1848 bis 1871 - Zwischen Revolution und Reichsgründung. Durchbruch zur Industrialisierung
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1. Überblick
In den beiden Jahrzehnten zwischen der Revolution von 1848 und der Reichsgründung von 1871 fand im preußischen Rheinland „der entscheidende Durchbruch auf dem Weg zur Industrialisierung“ (Hermann Kellenbenz) statt. Zu Recht stellte das Deutsche Historische Museum in einer Ausstellung im Jahre 2008 diese Epoche als Gründerzeit heraus.
Der ökonomische, technische und soziale Wandel beschleunigte sich in einem bis dahin ungekanntem Maße. Der Ausbau von Eisenbahn und elektrischer Telegraphie erhöhte entscheidend Mobilität und Kommunikationschancen der Menschen. Der aus der französischen Ära resultierende Strukturvorsprung in der Rechts-, Wirtschafts- und Sozialverfassung sicherte der Rheinprovinz im preußischen Gesamtstaat weiterhin eine Vorreiterrolle. In Wirtschaft, Kultur und Politik drückte eine unternehmende Generation der Zeit ihren Stempel auf, als Unternehmensgründer, Erfinder und Ingenieure, aber auch als Vereins- und Parteiinitiatoren, als Vorkämpfer sozialer Verbesserungen sowie als Wegbereiter der Gewerkschafts- und Genossenschaftsbewegungen.
In der Reaktionsära der 1850er Jahren, im Verfassungskonflikt in der ersten Hälfte der 1860er Jahre und im Vorfeld des Deutschen Krieges von 1866 kam es zu ernsten politischen Konflikten. Sie hatten mehr noch als im Vormärz eine gesamtpreußische Dimension, aber sie waren weiterhin regional geprägt und erhöhten die Spannungen zwischen preußischer Zentrale und rheinischer Provinz. Insbesondere in der Reaktionsära inszenierten die preußischen Hoch- und Ultrakonservativen die Revision der Errungenschaften der Revolutionszeit als Auseinandersetzung zwischen dem Osten und dem Westen der preußischen Monarchie.
2. Politische Geschichte: Von der Reaktion zur Reichseinigung (1850-1870/1871)
In politischer Hinsicht drückte nach dem Scheitern der Revolution von 1848 die Reaktion dem ersten Jahrzehnt ihren Stempel auf. Aber die Dynamik der politischen und sozialen Entwicklungen ließ sich nur für einen begrenzten Zeitraum eindämmen. Mit der „Neuen Ära“ setzte seit 1858 eine Phase begrenzter Liberalisierung ein. Der preußische Verfassungskonflikt, der sich 1862 mit Otto von Bismarcks (1815-1898) Berufung zum preußischen Ministerpräsidenten verschärfte, mündete 1866 in die Reichseinigungsära, die im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/1871 die Bildung des kleindeutschen Kaiserreichs zur Folge hatte.
2.1 Reaktionsära (1849-1858)
Nach dem Scheitern der Revolution von 1848 wollten die Hoch- oder Ultrakonservativen, die den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. (Regentschaft 1840-1858) auf ihrer Seite wussten, Staat und Gesellschaft gegen allen Liberalismus und all die Tendenzen, die vorgeblich zur Revolution geführt hatten, abschirmen. Ihr Ziel war die Einhegung einer durch Industrialisierung und freiheitliche Ideen in Bewegung geratenen Gesellschaft. 1851 charakterisierte Leopold von Gerlach (1790-1861), Generaladjutant des Königs, die Revolution von 1848 in Preußen als „Aktion der Rheinlande“ und die Konterrevolution als „Reaktion der alten Provinzen gegen sie“. Aus dieser Sicht war die Revision auch der letzten Errungenschaften aus der Revolutionszeit nicht zuletzt eine Auseinandersetzung zwischen dem Osten und dem Westen der preußischen Monarchie. Dies kam vor allem im Kampf um die Rheinische Städteordnung von 1856 zum Ausdruck.
Einen großen persönlichen Anteil an der Reaktionspolitik der 1850er Jahre hatte der preußische König Friedrich Wilhelm IV. durch die Berufung des pommerschen Landrates Hans Hugo von Kleist-Retzow 1851 zum Oberpräsidenten der Rheinprovinz und damit zum obersten Beamten am Rhein stellte er Weichen: Kleist-Retzow, von seinem Biograph als einer „der hartnäckigsten und doktrinärsten Reaktionäre“ bezeichnet, vertrat in der Rheinprovinz mit „unbeugsamem Charakter“ und puritanischer Frömmigkeit die Sache der preußischen Monarchie (Hermann von Petersdorff).
Gegen die Kölnische Zeitung, eine der größten deutschen Tageszeitungen, verlangte Friedrich Wilhelm IV. in den 1850er Jahren immer wieder ausdrücklich polizeiliche Verfolgungs- und Verbotsmaßnahmen, selbst gegen Recht und Gesetz. Als Frankreich 1852 zum Kaiserreich und der Neffe Napoleons I. (1769-1821), Charles-Louis-Napoléon Bonaparte (1808-1873) zu Kaiser Napoleon III. (Regierungszeit 1852-1870) wurde, hielt Friedrich Wilhelm IV. einen Abfall des westlichen Rheinlandes von Preußen für fast unvermeidbar. Er war von der „Rheinisch[en]. Treulosigkeit“ überzeugt, wie er einem engen Vertrauten schrieb.
In der Schlussphase der Revolution waren in Preußen noch bedeutende Reformgesetze erlassen worden, die in der gesamten Monarchie die Selbstverwaltung der Gemeinden, Kreise, Bezirke und Provinzen vergrößern und die ländliche Vorherrschaft der Rittergutsbesitzer des Ostens radikal einschränken sollten. Gegen beide Gesetze liefen die konservativen Eliten Preußens erfolgreich Sturm. 1853 setzten sie die förmliche Aufhebung der Reformgesetze durch. Damit gaben sie sich jedoch nicht zufrieden. Seit der französischen Ära bestand in der Rheinprovinz eine für städtische und ländliche Gemeinden einheitliche Kommunalverfassung. Angetrieben von den Hochkonservativen im preußischen Herrenhaus (bis 1854 Erste Kammer) und Abgeordnetenhaus (Zweite Kammer), setzte die preußische Staatsspitze 1856 die Rheinische Städteordnung durch und damit auch am Rhein die kommunalrechtliche Trennung von Stadt und Land.
