-Josef Häring sprach von einem Verlust für die Liga, aber auch von einem Menschen, der Tugenden vorgelebt habe, die Tiedtke zu dem Rheinlandhandballer mit der nachhaltigsten Karriere gemacht hätten.[17]
Für ein Jahr kehrte er noch einmal zum inzwischen in die Dritte Liga abgestiegenen TV Großwallstadt zurück, ehe er 2016 seine Handballschuhe endgültig an den Nagel hängte. Er freue sich sehr darauf, dem TVG dabei helfen zu dürfen, wieder in die Erfolgsspur zurückzukehren, so Tiedtke. Der Verein habe seine Karriere über sieben Jahre entscheidend mitgeprägt. Zudem sei er in der Region mittlerweile heimisch geworden und so eng verbunden, dass es für ihn die logische Konsequenz sei, dem Club zu helfen.[18]
Der Sportwissenschaftler und Familienvater arbeitete inzwischen an seiner Karriere neben und nach dem Sport. Eine Trainerlaufbahn war ihm aber nicht mehr vergönnt. Auf die Frage, wie wichtig der Leistungssport für ihn noch nach so einer gesundheitlichen Extremerfahrung sei, hatte er 2007 geantwortet: „Es hat sich schon etwas in meinem Denken verändert. Das alles ist nicht mehr so selbstverständlich für mich. […] Ich habe gelernt, dass Gesundheit das allerwichtigste ist. Alles andere ist sekundär. Mit großem Abstand.“[19] Jens Tiedtke verstarb am 9.10.2019 an seiner schweren Erkrankung, einen Tag vor seinem 40. Geburtstag. Er hinterließ seine Ehefrau und drei Kinder.
Tiedtkes offener Umgang mit seinem Schicksal sowie sein kontinuierlicher Wille, sich in das Leben und seinen Lieblingssport Handball zurück zu kämpfen, waren vorbildlich und verdienen höchsten Respekt. Insofern sind es weniger die sportlichen Verdienste, als vielmehr seine ethisch-moralischen Werte und der Charakter, den Jens Tiedtke verkörperte, die ihn als bemerkenswerten und außergewöhnlichen Menschen auszeichneten.
Literatur
Boysen, Stefan, Große Vereine, TV Großwallstadt, in: Eggers, Erik (Hg.), Handball. Eine deutsche Domäne, Göttingen 2007, S. 195-200.
Eggers, Erik, Große Vereine, SG Wallau/Massenheim, in: Eggers, Erik (Hg.), Handball. Eine deutsche Domäne, Göttingen 2007, S. 272-277.
Eggers, Erik, Kommerzialisierung und Professionalisierung, in: Eggers, Erik (Hg.), Handball. Eine deutsche Domäne, Göttingen 2007, S. 264-266.
Eggers, Erik, Martin Schwalb, in: Eggers, Erik (Hg.), Handball. Eine deutsche Domäne, Göttingen 2007, S. 278-279.
Gehrden, Sebastian von, Interview mit Jens Tiedtke, „Das ist ein Scheißgefühl“, in: Handball-Magazin Nr. 3/2007, S. 18-19.
Handball-Magazin, Jg. 1999-2015.
Handballwoche, Jg. 1999-2015.
Mindener Tageblatt, Jg. 1999-2019.
Riedl, Lars/Cachay, Klaus, Bosman-Urteil und Nachwuchsförderung. Auswirkungen der Veränderung von Ausländerklauseln und Transferregelungen auf die Sportspiele, Schorndorf 2002.
- 1: https://www.handball-world.news/o.red.r/news-1-1-1-70165.html [Letzer Zugriff: 12.4.2020]
- 2: Der DHB unterscheidet seit 1989 in seiner offiziellen Länderspielstatistik nicht mehr zwischen Spielen der A- und B-Nationalmannschaft. Unter biographischen Aspekten ist diese Differenzierung allerdings wichtig.
- 3: Handball-Magazin Nr. 6/2000, S. 6; Mindener Tageblatt v. 9.4.2001.
- 4: Mindener Tageblatt v. 15.3.2001; Handball-Magazin Nr. 9/2001, S. 53.
- 5: Eggers, Große Vereine, S. 277.
- 6: Eggers, Schwalb, S. 279.
- 7: Handballwoche v. 20.8.2003, Sonderheft Bundesliga Saison 2003/2004, S. 85.
- 8: Handballwoche v. 19.8.2005, Sonderheft Bundesliga Saison 2005/2006, S. 61.
- 9: Vgl. Der erweiterte Kader der deutschen Nationalmannschaft (Stand: 20.9.2006), in: Handball-Magazin Nr. 10/2006, S. 12.
- 10: Handball-Magazin Nr. 10/2006, S. 19.
- 11: Mindener Tageblatt v. 3.11.2006 u. 24.11.2006.
- 12: Handballwoche v. 25.9.2007, S. 45.
- 13: Mindener Tageblatt v. 7.12.2007 u. 10.12.2007; Handballwoche, Sonderheft 1/2008, Euro 2008, S. 13; Handballwoche v. 21.5.2008, S. 10, 54-55.
- 14: Mindener Tageblatt v. 28.1.2009; Handballwoche, Sonderheft 1/2009, WM 2009, S. 17.
- 15: Mindener Tageblatt v. 30.1.2009.
- 16: Handball-Magazin Nr. 8/2012, S. 78-79.
- 17: https://www.handball-world.news/o.red.r/news-1-1-1-70165.html [Letzer Zugriff: 12.4.2020]
- 18: https://www.handball-world.news/o.red.r/news-1-1-62-71413.html [Letzer Zugriff: 12.4.2020]
- 19: Gehrden, Interview, S. 18-19.
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Koch, Philipp, Jens Tiedtke, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/jens-tiedtke/DE-2086/lido/61e522201cfc18.21351327 (abgerufen am 26.04.2024)