Zu den Kapiteln
Der aus Luxemburg stammende Schauspieler René Deltgen war einer der bedeutendsten deutschsprachigen Schauspieler des 20. Jahrhunderts. Er war gleichermaßen erfolgreich auf der Bühne, beim Film sowie in Hörfunk- und Fernsehproduktionen.
René Deltgen stammte aus Esch-sur-Alzette, einer Kleinstadt im Großherzogtum Luxemburg. Hier wurde er am 30.4.1909 als Sohn von Mathias Deltgen (1877-1969) und seiner Frau Katharina, geborene Pütz (1881-1957), geboren. Deltgens Vater bestritt den Lebensunterhalt der Familie als Chemiker beim Escher Stahlwerk der ARBED (Aciéries Réunies de Burbach-Eich-Dudelange).
Deltgen besuchte die Volksschule in seinem Heimatort, was ihm nach eigenem Bekunden kein sonderliches Vergnügen bereitete, und anschließend bis zum Abitur die dortige Industrie-und Handelsschule. Er sei ein wildes Kind gewesen, sagte er über sich, ein echter Raufbold, und obwohl er erste schauspielerische Versuche in einem Theaterverein unternahm, habe er sich als Jugendlicher doch eher für Detektivfilme im Kino interessiert. Andererseits, so Deltgen, sei er aus Ermangelung eines luxemburgischen Nationaltheaters erst nach dem Besuch von Gastspielen großer deutscher Bühnen, unter anderem des Kölner Schauspielhauses, vom Theater fasziniert gewesen. Auf die Idee, Schauspieler zu werden, kam er durch die Annonce der Kölner Schauspielschule, die er zufälligerweise in einer Zeitung entdeckte. Gegen den entschiedenen Widerstand der Eltern beharrte er auf seinem Berufswunsch: Ich verkaufte mein Fahrrad, meine Bücher, all meine Habe und fuhr [1927] nach Köln.[1]
Der Regisseur Alfons Godard (1886-1959) erinnert sich an einen gehemmten und bescheidenen jungen Mann. Von der mit Verve vorgetragenen Ballade, die Deltgen zum Vorsprechen ausgewählt hatte, habe er allerdings nichts verstanden, denn Deltgen sprach Luxemburgisch. Ich hatte kein Wort verstanden und sagte nur: ‚Sie können ja nicht richtig Deutsch sprechen. Wo kommen Sie denn her? Auch Schauspielintendant Theo Modes (1888-1962) sei nicht eben begeistert gewesen und habe verständnislos gefragt, Godard, was wollen Sie denn mit dem? Der kann doch nicht einmal richtig Deutsch.[2]
Die Intensität seines Vortrags habe sie jedoch überzeugt, und Deltgen rechtfertigte das in ihn gesetzte Vertrauen. Nach kurzer Zeit erhielt er bereits seine ersten kleinen Sprechrollen, und am 12.1.1928 wurde sein Name erstmals auf einem Programmzettel genannt.
Die Kosten für die zweijährige Ausbildung an der Kölner Schauspielschule betrugen bei seiner Aufnahme 400 Reichsmark jährlich. Da Deltgen weitgehend mittellos war, erhielt er eine halbe Freistelle, dennoch litt er unter chronischem Geldmangel. Daher rezitierte er bei „Heimatabenden“ und schrieb Gedichte und Artikel für Kölner und Luxemburger Zeitungen.
Nach der Beendigung seiner Schauspielausbildung wurde Deltgen im September 1929 mit einem Dreijahresvertrag übernommen. Lobende Kritiken erhielt er im März 1930 für seine Darstellung des Hakenfingerjakobs in der „Dreigroschenoper“ von Bertolt Brecht (1898-1956) unter der Regie von Godard. Im Februar 1931 gelang ihm der künstlerische Durchbruch in der Titelrolle von Friedrich Forsters (1895-1958) Stück „Der Graue“. Endgültig arriviert war er, als ihm der renommierte Theaterkritiker Herbert Ihering (1888-1977) im Februar 1932 bescheinigte: „Ein großes und persönliches Talent scheint René Deltgen zu sein“ und ihm eine große Zukunft voraussagte.[3]
In Köln lernte Deltgen als junger Mann Bühnengrößen der damaligen Zeit kennen, die Gastspiele am Rhein gaben, wie Attila Hörbiger (1896-1987), Helene Thimig (1889-1974) oder Paul Wegener (1874-1948). Im Juni 1928 stand der 19-Jährige mit Käthe Dorsch (1890-1957) in Carl Zuckmayers „Schinderhannes“ auf der Bühne, wenig später kam Tilla Durieux (1880-1971) zu einem Gastspiel nach Köln.