Dafür entscheidend waren politische Gründe, weniger verwaltungs- oder kommunalrechtliche. In einer Kronratssitzung, die am 9. und 10.5.1856, fünf Tage vor dem Inkrafttreten der Rheinischen Städteordnung, auf Betreiben des Thronfolgers, Prinz Wilhelm von Preußen (1797-1888), des späteren Königs Wilhelm I. (Regentschaft als König von Preußen 1861-1888), einberufen wurde, betonte der rheinische Oberpräsident Kleist-Retzow gegenüber König Friedrich Wilhelm IV. „insbesondere die politische Wichtigkeit“ der Durchsetzung der „Trennung von Stadt und Land“ am Rhein.
Im preußischen Herrenhaus brachte Friedrich Julius Stahl (1802-1861), Führer der hochkonservativen Fraktion, diese politischen Absichten auf die Formel, dass am Rhein „das Band zu der Französischen Revolution“ zu zerschneiden sei.
Die Rheinische Städteordnung von 1856 traf im Rheinland auf erheblichen Widerstand. Von rheinischer Seite wurden noch einmal alle Argumente vorgebracht, die seit 1831 gegen eine Trennung von Stadt und Land ins Feld geführt worden waren. In den beiden Kammern des preußischen Landtags versuchte die kleine Gruppe der liberalen und katholischen Abgeordneten vergeblich, das 1850 erweiterte Maß der Gemeindefreiheit zu bewahren. Ludolf Camphausen betonte am 3.3.1852 in der Ersten Kammer, im Rheinland bestehe keine Notwendigkeit, „daß den Rittergutsbesitzern ein Vorrecht eingeräumt werde“. Der katholische Konservative Franz Egon Graf von Fürstenberg-Stammheim (1787-1859) stellte sich am 30.4.1856 an die Spitze einer Petition von vor allem katholischen Abgeordneten, die an den König gerichtet, die kommunalrechtliche Trennung von Stadt und Land kritisierte.
Die rheinischen Städte und Gemeinden wandten sich in einer Fülle von Petitionen und Eingaben gegen den Gesetzesentwurf. Im Januar 1853 trafen sich auf Initiative des Kölner Oberbürgermeisters die Verwaltungsspitzen der Städte Elberfeld und Barmen (beide heute Stadt Wuppertal), Düsseldorf, Köln, Krefeld, Aachen, Mülheim an der Ruhr und Eupen in Köln. Einmütig sprachen sie sich gegen die Pläne der Regierung aus, die „weder den Wünschen, noch den Bedürfnissen der Gemeinden“ entsprechen würden. Noch wenige Tage vor Inkrafttreten der Städteordnung, am 2.5.1856, richtete der Kölner Stadtrat einen Appell an den König, in dem es heißt: „Rechte, die in den andern Provinzen den kleinsten Städten gewahrt blieben, sollen hier bedeutenden Städten entzogen werden“. In einer Trierer Petition vom 29.3.1856 wurde ausdrücklich Bezug genommen auf die „Anträge und Ueberzeugungen, welche seit beinahe 25 Jahren von den Vertretern der Provinz ... ausgesprochen worden“ seien. Es sollten „die Eigenthümlichkeiten und die historischen Zustände der Provinzen berücksichtigt werden“.
Wenige Jahre später, 1859 und 1860, kam es erneut zu Petitionsbewegungen rheinischer Städte, die auf eine Abänderung der Städteordnung von 1856 drangen – im Namen aller rheinischen Gemeinden.
2.2 Neue Ära (1858-1862) und preußischer Verfassungskonflikt (1862-1866)
Als im Oktober 1857 Prinz Wilhelm von Preußen die Stellvertretung und 1858 die Regentschaft für den unheilbar erkrankten König Friedrich Wilhelm IV. übernahm, erreichte die Reaktionszeit ihr Ende. Das politische Klima änderte sich. Wilhelm berief ein neues Regierungskabinett und entließ im Rheinland den Oberpräsidenten Hans Hugo von Kleist-Retzow.
Die liberal-konservative Innenpolitik Wilhelms I. weckte auch im Rheinland Hoffnungen, die er jedoch Anfang der 1860er Jahre durch seine umfassenden Heeresreformpläne und die damit verbundene Steuererhöhung um 25 Prozent schnell enttäuschte. Die Erwartungen schlugen in politische Opposition um.
Die 1861 gegründete Fortschrittspartei wurde in den preußischen Landtagswahlen von 1862 die bestimmende liberal-demokratische Oppositionskraft in Preußen und in der Rheinprovinz. Von den insgesamt 62 rheinischen Abgeordneten schlossen sich 50 der Fortschrittspartei oder dem Linken Zentrum an. Aus der Ablehnung der Militärausgaben im preußischen Etat für 1862 durch die linksliberale Abgeordnetenmehrheit entwickelte sich nach der Berufung Bismarcks zum Ministerpräsidenten (September 1862) der preußische Verfassungskonflikt. Breite Kreise der Bevölkerung opponierten gegen die Regierungspolitik und brachten in Wahlen und politischen Demonstrationen ihre Missbilligung zum Ausdruck.
Für die zweite Kammer des preußischen Landtags (Haus der Abgeordneten) galt ein indirektes Drei-Klassen-Wahlrecht. Die gesamte erwachsene männliche Bevölkerung war zwar wahlberechtigt, aber das Gewicht einer Wahlstimme hing von der Steuerleistung des Einzelnen ab. Darüber hinaus war die Stimmabgabe öffentlich. Im Verfassungskonflikt stieg die Wahlbeteiligung, die in den 1850er Jahren höchstens acht bis 14 Prozent betragen hatte, auf 18 bis 22 Prozent an, in größeren Städten sogar auf über 25 Prozent, in Köln auf 34 (1862) und 28 Prozent (1863), in Düsseldorf auf 24 bis 25 Prozent. Selbst in der dritten Wahlklasse, die die Mehrheit der Männer umfasste, gingen 14 bis 18 Prozent zur Wahl, in Köln 25 bis 31 Prozent, in Düsseldorf 20 Prozent. Liberale und vor allem die demokratische Fortschrittspartei konnten im Verfassungskonflikt erhebliche Teile der erwachsenen Männer zur öffentlichen Stimmabgabe gegen die preußische Steuer- und Militärpolitik bewegen.
