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Friedrich Wilhelm Raiffeisen gilt mit seinen Mitte des 19. Jahrhunderts initiierten Darlehnskassenvereinen als der Pionier des neuzeitlichen ländlichen Genossenschaftswesens.
Friedrich Wilhelm Raiffeisen wurde am 30.3.1818 in Hamm an der Sieg als Sohn des Landwirts und Bürgermeisters Raiffeisen und dessen Frau Amalie Lantzendörffer geboren. Raiffeisen strebte zunächst eine Karriere in der preußischen Armee an, die er jedoch 1843 wegen eines chronischen Augenleidens aufgeben musste. Stattdessen trat er in den zivilen Verwaltungsdienst ein und wurde bereits 1845 kommissarischer Bürgermeister von Weyerbusch im Westerwald. Im gleichen Jahr ging er die Ehe mit der aus Remagen stammenden Apothekertochter Emilie Storck (1827-1863) ein. 1848 wurde Raiffeisen Bürgermeister in Flammersbach an der Sieg, 1852 in Heddesdorf bei Neuwied. 1865 sah sich Raiffeisen aus gesundheitlichen Gründen gezwungen frühzeitig in Pension zu gehen. Er verstarb am 11.3.1888 in Heddesdorf / Rhein.
Die Entstehung der Raiffeisen-Genossenschaften
Ausgangspunkt von Raiffeisens sozialreformerischen Bestrebungen war die letzte mitteleuropäische Hungersnot im Winter 1846/ 1847. Raiffeisen, zu diesem Zeitpunkt Bürgermeister der Landgemeinde Weyerbusch, gelang es durch die offensichtlich charismatische Wirkung seiner Persönlichkeit, die noch relativ wohlhabenden Bürger für sein Vorhaben zu gewinnen, vorhandene Barmittel in einen Fonds einzuzahlen, um damit Getreide zu beschaffen, das an die unter der Hungersnot Leidenden auf Kredit ausgegeben wurde. Später errichtete er ein gemeinschaftliches Backhaus. Das dort hergestellte Brot wurde auf Schuldschein an Bedürftige abgegeben.
Der als organisatorischer Rahmen der Hilfstätigkeit 1846/ 1847 gegründete "Brodverein" wurde die Keimzelle der Raiffeisenschen Genossenschaftsidee, jedoch war er noch keine Genossenschaft im eigentlichen Sinne, da nur die Begüterten Mitglied des Vereins wurden, nicht jedoch die Kreditnehmer. Dies gilt auch für die nächsten von ihm gegründeten Einrichtungen wie den "Hülfsverein" von 1849 in seiner Bürgermeisterstelle Flammersfeld. Dieser sollte mittels zinsgünstiger Kredite die Bauern vom weit verbreiteten wucherischen Geldverleih unabhängig machen. Der "Wohlthätigkeitsverein" von 1854 in Heddesdorf, wo Raiffeisen zuletzt Bürgermeister war, beabsichtigte, neben der Kreditvergabe auch den Aufbau einer Volksbibliothek, die Strafentlassenenfürsorge sowie die Betreuung verwahrloster Kinder. Gerade das Konzept des letztgenannten Vereins zeigt, dass es dem zutiefst christlich geprägten Raiffeisen nicht in erster Linie um rein monetäre Bestrebungen ging.
Erst Anfang der 1860er Jahre entschloss Raiffeisen sich widerstrebend dazu, seine Vereine auf der Basis gegenseitiger Selbsthilfe umzustrukturieren und auf das reine Kreditgeschäft zu beschränken, nachdem die Begüterten sich immer mehr aus den wohltätigen Aktivitäten, für die sie unbeschränkt hafteten („Einer für alle und alle für einen") zurückzogen. Mit dem Heddesdorfer Darlehnskassen-Verein von 1864 vollzog Raiffeisen endgültig diesen Übergang.
1865 wurde Raiffeisen aufgrund seines Augenleidens vorzeitig pensioniert. Seine genossenschaftlichen Erfahrungen legte er erstmals schriftlich in dem Buch über die „Darlehnskassen-Vereine" dar, dass noch zu seinen Lebzeiten mehrere Auflagen erfuhr. Schon 1868 gab es in der Rheinprovinz 75 solcher Darlehnskassen-Vereine, an die sich oft auch Warenbezugs- und Absatzzentralen anschlossen.
Die Merkmale der Raiffeisen-Genossenschaften
Raiffeisen entwickelte dabei für seine Vereine eine Reihe von Kriterien, an denen er bei sonstiger organisatorischer Flexibilität dauerhaft festhielt.
Vereinsbezirk
Raiffeisen hat nach anfänglicher anderer Auffassung mit großer Bestimmtheit die Forderung nach der Identität von Vereins- und Kirchspielsgrenzen vertreten. Mit dem Rückgriff auf die Organisationseinheit der Parochie wollte Raiffeisen den Effekt gegenseitiger Sozialkontrolle nutzen, um eine kontrollierte und zielgerichtete Kreditvergabe zu ermöglichen.
Mitgliedschaft und Ehrenamtlichkeit
In den Genossenschaften waren sowohl Kreditnehmer wie auch Kreditgeber Mitglieder. Hier entstand nun eine Haltung wechselseitiger Solidarität. Der Kreditnehmer von heute konnte der Kreditgeber von morgen sein. Alle Aufgaben in der Genossenschaft sollten ehrenamtlich ausgeführt werden. Lediglich der Kassenführer erhielt eine Aufwandsentschädigung.