Im März 1929 spielte Deltgen den Ersten Mörder in „König Richard III.“ von Shakespeare (1564-1616). Es war sein Debüt als Bösewicht, eine Rolle, die er in den folgenden Jahrzehnten immer wieder verkörpern sollte. Bis zum Ende seines Kölner Engagements im Jahre 1935 trat er in 65 verschiedenen Rollen auf.
Abgesehen davon wurde er fallweise zu Hörspielproduktionen der Westdeutschen Rundfunk AG (WERAG) herangezogen. Ein Anknüpfungspunkt ergab sich allein schon durch Deltgens große Leidenschaft, den Fußball. So gehörte er etwa zur „Bühne-Funk-Elf“, in der Kollegen von Theater und Radio gemeinsam Fußball spielten. Diese Tradition führte er auch Ende der 1940er Jahre bei seiner Rückkehr nach Köln fort, jetzt in der (N)WDR-Prominentenmannschaft unter anderem zusammen mit den Reportern und Redakteuren Kurt Brumme oder Franz Winter (1914-2003) und Bernhard Ernst als Schiedsrichter. Als er sich im Jahre 1950 eine Verletzung beim Fußball zuzog, entließ es sich am Abend selbst aus dem Krankenhaus, um im Gipsverband auf der Bühne zu stehen – aus Angst, man werde ihm am Theater am Ende das Fußballspielen verbieten. Nach der Vorstellung begab er sich zurück ins Hospital.
Die Zusammenarbeit mit der WERAG dürfte Deltgen allein aus finanziellen Gründen willkommen gewesen ein – der Kölner Rundfunksender war bekannt für überdurchschnittliche Gagen. Bis 1933 ist seine Mitwirkung in fünf Produktionen nachgewiesen, darunter drei Hörspielinszenierungen des Intendanten Ernst Hardt, beginnend mit „Gas“ von Georg Kaiser (1878-1945) am 27.11.1928.
Schon zu Beginn seiner Bühnenkarriere äußerte sich Deltgen programmatisch zum zeitgenössischen Theater. So lehnte er sowohl die Trennung von Bühne und Zuschauerraum ab als auch Experimentelles als l’art pour l’art. Gerade Letzteres sollte für Deltgens Arbeit als Regisseur nach dem Zweiten Weltkrieg kennzeichnend sein und ihn mit dem WERAG-Intendanten Ernst Hardt verbinden.
Über den Vorgang der Erarbeitung einer neuen Rolle äußerte er in der Rückschau: Das Eintauchen in eine andere Identität ist ein höchst komplizierter, anstrengender und schwer erklärbarer Vorgang. […] Eine Rolle, die mich interessiert – und andere habe ich eigentlich nie gespielt -, ist wie eine fremde Person, die um mich herumgeht und kein Wort spricht, während ich ständig versuche, Kontakt mit ihr zu bekommen. Die einzige Möglichkeit ist selbstverständlich der Text […]. Ich suche diese Figur, die sich wie hinter Nebelschwaden vor mir versteckt. Ich versuche ihrer habhaft zu werden und in sie hineinzukriechen. Das führt dann oft dazu, daß ich nachts nicht schlafen kann und bis morgens drei, vier Uhr herumwandere, verfolgt von meinen Gedanken… Habe ich Zugang zu einer Rolle gefunden, sehe ich die Figur lebendig vor mir. Ich weiß, wie dieser Mensch spricht und wie er sich bewegt.[4]
Auch in privater Hinsicht spielte Köln zeitlebens eine besondere Rolle für Deltgen. Obwohl er seinem Selbstverständnis nach ein „Escher Jong“ blieb, war Köln für ihn Wahl- und zweite Heimat. Immer wieder kehrte er zu längeren Engagements oder Gastspielen an den Rhein zurück, Köln war eine Konstante im Leben des umtriebigen, rastlosen und vielbeschäftigten René Deltgen.