Großes Aufsehen erregte 1863 die Entscheidung der Kölner Stadtverordnetenversammlung, sich nicht an dem geplanten Dombaufest zu beteiligen - aus Protest gegen die Teilnahme des preußischen Königs. 1863 und 1865 wurden in öffentlichen Festen die rheinischen und westfälischen Abgeordneten geehrt, die gegen die Regierungspolitik opponiert hatten.
2.3 Jubiläumsfeiern 1865: Konfrontation und Kooperation
Die Feierlichkeiten zur 50-jährigen Zugehörigkeit der Rheinlande zu Preußen im Mai 1865 offenbarten noch einmal die Spannung von Konfrontation und Kooperation, die für das Verhältnis von Zentralstaat und Rheinprovinz bestimmend war.
Am Rhein waren zwei Grundsteinlegungen geplant; am 15. Mai in Aachen zur Königlich Rheinisch-Westphälischen polytechnischen Schule, dem ersten preußischen Polytechnikum, der heutigen Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH), und am 16. in Köln zum umstrittenen Provinzialdenkmal für Friedrich Wilhelm III. (Regentschaft 1797-1840). Das Denkmal auf dem Kölner Heumarkt wurde erst 1878 als Reiterdenkmal mit um den Sockel versammelten Großfiguren und Reliefs vollendet. Während die Feierlichkeiten in Aachen ohne regierungskritische Demonstrationen verliefen, ließ die Kölner Stadtverordnetenversammlung es zum Eklat kommen. Sie lehnte eine Finanzierung der Kölner Grundsteinlegung ab und weigerte sich, eine Delegation nach Aachen zu senden. Durch eine Privatinitiative machte der Kölner Oberbürgermeister Alexander Bachem schließlich die Durchführung der Festveranstaltung am 16. Mai möglich. Nach einem Dom- und Museumsbesuch fand ein Festessen im Kölner Gürzenich statt. Auch an der anschließenden Rheinfahrt nahmen neben König Wilhelm I. und seiner Familie einige Minister und viele Honoratioren der Rheinprovinz teil. Die Beteiligung der Kölner Bevölkerung war sehr zahlreich, was die konservative Regierung in den folgenden Wochen als Königstreue und Zustimmung der Rheinländer zur preußischen Innenpolitik deutete.
In Aachen sah Wilhelm I. über alle Kritik an seiner Politik hinweg und stellte die "Anerkennung der Rheinländer für die Tätigkeit der 3 Könige", die seit 1815 regiert hatten, "höher als alles", wie sein Sohn, der spätere König und Kaiser Friedrich III., notierte. Die preußischen Hochkonservativen sollen darüber "entsetzt" gewesen sein (Heinrich Otto Meisner, S. 389-390). In den 1850er Jahren hatte Wilhelm I., der als „Liebling der Armee“ galt und die Märzrevolution von 1848 am liebsten gewaltsam niedergeworfen hätte, im Koblenzer Schloss als Militärgouverneur der Westprovinzen gelebt und die Verhältnisse am Rhein kennen gelernt.
2.4 Neuanfänge politischer Parteien in den 1860er Jahren
In den 1860er Jahren begannen sich nach den erfolglosen Ansätzen im Vormärz und in der Revolution von 1848 aus einer diffusen politischen Öffentlichkeit heraus erneut politische Parteien zu bilden.
Mit der 1861 gegründeten Fortschrittspartei entstand erstmals wieder eine organisierte politische Opposition in Preußen. Der Liberalismus, der in den 1860er Jahren erneut große Bevölkerungskreise für Rechtsstaatlichkeit und nationale Einigung mobilisieren konnte, fiel jedoch durch die „von oben“ realisierte Reichseinigung auseinander. Während die Linksliberalen nach 1866 schnell Anhänger verloren, gelang es den Nationalliberalen auch in Rheinpreußen zunehmend für die Kultur- und Militärpolitik der Bismarck-Regierung die Unterstützung bürgerlicher Kreise zu organisieren.
Die Versuche des politischen Katholizismus von 1848, zu einem parteiähnlichen Zusammenschluss zu kommen, blieben in Rheinpreußen bis 1870 Episode. Katholische Parteipolitik war Fraktionspolitik, aber auch dies nur vorübergehend bis zum Anbruch der Neuen Ära. In Folge der Opposition gegen die Raumerschen Erlasse – nach dem preußischen Kultusminister Karl Otto von Raumer (1805-1859) benannte interne Verwaltungsanordnungen zur Beaufsichtigung katholischer Volksmissionen und der Priesterausbildung – schlossen sich im Abgeordnetenhaus Ende 1852 zuerst 63, später rund 50 Abgeordnete zur Katholischen Fraktion, seit 1859 Fraktion des Zentrums (Katholische Fraktion), zusammen. Von den gewählten 39 katholischen Rheinländern traten ihr 33 bei. Die Raumerschen Erlasse wurden zwar nicht förmlich, aber schließlich in der Sache zurückgezogen. Während des Verfassungskonfliktes ging die Zahl der katholischen Abgeordneten stark zurück und wurden die Fortschrittler auch durch Anhänger des politischen Katholizismus gewählt.
Im westfälischen Soest fanden 1864, 1865 und 1866 Beratungen zur Gründung einer katholischen Partei statt, die im Dezember 1870 als Zentrumspartei ins Leben trat. Wie der in Münster geborene Kreisgerichtsrat Alfred Hüffer (1818-1899) in einer Gedankenskizze 1865 formulierte, sahen sich die Teilnehmer der Konferenzen "in einen offenen Kampf gegen die sogenannten Preußischen Traditionen gewiesen". Aus ihrer Sicht beschritt König Wilhelm I., im Gegensatz zu seinem Vorgänger Friedrich Wilhelm IV., den Weg "eines absoluten, antideutschen und protestantischen Preußens".
Für die Erhaltung der weltlichen Macht des Papstes – eine Frage, die die italienische Einigung (1859-1861) offen gelassen hatte – konnten die rheinischen Katholiken Ende 1859/Anfang 1860 sowie 1868 in spektakulären Petitionsaktionen im Rheinland Zehntausende von Unterschriften gewinnen. Im Regierungsbezirk Koblenz sammelten die Katholiken beispielsweise 44.000, im Regierungsbezirk Trier 39.000 Unterschriften für die Unterstützung von Papst Pius IX. (Pontifikat 1846-1878).
