Zu den Kapiteln
1. Einleitung
Varnhagen war der Name eines ritterbürtigen Geschlechts, das nach Stiftung einer erblichen Vikarie (geistlichen Stiftung) in Iserlohn durch den kölnischen Kanoniker Konrad von Ense genannt Varnhagen (1520) vorwiegend Pfarrer und Ärzte hervorbrachte und im 19. Jahrhundert durch mehrere Schriftsteller unter seinen Nachfahren Weltruhm erlangte.
Der erste Inhaber der Vikarie wurde Lutheraner und heiratete; die Familie teilte sich in eine Waldeckische, eine Briloner und eine (re-katholisierte) Paderborner Linie, der die rheinischen Varnhagens entstammen. Zu besonderer Bedeutung gelangten der Mediziner Johann Jacob Andreas Varnhagen (1756-1799), die Schriftstellerin und Silhouetten-Künstlerin Rosa Maria Assing, geborene Varnhagen (1783-1840), und der Schriftsteller und Diplomat Karl August Varnhagen von Ense (1785-1858).
2.Johann Jacob Andreas Varnhagen
Johann Jacob Andreas Varnhagen kam am 13.9.1756 in Düsseldorf zur Welt. Sein Vater entstammte dem katholischen Paderborner Zweig der Familie und war kurfürstlicher Medizinalrat; seine Mutter avancierte als Witwe zur Oberkammerfrau am kurpfälzischen Hof in Mannheim. 1774 nahm ihr Sohn das Studium in Heidelberg auf, das er in Straßburg und Paris fortsetzte. 1782 ließ sich Varnhagen als Medizinalrat und Stadtphysikus (Arzt) in Düsseldorf nieder und heiratete die protestantische Straßburgerin Anna Maria Kunz (1755-1826). Einer Abmachung mit seiner strenggläubigen Mutter folgend, ließ er seine Tochter lutherisch, den zwei Jahre später geborenen Sohn dagegen katholisch taufen, erzog aber beide Kinder nach den aufgeklärten Grundsätzen Jean-Jacques Rousseaus (1717-1778). Seinen Sohn ließ er zum Beispiel eine – gesundheitlich zuträgliche – orientalische Tracht tragen , was bei kirchenfrommen Nachbarn Ärgernis erregte. Varnhagen selbst trat mit diätetischen und hygienepolitischen Schriften hervor, gründete (unter anderem mit Heinrich Heines Großonkel Gottschalk van Geldern (17726-1779)) einen Verein zur ärztlichen Versorgung Notleidender und warb, allerdings erfolglos, für die Gründung eines überkonfessionellen Armenkrankenhauses.
Von den Idealen der Revolution begeistert, siedelte Varnhagen 1791 nach Straßburg über. Seine Aussicht auf eine medizinische Professur wurde jedoch durch den ersten der Revolutionskriege, den Koalitionskrieg von 1792, vereitelt. Mit seinem Sohn – Ehefrau und Tochter blieben bei den Schwiegereltern in Straßburg – kehrte Varnhagen ins Rheinland zurück. Dort verweigerte man ihm die Niederlassung, weil er den französischen Bürgereid geleistet und die Uniform der Nationalgarde getragen hatte. Varnhagen quartierte sich in Neuss ein, um tagsüber in Düsseldorf zu praktizieren, was ebenso wie seine unentgeltlichen Vorlesungen untersagt wurde. Seine Flugschrift „Epistola ad Argentinenses" (Straßburg 1791) hatte eine Polemik provoziert, in deren Verlauf er als Illuminat und jakobinischer Agitator verdächtigt wurde. Vergebens protestierten 67 Düsseldorfer in einer Bittschrift gegen Varnhagens Ausbürgerung. 1794 zog er nach Hamburg, wohin er 1796 Ehefrau und Tochter nachkommen ließ, und wo er bis zu seinem frühen Tod am 5.6.1799 unter anderem mit Matthias Claudius (1740-1815) und dem Ehepaar Reimarus verkehrte.
Rosa Maria Antonetta Paulina Varnhagen
Rosa Maria Antonetta Paulina Varnhagen, am 28.5.1783 in Düsseldorf geboren, verbrachte ihre Jugend im Zeichen politischer Umbrüche. Als sie 1789 mit ihrer Mutter nach Straßburg reiste, kehrte sie mit einer Trikolorenschärpe, dem Symbol der Französischen Revolution, zurück. 1791-1794 lebte sie getrennt von Vater und Bruder und erlernte mit dem Gitarrenspiel das revolutionäre Liedgut. In Hamburg wurde der gemeinsame Unterricht der Varnhagen-Geschwister fortgesetzt, Zeichenstunden waren Rosa Maria vorbehalten. Ihr gestalterisches Talent vervollkommnete sie in ihren bereits zu Lebzeiten ausgestellten Scherenschnitten, Märchenszenen in Bunt- und Schwarzpapier, die florale Motive detailliert und naturgetreu wiedergaben.