Hier spielte er zum ersten Mal seine Paraderolle als Fliegergeneral Harras in „Des Teufels General“ von Carl Zuckmayer, knüpfte lebenslange Freundschaften zu dem Schauspieler Jochen Poelzig (gestorben 1946) und zu dem WERAG-Intendanten Ernst Hardt. Und hier machte er nicht zuletzt die Bekanntschaft mit der aus Köln stammenden Schauspielkollegin und Absolventin der Schauspielschule, Elisabeth („Elsi“) Scherer (1914-2013), seiner ersten Frau. Mit seiner zweiten Frau Anita Irene („Renée“) d’Orio (1938-2022) und der 1962 geborenen Tochter lebte er bis zu seinem Tod in der Kölner Altstadt. Mit der Spielzeit 1934/1935 endete Deltgens Engagement in Köln.
Im Mai 1934 heirateten René Deltgen und Elsi Scherer. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor: Matthias Pierre (geboren 1936), Florian (geboren 1940) und Katrin (geboren 1943). Die Ehe wurde 1949 geschieden.
Im September 1935 wechselte Deltgen mit einem Dreijahresvertrag an die Städtischen Bühnen in Frankfurt am Main. Den Vertrag hatte er bereits unterschrieben, bevor ihn ein Angebot des Deutschen Theaters in Berlin erreichte. Deltgen löste ihn bereits ein Jahr später auf zugunsten eines Wechsels an die Volksbühne Berlin zur Spielzeit 1936/1937. Hier gab er seinen Einstand als Franz Moor in Friedrich Schillers (1759-1805) „Die Räuber“ an der Seite von Gustav Knuth (1901-1987). Im Sommer 1937 gastierte er in Shakespeares „Romeo und Julia“ mit Gisela Uhlen (1919-2007) in der weiblichen Titelrolle bei den Reichsfestspielen in Heidelberg.
Im Jahre 1941 wurde „Faust I“ von Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) in Berlin zeitgleich am Staatstheater und an der Volksbühne aufgeführt. Während Gustaf Gründgens (1899-1963) den Mephisto als „intellektuellen Salonteufel“ gab, war Deltgens Mephisto nach Jean-Paul Raths Urteil „erdgebundener“ und „vereinigt[e] sowohl den flinken und agilen Harlekin, der mit Witz und Bauerschläue ausgestattet ist, über den aufbrausend Gedemütigten bis hin zum fiesen Intriganten, der scharfsinnig seine zerstörerischen Ziele verfolgt.“[5]
Deltgens Karriere beim Film gelang erst im dritten Anlauf. Bereits im Februar 1931 hatte er seinem Bruder berichtet, ein Agent des Filmkonzerns Ufa sei auf dem Weg zu ihm nach Köln, um Möglichkeiten der Zusammenarbeit auszuloten. Rückblickend äußerte er, es sei dabei um eine am Ende nicht realisierte Verfilmung von „Der Graue“ gegangen. Für einen weiteren Film, für den er ebenfalls im Gespräch war, erhielt er keinen Theaterurlaub.
Sein Filmbedüt gab René Deltgen deshalb erst 1935 mit der Produktion „Das Mädchen Johanna“ (über Jeanne d’Arc) an der Seite von Gustaf Gründgens. Noch im selben Jahr folgte der Film „Einer zuviel an Bord“ mit Albrecht Schoenhals (1888-1978), Lída Baarová (1914-2000) und Willy Birgel (1891-1973).