Solidarhaft
Gegen alle Anfeindungen hat Raiffeisen zeitlebens unbeirrt an der Einrichtung der unbeschränkten Solidarhaft aller Mitglieder für etwaige Vereinsschulden festgehalten. Ursprünglich bedeutete dies, dass ein Vereinsmitglied für sämtliche Verbindlichkeiten des Vereins haftbar war, wenn etwa ein Gläubiger ihn auf Zahlung verklagte. Nach dem Genossenschaftsgesetz von 1868 wurden dann eventuelle Verbindlichkeiten auf alle Vereinsmitglieder umgelegt. Trotz oder gerade wegen dieser für die Mitglieder abschreckend wirkenden Einrichtung hat zu Raiffeisens Lebzeiten kein einziger seiner Vereine bankrott gemacht.
Vereinskapital, Geschäftsanteile und Dividende
Kernstück der Raiffeisen'schen Darlehnskassen war neben der unbeschränkten Solidarhaft der Gedanke des unteilbaren Stiftungsfonds, eng verbunden mit der Ablehnung von Geschäftsanteilen und Dividenden. Nach der Interpellation des Genossenschaftsführers Hermann Schulze-Delitzsch (1808-1883) im Reichstag, kam es zu ihrer nur symbolisch geringen Einführung. Nach Raiffeisens Vorstellungen sollte der Gewinn durch Zinserträge dem Vereinskapital zugute kommen. Aus diesem wurde ein Stiftungsfonds gegründet, aus dessen Erträgen wiederum weit gespannte soziale Aktivitäten finanziert wurden.
Weitere Pläne Raiffeisens
Obwohl die Darlehnskassen-Vereine trotz aller Anfeindungen mittlerweile zu einer beachtlichen Organisation herangewachsen waren und Raiffeisen den christlichen Charakter seiner Vereine auch gegen Widerstand verteidigt hatte, strebte er nach einer verbindlicheren Form des christlichen Handelns durch genossenschaftliche Organisationen. Raiffeisen kam zu diesem Zweck auf den Plan, eine Handelsgesellschaft nach dem Muster der Betriebe der in Neuwied ansässigen Herrnhuter Brüdergemeinde zu gründen. Ähnlich wie in diesen Firmen sollte der Gewinn nicht verteilt werden, sondern in diesem Falle der Verbandsorganisation zugute kommen. Raiffeisen plante, damit die laufenden Ausgaben zu bestreiten, die Mitarbeiter zu besolden und gleichzeitig eine Pensionskasse für sie zu bilden. Neben diesen wirtschaftlichen Aspekten verfolgte Raiffeisen mit seiner Firmengründung aber auch noch eine andere Absicht: Um geeignete Mitarbeiter für sein Genossenschaftswerk zu finden, deren Motivation nicht Verdienst oder Ehre, sondern von christlicher Nächstenliebe geprägter Einsatz für die sozial Benachteiligten sein sollte, plante er, eine Kommunität zu gründen.
Auch hier hatte er wiederum ein konkretes Vorbild vor Augen: die katholische Krankenpflege-Gesellschaft in Waldbreitbach. Wie in einer geistlichen Bruderschaft sollten die Mitglieder Ehelosigkeit, Verzicht auf Privatbesitz und unbedingten Gehorsam ihrem Vorgesetzten gegenüber geloben. Der Austritt blieb jederzeit freigestellt. Voraussetzung für den Eintritt in die Gesellschaft sollte die Zugehörigkeit zu einer christlichen Konfession sowie bisher bewiesenes gemeinnütziges Engagement sein. Raiffeisen hoffte damit auch, für die Rekrutierung von geeigneten Mitarbeitern in der Genossenschaftsarbeit auf diese Kommunität zurückgreifen zu können. Raiffeisen konnte seine Pläne jedoch nicht verwirklichen und gründete stattdessen eine Handelsgesellschaft, die wenigstens teilweise die gesteckten Ziele umsetzen sollte. An seinen karitativen Absichten hielt Raiffeisen in der Handelsgesellschaft insofern fest, als die Statuten festlegten, dass der Gewinn der Firma zur Ansammlung eines Reservekapitals sowie zu sozialen Aktivitäten verwandt werden sollte.
Quellen
Koch, Walter (Hg.), Statuten, Dokumente und Schriftwechsel mit den Behörden 1846-1888/Friedrich Wilhelm Raiffeisen, Fürstenfeldbruck 1996.
Werke
Die Darlehnskassen-Vereine als Mittel zur Abhilfe der Noth der ländlichen Bevölkerung, sowie auch der städtischen Handwerker und Arbeiter, Neuwied 1866.
Literatur
Friedrich Wilhem Raiffeisen (1818-1888) (Information über Leben und Werk von Friedrich Wilhelm Raiffeisen. PDF-Dokument auf der Website des Deutschen Raiffeisenverbandes).
Klein, Michael, Bankier der Barmherzigkeit: Friedrich Wilhelm Raiffeisen, Neukirchen-Vluyn 2008.
Klein, Michael, Leben, Werk und Nachwirkung des Genossenschaftsgründers Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818-1888), Dargestellt im Zusammenhang mit dem deutschen sozialen Protestantismus, Köln 1997.
Koch, Walter, Der Genossenschaftsgedanke Friedrich Wilhelm Raiffeisens, Würzburg/Paderborn 1991.
Online
Soénius, Ulrich S., "Raiffeisen, Friedrich Wilhelm", in: Neue Deutsche Biographie 21 (2003), S. 115-116. [Online]
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Klein, Michael, Friedrich Wilhelm Raiffeisen, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/friedrich-wilhelm-raiffeisen/DE-2086/lido/57c95b1907bc14.36956492 (abgerufen am 12.12.2024)