Nach dem Tod des Vaters bestritt sie ihren Lebensunterhalt als Erzieherin in jüdischen Kaufmannsfamilien. 1811 eröffnete sie eine Töchterschule in Altona, die 1814 nach Hamburg verlegt wurde. Beiträge zu Musenalmanachen ihres Bruders zeichnete sie als „Rosa Maria". Auch zur schwäbischen Dichterschule um Ludwig Uhland (1787-1862), Justinus Kerner (1786-1862) und Gustav Schwab (1792-1850) pflegte sie literarische und persönliche Kontakte; mit Adelbert von Chamisso (1781-1838) teilte sie das Interesse für Botanik und altfranzösische Lyrik. 1816 heiratete sie David Assur (1787-1842), einen jüdischen Arzt aus Königsberg, der ebenfalls Gedichte schrieb.
Der Trauung ging Assurs Taufe voran, die seine Niederlassung in Hamburg ermöglichte; zugleich nahm er den Nachnamen Assing an. Die beiden Kinder aus dieser Ehe, Ottilie (1819-1884) und Ludmilla Assing (1821-1880), wurden später mit Biographien, politischer Journalistik und Übersetzungen bekannt. In der Poolstraße führten die Assings einen Salon, der neben dem ihrer berühmt gewordenen Schwägerin Rahel Varnhagen (1771-1833) in Berlin zum zweiten geistigen Zentrum des Jungen Deutschlands wurde. Hier verkehrten Heinrich Heine (den Rosa Maria Assing 1835 mit ihren Töchtern in Paris besuchte), der junge Friedrich Hebbel (1813-1863), Theodor Mundt (1808-1861), Ludolf Wienbarg (1802-1872), die jüdischen Aufklärer Gabriel Riesser (1806-1863) und Salomon Ludwig Steinheim (1789-1866). Angeleitet von Karl Gutzkow (1811-1878) las man mit verteilten Rollen die Dramen Shakespeares und der deutschen Klassik. In Gutzkows Zeitschrift „Telegraph für Deutschland" erschienen Rosa Marias Novellen und erste Feuilletonbeiträge ihrer Töchter. Am 22.1.1840 erlag sie einer schweren Krankheit. Der Witwer gab ihre Dichtungen sowie eigene „Nenien auf den Tod Rosa Marias" heraus und verstarb selbst anderthalb Jahre später.
Karl August Ludwig Philipp Varnhagen von Ense
Karl August Ludwig Philipp Varnhagen von Ense, geboren am 21.2.1785 in Düsseldorf, wurde früh für den Arztberuf bestimmt, den er nur kurzzeitig ausübte. Ein Freund der Familie ermöglichte ihm den Besuch der Pépinière in Berlin, einer 1795 für die Aus- und Weiterbildung von Militärärzten gegründeten Chirurgieschule . Als das Stipendium ausblieb, wurde Karl August Varnhagen Hauslehrer in den jüdischen Häusern Berlins und Hamburgs und lernte so die vierzehn Jahre ältere geistvolle Berliner Salonière (Gastgeberin in einem Salon) Rahel Levin, genannt Robert (1771-1833) kennen, für die er ein früheres Verlöbnis löste. In dieser Zeit erschienen erste Gedichte, Novellen und ein parodistischer Kollektivroman. Der Versuch, sein Studium in Halle oder Tübingen abzuschließen, scheiterte. 1809 trat Varnhagen in österreichische Militärdienste, wurde in der für Napoleon Bonaparte (1769-1821) siegreichen Schlacht bei Wagram verwundet und reiste als Adjutant des Obersten Bentheim unter anderem nach Westfalen, Prag und Paris.
In der Bentheimischen Schlossbibliothek zu Steinfurt entdeckte Varnhagen seine westfälischen Vorfahren und nannte sich fortan „von Ense" (später durch königlich-preußisches Adelspatent bestätigt). Während der Freiheitskriege diente er unter dem russischen General Friedrich Karl von Tettenborn (1778-1845), der mit einer Kosakenarmee unter anderem Hamburg eroberte. Auf Varnhagens Pressearbeit wurde der preußische Staatskanzler Hardenberg aufmerksam und berief ihn 1814 in seinen Mitarbeiterstab. Kurz zuvor heiratete Varnhagen die inzwischen getaufte Rahel, deren Briefe über Goethes „Wilhelm Meister" er mit Zustimmung des Dichters zum Druck befördert hatte. Nach dem Wiener Kongress wurde Varnhagen preußischer Minister-Resident in Baden. 1819 auf Betreiben des österreichischen Außenministers Clemens Wenzel Lothar von Metternich abberufen, kehrte er nach Berlin zurück. Als Diplomat im Wartestand publizierte er Biographien, „Denkwürdigkeiten des eignen Lebens" sowie, gemeinsam mit Eduard Gans (1797/1798-1839) und Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831), die „Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik".