Aufgrund seines athletischen, durchtrainierten Körpers und seiner rauen Stimme verkörperte Deltgen in den folgenden Jahren immer wieder Abenteurer, Spieler und Glücksritter, ruppige Machos, kurzum: Draufgänger, die sich um gesellschaftliche Konventionen nicht scheren. Und nicht zuletzt Artisten. Selten nur wurde er für Komödien engagiert, und wenn, dann in der Rolle des ungeschlachten Grobians. Seinen Durchbruch als Filmstar erreichte er mit dem Film „Kautschuk“ von 1938 über eine Urwaldexpedition; in „Kongo“ von 1939 spielte er einen Buschpiloten, der mit Willy Birgel um die Gunst der Hauptdarstellerin Marianne Hoppe (1909-2002) konkurriert.
Deltgens vermutlich populärster Film in dieser Ära war „Zirkus Renz“ aus dem Jahre 1943, der die persönliche Hitliste seines Filmschaffens anführte. Für die Produktion ließ er sich von echten Artisten anleiten und trainierte wochenlang die Arbeit unter der Zirkuskuppel. Rückblickend meinte er: Wenn ich nicht Schauspieler geworden wäre, wäre ich sicher Artist geworden.[6]
Für den Film „Das große Spiel“ (1941/1942), in dem Deltgen – zum wahren Leben passend – einen Mittelstürmer gab, erhielt er sogar Trainingseinheiten von Reichstrainer Sepp Herberger (1897-1977) und stand mit „Gastspielern“ wie Fritz Walter (1920-2002) auf dem Platz.
Im Laufe seines Lebens spielte Deltgen in circa 60 Spielfilmen und drehte bis 1945 mit weiteren Film- und Theatergrößen wie Brigitte Horney (1911-1988), Lucie Höflich (1883-1956), Hans Söhnker (1903-1981) und Bernhard Minetti (1905-1998).
Am 20.4.1939 wurde Deltgen zum Staatsschauspieler ernannt. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs findet er sich auf der so genannten „Gottbegnadeten-Liste“, das heißt auf der Liste der Schauspielerinnen und Schauspieler, die für die Filmproduktion unentbehrlich waren. Ende der 1930er Jahre in der Kategorie der Spitzenstars angekommen, verdiente Deltgen bis zu 50.000 Reichsmark pro Film. Hinzu kamen Honorare aus seiner Tätigkeit als Synchronsprecher. In den Jahren von 1936 bis 1939 wurde er allein zehnmal von der deutschen Niederlassung der Metro Goldwyn Meyer verpflichtet. Dabei lieh er seine Stimme insbesondere Spencer Tracey (1900-1967).
Neben seiner Arbeit am Theater und beim Film arbeitete Deltgen wie bereits in Köln für den Hörfunk in nachweislich fünf Hörspielproduktionen für den Deutschlandsender beziehungsweise den Reichssender Berlin. Beginnend mit der Inszenierung „Radium“ von Günter Eich (1907-1972) mit Elisabeth Flickenschildt (1905-1977) und Heinrich George (1893-1946), ausgestrahlt am 19.9.1937. 1939 wirkte er in den Produktionen des Deutschlandsenders „Suez“ (6.10.1939) und „Opium“ (21.12.1939) mit.
Im November 1943 brachte Deltgen seine Familie vor den Luftangriffen auf die Reichshauptstadt in das in der Nähe von Echternach in Luxemburg gelegene Schloss Lauterborn in Sicherheit. Er selbst kehrte nach Berlin zurück, drehte weiter und wurde im Januar 1945 zu Tätigkeiten als Hilfskraft in eine Bau- und Holzhandlung beordert. Vor der Eroberung Luxemburgs durch die US Army im September 1944 wurde Deltgens Familie nach Oberstdorf im Allgäu evakuiert. Dort trafen sie sich im Frühjahr 1945 wieder.
Deltgens Frau Renée sagte über ihn, er sei ganz im Gegensatz zu den Draufgängern, die er häufig spielte, ein „sehr introvertierter“ Mensch gewesen, für den der Charakter eines Menschen ausschlaggebend gewesen sei, nicht Macht oder gesellschaftliche Stellung.[7]
Abseits der Bühne mied Deltgen das Rampenlicht, Glamour und Starkult lagen ihm nicht. Gesellschaftlichen Anlässen in der Theater- und Filmszene ging er nach Möglichkeit aus dem Weg. In seiner Freizeit trieb er lieber Sport – abgesehen vom Fußballspielen boxte er und war ein begeisterter Schwimmer –, widmete sich seiner Familie und seiner Modelleisenbahn und fuhr nach Luxemburg, wann immer es ihm seine Zeit gestattete.
