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Mannus von Speyer entstammte einer alten rheinischen Gelehrtenfamilie und erlangte selbst als Autor religiöser Traktate Bedeutung. Vor allem seine kabbalistischen Studien, die aus enger Vertrautheit mit mediterranen Traditionen resultierten, verliehen ihm unter den rheinischen Gelehrten seiner Zeit einen besonderen Status. Zugleich spiegelt Mannus’ bewegte und für die Epoche außergewöhnlich gut dokumentierte Biographie die prekären Lebensbedingungen jüdischer Existenz seit der Mitte des 14. Jahrhunderts.
Über Kindheit und Jugend von Mannus ist nichts bekannt, auch nicht sein Geburtsort. Manches spricht dafür, dass er aus Köln stammt. Sein Herkunftsname „von Speyer“, mit dem er in späteren Jahren in den Quellen auftaucht, ist für diese Annahme jedenfalls kein Hinderungsgrund. Vermutlich zog Mannus nämlich erst als junger Mann bald nach dem verheerenden Pestpogrom von 1349 nach Speyer, wo schon innerhalb kürzester Zeit nach dem Morden wieder Juden zugelassen wurden. Noch in den 1350er Jahren hat Mannus Speyer auf jeden Fall verlassen und ist fortan über einen längeren Zeitraum in Jerusalem anzutreffen. Er gehörte offenbar einer Gruppe von Lehrern und Studenten aus dem Rheinland an, die nach Jerusalem gezogen waren, um dort eine Jeschiwa (Talmudschule) zu begründen. Das Besondere an dieser Akademie war, dass man sich dort nicht nur – wie in Deutschland üblich – mit der Halacha, also den Religionsgesetzen und ihrer Auslegung, beschäftigte, sondern unter dem Einfluß spanischer Gelehrter auch kabbalistische (mystische) Studien betrieb. Viele Mitglieder der Jerusalemer Jeschiwa kehrten einige Jahre später nach Europa und Deutschland zurück; allein in Frankfurt am Main sind nach 1360 drei Juden „aus Jerusalem“ verzeichnet. Einer von ihnen trägt den Namen Man von Spire und ist wohl mit unserem Mannus von Speyer identisch.
Der früheste gesicherte Beleg für die Rückkehr des Mannus nach Deutschland ist allerdings erst ein Ansiedlungsprivileg des Kölner Erzbischofs Friedrich von Saarwerden vom 20.5.1372. Mannus erhielt nun Wohnrecht in Bonn. Doch nicht auf diese Stadt, sondern auf Köln schien der ins Auge gefaßte Wohnortwechsel von vornherein hinauszulaufen, denn die Ansiedlungsvereinbarung fiel in die heiße Phase erzbischöflicher Bemühungen um eine Wiederzulassung von Juden in Köln – wenn auch zunächst noch gegen den heftigen Widerstand der Stadtväter. Im Oktober 1372 war es dann soweit: 23 Jahre nach dem Pogrom zogen endlich wieder Juden in Köln ein. Unter den ersten war auch Mannus von Speyer.
Die folgenden mindestens elf Jahre, während derer Mannus in Köln blieb, sind die bestdokumentierten seines Lebens. Regelmäßig ist er im städtischen Zinsregister verzeichnet. Mannus hatte jährlich insgesamt 50 Gulden zu entrichten. Damit war er nicht gerade der Höchstbesteuerte in der Judengemeinde, zählte aber durchaus zu den wohlhabenderen Leuten der Stadt. Ein durchschnittlicher Kölner Handwerksmeister hätte schon seinen gesamten Jahresverdienst aufwenden müssen, um nur diese Steuersumme begleichen zu können. Notum dives est (Man beachte: Er ist reich!) heißt es denn auch über Mannus in einer Steuerliste um 1382; mit dieser Randnotiz sollte der zuständige Ratsbeamte wohl zu einer künftigen Höherveranlagung des Juden ermahnt werden. Wie noch die meisten Gelehrten seiner Zeit verdiente Mannus seinen Lebensunterhalt nicht als besoldeter Rabbiner oder durch sonstige wissenschaftliche Tätigkeit, sondern im Geldleihgeschäft. Zu seinen Kreditkunden zählten die Stadt Köln und der Graf von Kleve. In Köln verfaßte Mannus sein Hauptwerk, einen umfangreichen Torakommentar (Sefer Zioni). In dem Buch haben Spuren seiner Begegnung mit der Mystik in Jerusalem deutlich ihren Niederschlag gefunden. Mannus gilt damit als einer der frühesten Kabbalisten im Rheinland und zugleich als Vermittler zwischen westeuropäischen (sefardischen) und deutschen (aschkenischen) Traditionen des Judentums. Es scheint übrigens, dass Mannus ein echter Universalgelehrter war und auch über fundiertes medizinisches Wissen verfügte, denn einmal wird er in den Steuerakten als medicus geführt.