Schließlich kam es auch zur Neubildung sozialdemokratischer Organisationen. 1863 rief Ferdinand Lassalle (1825-1864) in Leipzig den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) ins Leben. In seinem „Offnen Antwortschreiben“ an ein Zentralkomitee zur Berufung eines Arbeiterkongresses forderte er, „der Arbeiterstand“ müsse „sich als selbständige politische Partei constituiren und das allgemeine gleiche und directe Wahlrecht zu dem principiellen Losungswort ... dieser Partei machen“, um den Staat zwingen zu können, die „Selbstorganisation und Selbstassociation“ der Arbeiter in Produktivgenossenschaften zu unterstützen. Außer im Königreich Sachsen fand er vor allem im Rheinland Anklang. Fünf der elf auf dem Gründungskongress vertretenen Städte lagen in der Rheinprovinz: Köln und Düsseldorf sowie die bergischen Städte Elberfeld, Barmen und Solingen. 1864 lebte mehr als die Hälfte der Mitglieder des ADAV am Rhein (2.669 von insgesamt 4.605 Mitgliedern). Die 1869 von August Bebel und Wilhelm Liebknecht (1826-1900) in Eisenach gegründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschlands (SDAP) hatte ebenfalls Stützpunkte am Rhein, vor allem in Köln und Umgebung.
Seit 1865/1866 bildeten sich darüber hinaus erste gewerkschaftliche Organisationen. Es kam zu ersten Streiks. Im November 1867 und im September 1868 legten 1.100 und 1.300 Bergarbeiter mehrerer Essener Zechen ihre Arbeit nieder. Erfolgreich forderte 1868 ihr „Comité“ die „Rücknahme“ von Lohnkürzungen und die „genaue achtstündige Schicht mit Regulirung aller hiermit zusammenhängenden Unregelmäßigkeiten“. In Reaktion auf die sozialdemokratischen Organisationsanstrengungen entwickelte sich seit 1869/1870 auch eine katholische Arbeiterbewegung, die ihre Zentren vor allem in Aachen und Essen hatte.
Zum ersten Massenstreik in der Geschichte des Ruhrgebiets kam es im Juni/Juli 1872. Für eine sofortige Lohnerhöhung von 25 Prozent traten in Essen und Umgebung rund 20.000 Bergleute in den Arbeitskampf, der jedoch nach fünf Wochen ergebnislos abgebrochen werden musste. Aufgrund der Unterstützung durch junge katholische Geistliche wurde der Streik in der Öffentlichkeit als "Jesuitenstreik" und das Werk ultramontaner Machenschaften dargestellt. Auf einer Generalversammlung des Arbeitergeber-Vereins für die bergbaulichen Interessen im Oberbergamtsbezirk Dortmund forderte deshalb Friedrich Hammacher im Juli 1872: "Gegen die maulwurfartigen Mittel des Theiles der klerikalen Partei reicht nur ein langer Kulturkampf aus."
2.5 Reichseinigungsära (1866-1871)
Der Sieg Preußens im Deutschen Krieg von 1866, der die Rivalität der beiden Großmächte Preußen und Österreich um die Führungsstellung in Deutschland entschied, mündete in die Reichseinigungsära und hatte nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/1871 die Bildung des kleindeutschen Kaiserreichs zur Folge.
Dem innerdeutschen Krieg zwischen Preußen und Österreich sah die rheinische Bevölkerung, nicht nur die katholische Mehrheit, 1865/1866 mit weitgehend einhelliger Ablehnung entgegen. In Kollektivpetitionen wandten sich selbst 17 rheinisch-westfälische Handelskammern am 24.5.1866 gegen den Krieg. Und die Kölner Stadtverordneten berieten darüber, „einen rheinisch-westphälischen Städtetag nach Cöln zu berufen, um ... in der jetzigen kritischen Zeit ... mit vereinigten Kräften zu wirken“.
Auch in ihren regelmäßigen Monatsberichten an den König kamen die Behörden vor Ort nicht um die Wahrheit umhin. „Einem Kriege mit Österreich“, meldete die Aachener (Bezirks-)Regierung am 5.4.1866, „ist nach den übereinstimmenden Berichten sämmtlicher Landräthe die öffentliche Meinung abhold.“ Ähnlich berichtete die Kölner (Bezirks-)Regierung am 9.6.1866 nach Berlin: „Die Stimmung ist sehr gedrückt, indem für den gefürchteten Krieg kein Enthusiasmus sich regen will.“ Noch einmal war die Region in einer politischen Frage geeint, ähnlich wie in den Petitionskampagnen der 1840er Jahre und im Kampf gegen die Rheinische Städteordnung von 1856.
Nach dem Sieg bei Königgrätz im Krieg von 1866 über Österreich konnte sich Preußen durch umfangreiche Annexionen und durch die Bildung des Norddeutschen Bundes arrondieren. Hannover, Kurhessen, Nassau, die bisherige Reichsstadt Frankfurt am Main und die Herzogtümer Schleswig und Holstein wurden zu preußischen Provinzen. Die vom Wiener Kongress geschaffene Lücke zwischen den beiden Westprovinzen Rheinland und Westfalen einerseits und der Mehrheit der preußischen Provinzen andererseits wurde ausgefüllt. Preußen bildete nun ein geographisch zusammenhängendes Staatsgebiet.
Auch in wichtigen Teilen der rheinpreußischen Bevölkerung setzte ein Umschwung der politischen Stimmung ein. Das gemäßigt liberal oder gar konservativ gesinnte Bürgertum, insbesondere das Wirtschaftsbürgertum, versöhnte sich weitgehend mit der Bismarck-Regierung und begann die preußische Real- und Machtpolitik zu befürworten. Sie fanden ihre Vertretung in der Nationalliberalen Partei. Die Kölner (Bezirks-)Regierung war sichtlich erleichtert, als sie am 10.8.1866 an den König melden konnte: „In der öffentlichen Stimmung ist seit den letzten Ereignissen ein wesentlicher, sehr erfreulicher Umschwung eingetreten.“
Nach 1866 gewannen die offiziellen Geburtstagsfeierlichkeiten für den regierenden König (unter Friedrich Wilhelm IV. am 15. Oktober und unter Wilhelm I. am 22. März) auch in der Rheinprovinz an öffentlicher Bedeutung, wie die Historikerin Ute Schneider gezeigt hat.
Im Februar und im August 1867 fanden für den Reichstag des Norddeutschen Bundes zum ersten Mal seit dem Revolutionsjahr 1848/1849 wieder Wahlen auf der Grundlage eines allgemeinen, geheimen und direkten Männerwahlrechts statt. Die Wahlbeteiligung war auch im Rheinland relativ hoch, insbesondere in größeren Städten; in Köln lag sie im Februar bei 50 Prozent bis über 60 Prozent. Auch im Rheinland verloren die Fortschrittler und Linksliberalen Stimmen.