Auch von der Tagespolitik hielt er sich fern. Deltgen war weder Mitglied der NSDAP noch der „Volksdeutschen Bewegung“ (VdB) Luxemburgs. Er nahm vornehmlich Rollen in vordergründig „unpolitischen“ Unterhaltungsfilmen an und mied aggressive antisemitische Propaganda oder Produktionen, die die „Euthanasie“ propagierten. Eine Mitwirkung an dem Hetzfilm „Jud Süß“ (1940) vermochte er sich zu entziehen. Für die Rolle des Joseph Süß Oppenheimer, die schließlich an Ferdinand Marian (1902-1946) hängen blieb, war er unter anderem neben Gustaf Gründgens, Willi Forst (1903-1980) und Paul Dahlke (1904-1984) im Gespräch und absolvierte im November 1940 Probeaufnahmen. Marian äußerte später über das Casting: „Es war der einzig dastehende Konkurrenzkampf von sechs Künstlern, der schlechteste zu sein.“[8]
Nach Kriegsende übernahm Elsi Scherer die Leitung des Oberstdorfer Bauerntheaters, während sich René Deltgen als Koch bei den französischen Besatzungstruppen betätigte und mit einer Pferdedressur Gastspiele bei einem Schweizer Zirkus gab. Zusammen „tingelte“ das Ehepaar durch die Provinz.
Im September 1945 befand sich Deltgen wieder in Luxemburg – im Gefängnis. Es ist nicht ganz klar, ob er ausgeliefert wurde oder sich freiwillig dorthin begab, um sich dem gerichtlichen Verfahren der „Epuration“ zu stellen, in dem der Vorwurf der Kollaboration mit den Nationalsozialisten verhandelt wurde. Dabei wurde ihm zur Last gelegt, am 31.8.1940 einen Aufruf in der Tageszeitung „Luxemburg Wort“ unterzeichnet zu haben, der offen für die Eingliederung Luxemburgs ins Deutsche Reich plädierte und im März 1941 einen Aufruf an die Luxemburger Jugendlichen, sich der „Luxemburger Volksjugend“ anzuschließen. Das Verfahren gegen ihn begann am 29.11.1945 und zog sich über fünf Monate hin. Gegen Ende des Prozesses brach er im Zeugenstand zusammen, zog sich auf die Aussage zurück, er habe den Aufruf aus dem Jahre 1940 nicht unterschrieben, während der Aufruf an die Jugend nachträglich redigiert worden sei. Wie auch immer sich der Vorgang zugetragen haben mag, sein Image bei den Luxemburger Landsleuten war in jedem Fall beschädigt.
Das Urteil im Prozess erging am 30.4.1946. Obwohl der Staatsanwalt zu der Ansicht gelangt war, Deltgen sei kein Nazi gewesen, hielt er ihn doch für schuldig im Sinne der Kollaboration mit den Nationalsozialisten. Als „gefügiges Werkzeug der Nazipropaganda“ wurde er zu zwei Jahren Haft und zu einer Geldbuße von 100.000 Francs verurteilt. Außerdem wurde ihm die luxemburgische Staatsbürgerschaft entzogen.[9] Bis zu deren Wiedererlangung im Jahre 1952 war Deltgen staatenlos. Um einen deutschen Pass hatte er sich nie bemüht, weder in der NS-Zeit, noch nach dem Schuldspruch in Luxemburg. Offenbar verbüßte Deltgen nur einen Teil der Strafe, denn ein Auftritt im Stadttheater Konstanz ist für den 17.9.1946 belegt.