Die wissenschaftlich produktiven und wirtschaftlich erfolgreichen Kölner Jahre wurden jedoch von einem einschneidenden Erlebnis überschattet, das die junge Judengemeinde insgesamt bis in ihre Grundfesten hinein erschütterte. Es begann im April 1375 mit der Gefangennahme der Kölner Juden Simon von Siegburg und David von Xanten durch Erzbischof Friedrich von Saarwerden. Die beiden sollten mit einem „Raubritter“ paktiert haben und so für die Verschleppung von erzbischöflichen Juden verantwortlich sein. Doch das war sicher nur ein Vorwand. Tatsächlich ging es dem Erzbischof darum, mit der Gefangennahme der Juden die Stadt Köln zu provozieren. Die Kölner nahmen die Herausforderung an, und eine fast zweijährige Fehde, der sogenannte „Schöffenkrieg“, war die Folge. Im Laufe der heftig geführten Auseinandersetzung wurde Deutz (heute Stadt Köln) niedergebrannt, kam der Schiffsverkehr auf dem Rhein fast völlig zum Erliegen, verfiel die Stadt dem kaiserlichen und der Erzbischof dem päpstlichen Bann - und schließlich hatten beide Parteien insgesamt 200.000 Gulden an Kriegskosten aufgewandt. Der ruinöse Konflikt mußte beendet werden, aber wie konnte eine der beiden Seiten nachgeben, ohne dabei als Verlierer dazustehen? Die Stadt brauchte nur die gegen die beiden Juden erhobenen fadenscheinigen Vorwürfe anzuerkennen, dann hätte der Erzbischof ja vollkommen rechtens gehandelt und sich keiner Übergriffe auf bürgerliche Privilegien schuldig gemacht. So geschah es, und die beiden Juden wurden nach „ordentlichem“ Prozess im Frühjahr 1377 hingerichtet. Mit diesem Justizmord war der Friede wiederhergestellt, Stadt und Erzbischof teilten sich nun ganz einträchtig die beschlagnahmten Besitzungen der Exekutierten.