Während im Februar 1867 nur im Königreich Sachsen zwei Sozialdemokraten in den konstituierenden Reichstag des Norddeutschen Bundes gewählt wurden, so wurden im August 1867 auch im Wahlkreis Düsseldorf 1 (Lennep) und im Wahlkreis Düsseldorf 2 (Elberfeld) zum ersten Mal Sozialdemokraten in den Reichstag gewählt. Es handelte sich um den Rechtsanwalt Johann Baptist von Schweitzer (1833-1875), Präsident des ADAV, und um den Arzt Peter Adolf Reincke (1818-1886), der bereits im November 1867 aus politischen Gründen aus dem ADAV ausgeschlossen wurde und für den Friedrich Wilhelm Fritzsche (1825-1905), Vorsitzender des Allgemeinen Deutschen Tabakvereins, nachrückte. 1869 wurde in einer Nachwahl ferner der sozialdemokratische Zeitungsredakteur Wilhelm Hasenclever (1837-1889) im Wahlkreis Düsseldorf 6 (Duisburg) als Abgeordneter gewählt.
In den ersten Wahlen im März 1871 zum Reichstag siegte im Rheinland der politische Katholizismus. Die katholische Kölnische Volkszeitung meldete stolz am 21.3.1871: „Von den 35 Mandaten für den Reichstag gehören also 23 der katholischen Volkspartei: 5 von 6 im Regierungsbezirk Köln, 7 von 12 im Regierungsbezirk Düsseldorf, 3 von 6 im Regierungsbezirk Koblenz, 3 von 6 im Regierungsbezirk Trier, sodann sämmtliche 5 im Regierungsbezirk Aachen.“ Konfession wurde zu einem Moment politischer Parteibildung, die regionale Schwerpunkte aufwies. Aber die katholische Zentrumspartei, die kirchen- und sozialpolitische Forderungen vertrat, wurde nie zu einer Regionalpartei.
Auch wenn die Wahlerfolge der Sozialdemokratie noch sehr gering waren und in der Wahl zum ersten Deutschen Reichstag im März 1871 sogar nicht mehr erreicht werden konnten, begann sich bereits das für das Rheinland charakteristische Bild eines Drei-Parteien-Systems abzuzeichnen. Im späteren Kaiserreich bestimmten Zentrumspartei (mit katholischer Arbeiterwählerschaft), Sozialdemokratie mit einer (auch katholischen) Arbeiterwählerschaft und Nationalliberalismus, der vor allem den evangelischen Teil des Bürgertums und der Landbevölkerung, aber auch einen Teil der Arbeiterschaft hinter sich hatte, die politische Landkarte.
3. Wirtschaftsgeschichte: Durchbruch zur Industrialisierung
Der seit den 1830er Jahren angelaufene Prozess der Industrialisierung beschleunigte sich in den 1850er und 1860er Jahren. Es vollzog sich, was der amerikanische Wirtschaftshistoriker Walt Whitman Rostow den „take-off“, den dramatischen Durchbruch der industriellen Revolution, genannt hat. Kohle wurde der Energieträger der Industrialisierung, Eisen und Stahl die Werkstoffe der Zukunft. Eisenbahn und Werkzeugmaschine traten ihren Siegeszug an. Die Rheinprovinz - mit den verwaltungsmäßig zu Westfalen gehörenden Teilen des Ruhrgebietes - wurde „zur wirtschaftlichen Hauptregion“ und zur unternehmerisch dynamischsten Provinz der preußischen Monarchie (so der Historiker Wilhelm Treue). Bereits 1851/1852 wurden im Ruhrgebiet, im Aachener Revier und an der Saar mehr als die Hälfte (52 Prozent) der Steinkohle im Gebiet des Deutschen Zollvereins gefördert, 1870 sogar 58 Prozent, davon allein 32 Prozent beziehungsweise 44 Prozent an der Ruhr.
Der Historiker Jürgen Reulecke hat den Großraum Rheinland-Westfalen Ende der 1860er Jahre mit einem „vielfarbigen Fleckenteppich“ verglichen. Dieser bestand „aus alten Gewerbelandschaften, die sich entweder erfolgreich industrialisierten oder stagnierten, unterschiedlich strukturierten agrarischen Gebieten, neuen kraß von der Industrie geprägten Ballungszentren mit hoher Eigendynamik und einzelnen kleineren Nachzüglerräumen, wo sich in agrarischem Umfeld punktuell eine spezialisierte Industriebranche ansiedeln konnte“.
Zu den wirtschaftlich erfolgreichen Regionen zählten der Raum Krefeld-Gladbach mit dominierendem Textilgewerbe, der Raum Aachen ebenfalls mit Textilgewerbe und einer lokalen Montanindustrie, das Bergische Land und das Wuppertal mit Eisen- und Textilindustrie sowie das Saargebiet, aber vor allem das zwischen Rhein-Ruhr-Emscher gelegene Ruhrgebiet. Hinzu kamen die Städte Köln und Düsseldorf. In einzelnen Gewerbezentren – wie in Aachen – war bereits im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts der Übergang zur fabrikmäßigen Produktion vollzogen worden.
In Köln, 1850 mit 100.000 Einwohnern die drittgrößte Stadt Preußens, lag der unternehmerische und kapitalmäßige Schwerpunkt der Rheinprovinz. Kölner Banken, gefolgt von Düsseldorfer, aber auch von Aachener und Elberfelder Geldinstituten, trugen wesentlich zur Finanzierung der Industrialisierung bei. Ihre Kapitalbeteiligungen zielten auf die überregionale Kombination von Kohle und Eisen und ermöglichten die stürmische Entwicklung des Steinkohlenbergbaus an der Ruhr.
Aktiengesellschaften, zunächst zur Finanzierung der großen Eisenbahnlinien ins Leben gerufen, wurden zur wichtigsten Basis, um die gewaltigen Kapitalmittel für den Kohle- und Eisenbergbau wie auch für die Hüttenwerke aufbringen zu können. Nachdem 1843 die Gründung von Aktiengesellschaften im preußischen Handelsgesetz erleichtert worden war, wuchs ihre Zahl in den 1850er Jahren stark an. Auch ausländisches Kapital aus Belgien, England und Frankreich beteiligte sich.