Im Februar 1947 nahm er ein Engagement bei den Städtischen Bühnen in Köln an, „die in den folgenden zwei Jahrzehnten zu Deltgens künstlerischer Heimat auf dem Theatersektor werden.“[10] Er brillierte wiederum in „Des Teufels General“, aber auch in der Titelrolle des Tartuffe im gleichnamigen Schauspiel von Molière (1622-1673). Es wurde rekordverdächtige 133 Mal an den Kölner Kammerspielen aufgeführt und vom Publikum auch bei Gastspielen am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg und in München am Staatstheater gefeiert. Die Hamburger Freie Presse befand gar: „René Deltgen spielt einen schlechthin ideal zu nennenden Tartüff.“[11]
Im Januar 1965 begann seine bis Anfang der 1970er Jahre währende Zusammenarbeit mit dem Tourneetheater-Ensemble „bühne 64“. 1966 folgte eine Verpflichtung an die Münchner Kammerspiele für die Inszenierung von Harold Pinters (1930-2008) „Die Heimkehr“, und in den Spielzeiten 1966-1969 war er am Schauspielhaus Zürich engagiert. „Von nun an pendelt er zwischen den Städten Zürich, München und Köln ständig hin und her, mit einer Rastlosigkeit, die ihn schon öfters auszeichnete: Allein für die Spielzeit 67/68 bedeutet dies fünf Premieren in Zürich, zwei in München und eine Wiederaufnahme in Köln. Später kommen noch Hamburg [Thalia-Theater] und [das Burgtheater] Wien als weitere Spielstätten hinzu.“[12]
Ende der 1940er Jahre beginnt auch Deltgens Tätigkeit als Regisseur am Theater. Bis 1975 inszenierte er 22 Stücke, insbesondere aus der Zeit des Realismus und Naturalismus, und in 16 dieser Produktionen spielte er selbst die Hauptrolle. Ab 1953 erfolgte eine Annäherung an zeitgenössische Autoren, beginnend 1953 mit der Inszenierung von „Endstation Sehnsucht“ von Tennessee Williams (1911-1983). Es folgten unter anderem „Gottes Utopia“ von Stefan Andres im Jahre 1961 in Köln und „Die Heimkehr“ von Harold Pinter am Schauspielhaus Zürich 1967.
Dabei ist Deltgens Regiearbeit gekennzeichnet durch die Ablehnung ästhetischer Experimente und jedweder Art von Starkult sowie der Instrumentalisierung des Theaters zu politischen Zwecken, etwa durch die Unterbrechung von Vorstellungen durch die 68er-Bewegung zwecks Verlesung politischer Manifeste.
Für ihn standen das Werk und die Leistung des Ensembles im Vordergrund, hinter die der Regisseur, Hauptdarsteller oder andere Motive zurückzutreten hatten. In diesem Sinne äußerte Erik Ode (1910-1983) nach Deltgens Tod: „Er gehörte zu den wenigen Menschen in diesem Beruf, die immer fair, anständig und kollegial arbeiteten. Er spielte nie für sich allein – immer für den Partner mit.“[13]
Deltgens Karriere beim Film kam nach 1945 nur langsam wieder in Gang. Er war zwar nach wie vor hochproduktiv, schaffte es jedoch nicht mehr, sich in der Riege der Spitzenstars zu etablieren. Große Rollen wurden ihm immer seltener angeboten. Deltgens Image als Abenteurer, Draufgänger und harter Kerl wendete sich nun ins Gegenteil. Helden waren jetzt, nachdem die deutsche Filmwirtschaft gegen Ende der 1940er Jahre wieder Fahrt aufnahm, beim weiblichen Publikum nicht mehr geschätzt. Gefragt waren jetzt smartere Nachwuchsschauspieler wie O. W. Fischer (1915-2004), Curd Jürgens (1915-1982) oder Dieter Borsche (1909-1982). Deltgen spielte weiter in Zirkus-, Artisten, Abenteurer- und Exotenfilmen wie „Der Tiger von Eschnapur“ von Fritz Lang (1890-1976) und der Fortsetzung „Das indische Grabmal“ (1958/1959), doch selbst in seiner Paraderolle als Fliegergeneral Harras in Zuckmayers „Des Teufels General“ hatte er nun bei dem Regisseur Helmut Käutner das Nachsehen gegenüber Curd Jürgens.