Nach dem Tod seiner Frau gab er ihre Briefsammlung „Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde" (1833/1834) heraus. Mit ihren ca. 6.000 Briefen und weiteren, an das Ehepaar Varnhagen gerichteten gründete er eine Autographensammlung, die mit Manuskripten, Porträts, Büchern und Zeitungsausschnitten die literarisch-politische Entwicklung der Goethezeit dokumentiert. Überdies schrieb Varnhagen Leitartikel, Feuilletons und Rezensionen, die ihn als Entdecker junger Autoren von Heinrich Heine bis Gottfried Keller (1819-1890) ausweisen. Von Reisen und Kuraufenthalten abgesehen, blieb er in Berlin, wo er zum Beobachter der bürgerlichen Opposition, der Märzrevolution und der Reaktionsära wurde. Er förderte die Goethe-Philologie (unter anderem Heinrich Düntzer in Köln), pflegte Kontakte in England und Frankreich, lernte Russisch und machte mit Übersetzungen und Aufsätzen auf die russische Literatur, besonders auf den russischen Dichter Alexander Sergejewitsch Puschkin (1799-1837) aufmerksam.
Varnhagen starb am 10.10.1858. Seine Nichte Ludmilla Assing veröffentlichte 1860 seine Korrespondenz mit Alexander von Humboldt (1769-1859), deren politische Brisanz dem Buch weltweite Aufmerksamkeit und fünf Auflagen in wenigen Wochen bescherte. Vehement befehdet wurden Varnhagens „Tagebücher" (14 Bände, 1861-1870), deren Chronik der Jahre 1848/1849 verboten wurde. In Preußen steckbrieflich verfolgt, ließ Ludmilla Assing von Florenz aus weitere Briefbände sowie „Ausgewählte Schriften" (1871-1876) Varnhagens folgen. Seine Sammlung stiftete sie testamentarisch nach Berlin; die im Zweiten Weltkrieg nach Schlesien ausgelagerten Handschriften werden gegenwärtig in der Jagiellonen-Bibliothek in Krakau aufbewahrt.
Quellen
Anmerkungen des Publikums der Stadt Düsseldorf auf die von dem Arzte J. A. Varnhagen am 1. Mai laufenden Jahres hier in Druck erlassene sogenannte Verläumdungs-Rüge, Düsseldorf 1792.
Assing, David Assur (Hg.), Rosa Maria's poetischer Nachlaß, Altona 1841.
Kirchner, Joachim (Hg.) Silhouetten aus dem Nachlaß von Varnhagen von Ense, Berlin [1925].
Stern, Ludwig, Die Varnhagen von Ensesche Sammlung in der Königlichen Bibliothek zu Berlin, geordnet und verzeichnet, Berlin 1911.
Varnhagen von Ense, Karl August, Werke in fünf Bänden, hg. von Konrad Feilchenfeldt, Frankfurt a.M. 1987-1994.
Literatur
Diepgen, Karl, Im Heerdter Exil: Varnhagen, Vater und Sohn. Wie Heerdt in die Literatur der deutschen Klassik einging, in: Heerdt im Wandel der Zeit 5 (2000), S. 123-132.
Dross, Fritz, Krankenhaus und lokale Politik 1770-1850. Das Beispiel Düsseldorf, Essen 2004, S. 182-199.
Gatter, Nikolaus, „Gift, geradezu Gift für das unwissende Publicum." Der diaristische Nachlaß von Karl August Varnhagen und die Polemik gegen Ludmilla Assings Editionen, Bielefeld 1996.
Gatter, Nikolaus, „Was doch der Assing und der August für vortreffliche Frauen haben!" Heines Freundin Rosa Maria, in: Hundt, Irina (Hg.), Frauen der Heinezeit, Stuttgart u.a. 2002, S. 91-110.
Schipke, Renate, „Du treibst die Kunst immer höher." Rosa Maria Assing als Silhouetteurin, in: Schwarz auf Weiß. Zeitschrift des deutschen Scherenschnittvereins 3 (1997), Heft 6, S. 6-13.
Schubert, Friedrich, Der Fall Varnhagen. Skandalgeschichte aus dem alten Düsseldorf, in: Jan Wellem 5 (1930), Heft 4, S. 109-113.
Online
Varnhagen Gesellschaft e. V. (Website der Varnhagen Gesellschaft e.V.). [Online]
Walzel, Oskar F., Artikel "Varnhagen von Ense, Karl August", in: Allgemeine Deutsche Biographie 39 (1895), S. 769-780. [Online]
Walzel, Oskar F., Artikel "Varnhagen von Ense, Rahel", in: Allgemeine Deutsche Biographie 39 (1895), S. 780-789. [Online]
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Gatter, Nikolaus, Varnhagen, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/varnhagen/DE-2086/lido/57c9379dd57ac0.19353368 (abgerufen am 12.12.2024)