Bestehende Betriebe expandierten, zahlreiche neue wurden gegründet. Neue Produktionstechnologien wurden eingesetzt. Die Erfindung des atmosphärischen Flugkolbenmotors leitete die Entwicklung des Gasmotorenbaus ein. Das erste erfolgreiche Modell des besonders für Kleingewerbe geeigneten Motors präsentierte der Autodidakt Nikolaus August Otto auf der Pariser Weltausstellung 1867. 1878 stellte er in Paris den ersten Viertaktmotor vor, den heute so genannten Ottomotor. Zusammen mit dem Kölner Ingenieur und Kaufmann Eugen Langen gründete er 1864 die erste Motorenfabrik der Welt, die Gasmotoren-Fabrik Deutz AG.
Das Essener Unternehmen von Alfred Krupp, der 1835 seine erste Dampfmaschine aufstellte und 67 Arbeiter beschäftigte, 1847 mit dem Gießen erster Gussstahlkanonenrohre begann, lieferte seit 1864 jährlich 10.000 Eisenbahnachsen und 20.000 Räder. Auf der Pariser Weltausstellung 1867 stellte er eine wuchtige Riesenkanone aus. 1870 produzierte er mit 12.000 Arbeitern Eisenbahnteile, Schiffsmaterial, Maschinenteile und Kanonen aus Gussstahl. Im Deutsch-Französischen Krieg 1870/1871 sicherten seine Artilleriewaffen den preußischen Truppen einen waffentechnischen Vorsprung.
In einer Bestandsaufnahme der „Grossindustrie Rheinlands und Westfalens“ stellte Nikolaus Hocker (1822-1900), einer der Initiatoren der Kölner Arbeiterdemonstration vom März 1848, 1867 die Bedeutung des Ruhrgebiets „für die moderne Industrie durch seine Kohlen- und Erzlager, wie seine Hüttenwerke und sonstigen gewerblichen Etablissements“ heraus. Schon damals grüßten auf einer Fahrt durch das Ruhrtal „zur Rechten wie zur Linken ... die hohen Schornsteine, die man so treffend die Obelisken der Neuzeit genannt hat“, und „das Gesause der Dampfmaschinen, das Brausen der Walzwerke“ (Nikolaus Hocker) war nicht mehr zu überhören.
Das Ruhrgebiet sei ein Netzwerk von Gewerken, fasste 1869 der irische Jurist und Volkswirtschaftler Thomas Edward Cliffe Leslie (1827-1882) seine Reiseeindrücke gegenüber den Lesern der Londoner Monatszeitung „The Fortnightly Review“ zusammen. Nicht nur die Städte, auch die großen Fabriken und Berg- und Hüttenwerke seien mit Eisenbahnlinien verbunden. Massenarmut sei verschwunden.
Im Ruhrgebiet erhöhte sich die Steinkohleförderung von 1850 bis 1870 um das Sechsfache, die Zahl der Beschäftigten um das Vierfache. Auch als die Hochkonjunktur der 1850er Jahre 1857 vorübergehend einer wirtschaftlichen Depression wich, stieg die Kohleförderung ununterbrochen weiter an. Bereits um 1870 lag im Ruhrgebiet das wichtigste deutsche Zentrum der Steinkohleförderung und der Roheisenproduktion mit Anteilen von 40 bis 45 Prozent. In absoluten Zahlen wurde die Steinkohlenproduktion von 1850 2,0 Millionen Tonnen an der Ruhr und 0,6 Millionen Tonnen an der Saar auf 1870 11,8 und 2,8 Millionen Tonnen gesteigert. Im Rheinland, in Westfalen und im Saargebiet wurden 1870 zusammen sogar 55 Prozent des Roheisens produziert. Auch wenn diese Zahlenangaben aus heutiger Sicht lächerlich gering erscheinen, waren sie schon den Zeitgenossen Beleg für die Unumkehrbarkeit des wirtschaftlichen Prozesses.
Allerdings gab es auch in der Rheinprovinz Gebiete, die, am Rande des wirtschaftlichen Aufschwungs gelegen, an diesem nur zögernd oder indirekt teilnahmen, so wie große Teile der südlichen Rheinprovinz. Durch Weiterbildungsmaßnahmen, Beschaffung von Krediten und Genossenschaften, nicht zuletzt initiiert vom dem in Hamm an der Sieg geborenen Friedrich Wilhelm Raiffeisen, versuchte sich die Landwirtschaft zu behaupten. 1864 entstand in Heddesdorf bei Neuwied die erste Raiffeisen-Darlehenskasse, 1866 in Bitburg die erste Molkereigenossenschaft.
3.1 Beschleunigung von Kommunikation und Verkehr
Die Dynamik dieser Epoche kam nirgends mehr zum Ausdruck als in der Beschleunigung und Verdichtung von Kommunikation und Verkehr. Die Transportgeschwindigkeit, die sich über Land seit den Tagen des Römischen Reiches kaum erhöht hatte, nahm nun durch den Ausbau der Eisenbahn entscheidend zu. Gleichzeitig wurde der rasche und vor allem preiswerte Massentransport von Rohstoffen und Gütern nicht wie bis dahin nur auf dem Rhein in Nord-Süd-Richtung möglich, sondern nun über Land auch in West-Ost-Richtung.
Durch den Ausbau der Bahnstrecken verkürzte sich die Fahrzeit von Köln in die preußische Hauptstadt Berlin 1847 auf zwei Tage, mit der Einführung von Nachtzügen auf etwas mehr als einen Tag. Zuvor war ein Brief von Köln nach Berlin drei Tage und acht Stunden unterwegs gewesen. In der Revolution von 1848 erfuhr man am Rhein nach rund 26 Stunden von den Berliner Barrikadenkämpfen vom 18./19. März und von den entscheidenden Zugeständnissen des Königs. 1851 legten Schnellzüge die Strecke in 16 Stunden zurück, seit Ende 1852 in etwas mehr als 14 Stunden. 1871 benötigte ein normaler Zug von Köln nach Berlin noch 20 Stunden (in der Londoner Times wurde die Verbindung als „the slowest of the slow“ bezeichnet), ein Schnellzug nur zwölf Stunden.
Die Verbindungen nach Paris und London hatten sich bereits 1850/1851 auf weniger als 20 Stunden beschleunigt. 1860 war es möglich, den Weg von Paris nach Berlin in 24 Stunden zurückzulegen, einschließlich einer einstündigen Rast in Köln.