Zudem griff Deltgen in den 1950er Jahren eher auf bewährte Kontakte zurück und drehte unter der Regie von Wolfgang Liebeneiner (1905-1987) „Königin Luise“ (1957) in der Rolle Napoleons mit Ruth Leuwerik (1924-2016) oder mit Veit Harlan (1899-1964) den Spielfilm „Sterne über Colombo“ (1953) mit Kristina Söderbaum (1912-2001) und Willy Birgel. Junge Regisseure wie Wolfgang Staudte (1906-1984) oder Bernhard Wicki (1919-2000) fehlen hingegen.
Anfang der 1960er Jahre stellte er fest: Man hat keine Stoffe mehr für mich. Jean Gabin und Spencer Tracey würden wahrscheinlich in Deutschland auch spazieren gehen. Den deutschen Film an sich betrachtete er als festgefahren und einen ziemlich hoffnungslos[en] Fall.[14]
Deltgens Filmgagen waren auch nach 1945 beträchtlich, beliefen sich allerdings zum Teil nur auf ein Viertel dessen, was die neue Generation an Filmstars wie Curd Jürgens, O. W. Fischer oder Maria Schell (1926-2005) verlangen konnte. Ohne Zweifel war Deltgen als Filmschauspieler nach wie vor erfolgreich – das Theater stand für ihn jedoch immer an erster Stelle. Als er das Angebot erhielt, an der Seite von Richard Burton (1925-1984) im Film „The Spy Came In From The Cold“ (1965) zu spielen, lehnte er zugunsten einer Theatertournee ab.
Einem breiten Publikum in Erinnerung geblieben ist Deltgen nicht zuletzt durch die Verkörperung der Rolle des Hexers im Film „Der Hexer“ von 1964 und „Neues vom Hexer“ von 1965 nach Edgar Wallace (1875-1932).
Im Gegensatz zum deutschen Film, den Deltgen gegen Ende der 1950er Jahre in einer Sackgasse sah, stand er dem neuen Medium Fernsehen grundsätzlich positiv gegenüber. Schon 1960-1962 erscheint Deltgen in drei Fernsehspielen auf der Mattscheibe: 1960 in „Die Friedhöfe“ von Rolf Hädrich (1931-2000), produziert vom Hessischen Rundfunk, 1961/1962 in der WDR-Produktion „Ein verdienter Staatsmann“ nach T. S. Eliot (1888-1965) mit Bernhard Minetti und 1962 in erneuter Zusammenarbeit mit Hädrich für den HR im Fernsehspiel „Der Gefangene“ an der Seite von Dieter Borsche.
In den beiden letzten Jahrzehnten seines Lebens kristallisierte sich ein neuer Rollentyp für Deltgen heraus. Nun spielte er Patriarchen, die ihre Macht angesichts schwindender Kräfte im Alter zu verteidigen versuchen. Im Gegensatz zu Schauspielkollegen wie Erik Ode (1910-1983) oder Horst Tappert vermied er es jedoch, sich auf Serienrollen festlegen zu lassen. Auch in diesem Fall hatte das Theater für ihn Priorität.
Eine Ausnahme von der Serienabstinenz machte er gegen Ende seines Lebens für die 26-teilige Fernsehserie „Heidi“ (1978), in der er den Alp-Öhi verkörpert. Im selben Jahr beeindruckte er zusammen mit Bruno Ganz (1941-2019) in der Produktion von Wolfgang Petersen (1941-2022) mit dem Titel „Schwarz und weiß wie Tage und Nächte“. Bis zu seinem Tod spielte Deltgen in insgesamt 31 Fernsehproduktionen.
In Zusammenhang mit Deltgens umfangreicher Beschäftigung im Hörfunk als Schauspieler, Sprecher oder Rezitator ist in erster Linie seine Paraderolle als Privatdetektiv Paul Temple zu nennen. Zahlreiche Staffeln der beliebten Mehrteiler nach den Romanen von Francis Durbridge (1912-1998) produzierte der (N)WDR Köln vom 7.11.1949 bis zum 1.4.1966 mit René Deltgen in der Hauptrolle.