Natürlich haben diese Vorgänge einen schlimmen Eindruck bei den Kölner Juden hinterlassen, einige kehrten der Stadt für immer den Rücken. Auch Mannus von Speyer hat am Schicksal von Simon und David Anteil genommen, und zwar in sehr auffälliger Weise. Er widmete ihnen ein berühmt gewordenes Klagelied (Kinna), in dem er das mörderische Zusammenspiel eines dreckigen Tiers und einer Ratte anprangerte – gemeint war der Erzbischof als Repräsentant einer nach jüdischem Verständnis „unsauberen“ Religion und, durch das Wortspiel kaum bemäntelt, der Rat der Stadt Köln: Sie mordeten und erbten zugleich, raubten der Gemeinde zwei Früchte an der Spitze des Baumes. Und Mannus gedachte in seinem Lied auch der schönen Tochter der Hebräer, die von den Mördern arg bedrängt worden sei. Gemeint war wohl Hanna von Siegburg, die Frau Simons. Sie war der Todesstrafe nur entgangen, weil sie unter Zwang die Taufe annahm. Es scheint, dass Mannus der Vater von Simons Ehefrau Hanna war. Darauf deuten gewichtige Indizien hin. Zunächst ist aus einem ganz anderen Zusammenhang bekannt, dass Mannus tatsächlich eine Tochter dieses (zugegebenermaßen nicht gerade seltenen) Namens hatte. Weiter wissen wir, dass Mannus und Simon gemeinsam hohe Geldgeschäfte tätigten – und als Kompagnon im riskanten Kreditgewerbe suchte man sich, wenn es irgend ging, einen engen Verwandten wie den Schwiegersohn. Noch ein weiteres Beziehungsgeflecht ist aufschlußreich: Es war der Graf von Kleve, Adolf III. von der Mark, der sich vor dem erzbischöflichen Gericht für Hanna einsetzte und dafür sorgte, dass das Todesurteil schließlich aufgehoben wurde. Gerade jener Landesherr aber unterhielt auch enge Kontakte zu Mannus von Speyer, von dem er Geld lieh und mit dem er im Januar 1377 eine vertragliche Vereinbarung traf. Das fürstliche Engagement für Hanna dürfte also aus einer Verpflichtung gegenüber ihrer Familie resultieren.
Obwohl Mannus angesichts der schlimmen Ereignisse schon im Januar 1377 offenkundig eine Abwanderung ins Klevische ins Auge gefasst hatte, verließ er Köln jedoch nicht vor 1386. Am 23. Mai dieses Jahres rechnete er ein letztes Mal Steuern für die vergangenen Monate ab. Mannus zog es wieder in die weitere Ferne, nach Norditalien. 1387 ist Manno da Colonia in Venedig nachzuweisen, wo er zu diesem Zeitpunkt zumindest in geschäftlicher Hinsicht offenbar bereits gut Fuß gefaßt hatte. Zusammen mit drei Partnern – darunter übrigens ein weiterer nach Speyer benannter Jude - vergab er damals einen Kredit über 19.500 Dukaten. 1400 hören wir ein letztes Mal von Mannus, der sich inzwischen im venezianischen Treviso niedergelassen hatte, wo seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts ein regelrechtes Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit entstanden war.
Werke
Menachem Zion ben Meir [=Mannus von Speyer]: Sefer Zioni, Cremona: Vicenzo Conti, 1560.
Literatur
Möschter, Angela, Juden im venezianischen Treviso (1389-1509), Hannover 2008.
Mutius, Hans-Georg von, Mittelalterliche jüdische Gelehrsamkeit in Köln, in: Köln und das rheinische Judentum. Festschrift Germania Judaica 1959, hg. von Jutta Bohnke-Kollwitz [u. a.], Köln 1984, S. 47.51
Schmandt, Matthias, Judei, cives et incole. Studien zur jüdischen Geschichte Kölns im Mittelalter, Hannover 2002.
Schmandt, Matthias, Jüdische Gelehrsamkeit in unruhigen Zeiten. Mannus von Speyer (um 1335 – nach 1400) und seine Familie, in: Irsigler, Franz /Minn, Gisela (Hg.), Porträt einer europäischen Kernregion. Der Rhein-Maas-Raum in historischen Lebensbildern, Trier 2005, S. 121-130.
Yuval, Israel J., Magie und Kabbala unter den Juden im Deutschland des ausgehenden Mittelalters, in: Grözinger, Karl E. (Hg.), Judentum im deutschen Sprachraum, Frankfurt am Main 1991, S. 173-189.
Yuval, Israel J., A German-Jewish Autobiography of the Fourteenth Century, in: Jewish Intellectual History in the Middle Ages, hg. von Joseph Dan, London, Westport, Connecticut 1996 (BINAH; 3), S. 79-99.
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Schmandt, Matthias, Mannus von Speyer, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/mannus-von-speyer/DE-2086/lido/57c9478a99d817.31893637 (abgerufen am 09.12.2024)