Parallel zur Rheinverbindung intensivierten sich die Bahnverbindungen nach Süddeutschland. Nach der Eröffnung der linksrheinischen Bahn von Köln über Koblenz nach Mainz im Dezember 1859 wurde eine direkte Eisenbahnverbindung mit Schnell- und Nachtschnellzügen in die bayrische Hauptstadt München geschaffen. Seit Juni 1860 wurde es so möglich, von München nach Brüssel, Antwerpen und Amsterdam über Mainz und Köln in weniger als 24 Stunden zu fahren.
Als Symbole der neuen Zeit sind nicht zuletzt die am 18. August in Koblenz und am 3.10.1859 in Köln eröffneten Eisenbahnbrücken zu betrachten. Es waren nach der Römerzeit die ersten festen Rheinübergänge zwischen Basel und den Niederlanden. Während die Koblenzer Brücke eine Verbindung zum badischen und schweizerischen Eisenbahnnetz herstellte, schuf die Köln-Deutzer Brücke eine durchgehende Bahnverbindung von Aachen nach Königsberg. „Wenn je, so ist es heute wahr“, rief der Kölner Oberbürgermeister Hermann Joseph Stupp anlässlich der Eröffnung der Eisenbahnbrücke über den Rhein den zahlreich anwesenden Zuschauern zu, „daß Gott den schönsten Strom Europa's nicht zur Gränze gemacht, sondern mitten in das warme Herz von Deutschland hineingelegt hat.“ (Allgemeine Zeitung, Augsburg, Nr. 281, 8.10.1859.) Am 24.7.1870 folgte die von der Bergisch-Märkischen Eisenbahn-Gesellschaft erbaute Brücke in Düsseldorf-Hamm und 1874 die in Wesel von der Köln-Mindener Eisenbahn-Gesellschaft beauftragte Brücke.
Die Ausweitung der Absatzgebiete für rheinische Rohstoffe und Waren, die mit Bildung des Deutschen Zollvereins in den 1830er Jahren eingesetzt hatte, konnte nun völlig neue Dimensionen erreichen. Aber auch das Freizeitverhalten der Menschen und ihre Kommunikationschancen veränderten sich. Es eröffneten sich neue Möglichkeiten politischer Kommunikation. Als sich am 29.8.1860 im Bonner Rathaussaal die Bürgermeister der größeren rheinischen Städte versammelten, um sich über ihre Forderungen im Falle der „Emanirung einer neuen Städte-Ordnung“ zu verständigen, trafen außer dem Trierer Oberbürgermeister alle Städtevertreter morgens mit dem Zug ein und konnten noch am gleichen Abend wieder zurückreisen.
Seit Ende der 1840er Jahre ersetzte der elektrische den optischen Telegraphen und wurde zum wichtigsten Mittel rascher Information. Nach dem Aufbau einer ersten elektrischen Versuchslinie im Jahre 1846 begann die preußische Regierung im August 1848 mit der Einrichtung der zwei ersten Staatstelegraphenlinien von Berlin über Köln nach Aachen und von Berlin nach Frankfurt am Main. Das rasch entstandene internationale Telegraphennetzwerk bezeichnet man heute oftmals als das „Internet des 19. Jahrhunderts“, da es schon bald - in Preußen bereits im Oktober 1849 - auch für wirtschaftliche und private Zwecke genutzt werden konnte. Demgegenüber hatten nur staatliche und militärische Behörden die optische Telegraphienlinie benutzen dürfen, die in den 1830er Jahren von Koblenz über Köln nach Berlin errichtet worden war.
In den 1850er Jahren erreichten die Zeitungen trotz der rigiden preußischen Reaktionspolitik höhere Auflagenzahlen und eine größere Verbreitung als im Vormärz. 1857 stellte die Post in Preußen insgesamt rund 87.000 Exemplare politischer Zeitungen zu, davon im Rheinland rund 16.000. In diesen statistischen Aufstellungen wurden nur die mit der Post versandten Zeitungsexemplare erfasst. Der Teil der Zeitungsauflagen, der in den jeweiligen Druckorten verblieb, wurde nicht erfasst. So hatte die Kölnische Zeitung, die größte rheinische Zeitung, eine Gesamtauflage von 12.000 bis 14.000, von der der größte Teil in Köln selbst gelesen wurde. Nachrichten aus Berlin erfuhr das Publikum am Rhein nicht aus Berliner Zeitungen, sondern vermittelt durch rheinische Zeitungen.
4. Sozialgeschichte: Auf dem Weg zur Industriegesellschaft
Die rasche Industrialisierung begann auch im Rheinland die sozialen Strukturen und Lebensverhältnisse zu verändern, obwohl entscheidende Struktureinschnitte bereits in der französischen Ära zu Beginn des Jahrhunderts erfolgt waren. Ein weitgehend aus dem Raum stammendes rheinisch-westfälisches Wirtschaftsbürgertum hatte sich schon im Vormärz herauszubilden begonnen. Fabrikanten, Kaufleute, Bankiers und Direktoren wurden wesentliche Träger und Gestalter der fortschreitenden Industrialisierung. Sie kontrollierten Handel und Industrie, erwarben Grundbesitz und gewannen politischen Einfluss. Anders als in den anderen preußischen Provinzen spielte dagegen der Adel am Rhein ökonomisch wie politisch nur eine sehr untergeordnete Rolle.
Die Mittelschichten erlebten große Umschichtungen. Die selbständigen Handwerker waren Abstiegs-, aber auch Aufstiegsprozessen unterworfen. Die Bedeutung der Kleinhändler sowie der mittleren und kleinen Bauern nahm ab. Demgegenüber wuchs die Zahl der öffentlichen und privaten Angestellten, des mittleren und kleineren Beamtentums, aber auch der Ingenieure und Techniker.
Innerhalb der Unterschichten war das zunehmende Wachstum der Industriearbeiterschaft der folgenreichste Vorgang. Zwischen 1852 und 1871 strömte ein halbe Million Menschen allein in das neu entstehende Ruhrgebiet, für viele eine Alternative zur Auswanderung nach Übersee. Nach offiziellen Angaben verließen zwischen 1844 und 1871 mindestens 125.600 Auswanderer das Rheinland; 70 Prozent kam aus den stärker landwirtschaftlich geprägten Regierungsbezirken Koblenz und Trier.