Im Alter litt René Deltgen an den Folgen einer nicht ausgeheilten Hepatitis, die er sich möglicherweise bei Dreharbeiten in den Tropen zugezogen hatte. In der Folge entwickelten sich eine Leberzirrhose und ein Leberkarzinom. Deltgen starb am 29.1.1979 in Köln. Sein Grab befindet sich auf dem Melatenfriedhof.
Im April 1979 wurde er zum Ehrenmitglied der Bühnen der Stadt Köln ernannt. Bereits 1954 hatte er den Deutscher Filmpreis als bester Hauptdarsteller für die Produktion „Weg ohne Umkehr“ erhalten und im Juni 1978 das Filmband in Gold für sein Lebenswerk.
Der Theaterkritiker Günther Rühle würdigte ihn in einem Nachruf in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“: „Deltgen wurde immer feiner, zurückhaltender, durchsichtiger im Spiel. […] Er spielte gern Brutalität, Schlägertum, Zynismus und Abgefeimtheit, Hinterlist, Trotzigkeit, dann aber auch Unbekümmertheit, Lebensfreude, Charme, Wagemut und auch Kauziges, Verkommenes: Menschen aus vielen sozialen Schichten. In dem harten Kerl steckte eine weiche Seele, und je mehr man von dieser sah, umso mehr glaubte man daran, daß er sich die harte Seite seiner Auftritte abgetrotzt habe.“[15]
Literatur
Jung, Uli, Das umkämpfte Terrain. Die politischen Filme René Deltgens im „Dritten Reich“, in: Jung, Uli /Lesch, Paul/Raths, Jean-Paul /Wenk, Michael, René Deltgen. Eine Schauspielerkarriere, Dudelange 2002, S. 119-141.
Klee, Ernst, Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt am Main 2009, S. 97.
Lesch, Paul, Der „Fall“ Deltgen. Luxemburgs gespaltenes Verhältnis zu einem seiner bekanntesten Künstler, in: Jung, Uli /Lesch, Paul/ Raths, Jean-Paul /Wenk, Michael, René Deltgen. Eine Schauspielerkarriere, Dudelange 2002, S. 13-35.
Raths, Jean-Paul, 48 Jahre Bühnentreue. René Deltgens Theaterarbeit, in: Uli Jung / Paul Lesch / Jean-Paul Raths / Michael Wenk, René Deltgen. Eine Schauspielerkarriere, Dudelange 2002, S. 37-117.
Wenk, Michael, „Ech sin en Escher Jong, dât sét jo alles. Biographische Notizen zum Luxemburger Schauspieler René Deltgen, in: Uli Jung / Paul Lesch / Jean-Paul Raths / Michael Wenk, René Deltgen. Eine Schauspielerkarriere, Dudelange 2002, S. 143-155.
Wenk, Michael, Ein Kerl zum Pferdestehen. Der Schauspieler René Deltgen in Film und Fernsehen, in: Jung, Uli /Lesch, Paul/ Raths, Jean-Paul /Wenk, Michael, René Deltgen. Eine Schauspielerkarriere, Dudelange 2002, S. 65-141.
- 1: Zitiert nach Raths, S. 37.
- 2: Zitiert nach Raths, S. 38.
- 3: Zitiert nach Raths, S. 42.
- 4: Zitiert nach Raths, S. 52.
- 5: Raths, S. 49.
- 6: Zitiert nach Wenk, Kerl, S. 87.
- 7: Zitiert nach Wenk, Escher Jong, S. 153.
- 8: Zitiert nach Wenk, Kerl, S. 82.
- 9: Wenk, S. 95.
- 10: Wenk, Escher Jong, S. 151.
- 11: Zitiert nach Raths, S. 53.
- 12: Raths, S. 59.
- 13: Zitiert nach Raths, S. 55.
- 14: Zitiert nach Wenk, Kerl, S. 109.
- 15: Zitiert nach Raths, S. 61.
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Bernard, Birgit, René Deltgen, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/ren%25C3%25A9-deltgen/DE-2086/lido/64c8ce23974a23.29444229 (abgerufen am 05.10.2024)