Die Rheinländer des 19. Jahrhunderts waren jung, 35 Prozent war unter 14 Jahren, nur sechs bis sieben Prozent über 60 Jahre. Der größte Teil der Kinder arbeitete wie in den Jahrzehnten zuvor auf dem Lande, in der Familie oder in kleineren Gewerbebetrieben. In Fabriken hatte das preußische Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter vom 9.3.1839, das auf Druck des Rheinischen Provinziallandtags realisiert worden war und als erstes sozialpolitisches Gesetz Deutschlands gilt, regelmäßige Fabrikarbeit für Kinder unter neun Jahren verboten und für Jugendliche die Arbeitszeit auf zehn Stunden beschränkt. Eine zentrale Rolle hatten bildungspolitische Erwägungen gespielt. Zuverlässige Angaben über die Zahl der in Fabriken beschäftigten Kinder fehlen zwar, aber der Bedarf war groß und zumindest bis 1855 nahm die Kinderarbeit in Fabriken zu. In der Bürgermeisterei Gladbach (heute Stadt Mönchengladbach) waren 1853 nach einem regierungsamtlichen Bericht von den 703 Kindern im Alter von neun bis 14 Jahren 339 in den örtlichen Spinnereien und 364 in anderen Fabrikzweigen beschäftigt.
Im Mai 1853 verschärfte die Berliner Regierung die Kinderschutzbestimmungen. Die "Beschäftigung von Kindern in Fabriken" war nun nur nach vollendetem zwölften Lebensjahr gestattet. Mit der Kontrolle der Vorschriften wurden in den Regierungsbezirken Aachen, Arnsberg und Düsseldorf erstmals Fabrikinspektoren beauftragt. Daraufhin ging zwar die Kinderarbeit in den überwachten Fabriken zurück, im gesamten Regierungsbezirk Düsseldorf von 2.011 (1855) Kindern (unter 14 Jahren) auf 890 (1864) und 608 (1866). Aber letztlich wurde sie lediglich „aus den geschlossenen Fabriken in einzelne Werkstätten“ verlegt. Um sich jeder staatlichen Kontrolle zu entziehen, berichtete der Düsseldorfer Inspektor 1865 und 1866, hatten „viele Fabrikanten den Eltern die Arbeit für ihre Kinder in ihre Privatwohnungen übergeben“ (Wolfgang Ayass, S. 2. Zahlenangaben nach Otto von Mülmann, S. 599).
Mit dem tiefgreifenden Wandel der Arbeits- und Lebensverhältnisse ging auch eine Ausweitung der Beschäftigungs- und Verdienstmöglichkeiten für Frauen einher. Heftig umstritten war die zunehmende Fabrikarbeit von Frauen, in der die männlichen Arbeiter eine unlautere Konkurrenz sahen. 1861/1862 waren im Regierungsbezirk Düsseldorf 23,1 Prozent der Frauen über 14 Jahre erwerbstätig, entweder als Dienstboten oder Mägde, als Handarbeiterinnen oder als Schneiderinnen und Putzmacher-Gehilfinnen. In Fabriken arbeiteten 12.500 Frauen (3,5 Prozent), nur in Berlin lag mit 4,2 Prozent der Anteil der Fabrikarbeiterinnen in der preußischen Monarchie höher. (Jahrbuch für die amtliche Statistik des preussischen Staates, Jg. 2., Berlin 1867. S. 257 und 263.) Mit dem Siegeszug der Nähmaschine, die sich seit den 1860er Jahren von Amerika kommend in Europa durchsetzte, wuchs die Zahl der Näherinnen und Schneiderinnen, meist Heimarbeiterinnen. Durch die Neugründung und Wiederbelebung von Ordensgemeinschaften seit Mitte der 1840er Jahre entstanden nicht zuletzt im kirchlichen und sozialen Bereich neue Betätigungsmöglichkeiten für religiöse motivierte Frauen, die jenseits von Ehe und Familie eine Perspektive beruflicher Tätigkeit suchten.
Die Frage, in welchem Maße sich der Lebensstandard erhöhte und welche Bevölkerungskreise tatsächlich davon profitierten, war und ist umstritten. Bis weit in die 1880er Jahre blieb die Reallohnentwicklung erheblichen und oft kurzfristigen Schwankungen unterworfen. Die Rheinprovinz wies in jedem Fall das höchste Einkommensniveau und den höchsten Lebensstandard in Preußen auf. Nach Angaben des Historikers Wilhelm Treue lag das Pro-Kopf-Einkommen im Rheinland 1849 15 Prozent und 1867 18 Prozent über dem Durchschnittseinkommen in der preußischen Gesamtmonarchie, sogar 31 Prozent beziehungsweise 28 Prozent über dem Ostpreußens, der Provinz mit dem niedrigsten Pro-Kopf-Einkommen. Brandenburg mit Berlin erreichte 1849 den Durchschnitt und übertraf ihn 1867 auch nur um 6 Prozent. Das West-Ost-Gefälle verschärfte sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt (Siehe Index der Entwicklung des Pro-Kopf-Einkommens in den preußischen Provinzen 1816-1883 bei Wolfram Fischer, S. 121).
Das Rheinland war eine Gewerbe- und Städtelandschaft, in der die Bevölkerungsdichte relativ hoch war. Städtische Lebensweisen begannen die Gesamtgesellschaft zu durchdringen. Und die Landwirtschaft war fast vollständig auf die städtischen Märkte orientiert. Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts lebte in der preußischen Rheinprovinz rund ein Viertel der 1,9 Millionen Einwohner in Städten. Im Laufe des 19. Jahrhunderts stieg der städtische Bevölkerungsanteil, zunächst langsam und in der zweiten Jahrhunderthälfte immer schneller. 1849 wohnten rund 28 Prozent der 2,8 Millionen Einwohner, 1875 rund 40 Prozent der 3,8 Millionen und 1900 rund die Hälfte der 5,7 Millionen Einwohner der Rheinprovinz in einer Stadt. Den größten Verstädterungsgrad wies der Regierungsbezirk Düsseldorf auf, wo bereits 1871 mehr als die Hälfte der Menschen Stadtbewohner waren, gefolgt von den Regierungsbezirken Köln und Aachen. In den Regierungsbezirken Trier und Koblenz blieb der Grad der Verstädterung relativ konstant bei knapp unter beziehungsweise knapp über 20 Prozent. Nach Berlin (547.000) und Breslau (145.000) waren 1861 Köln (120.000) sowie Elberfeld und Barmen (zusammen 106.000), das heutige Wuppertal, die größten städtischen Ballungszentren in Preußen. Düsseldorf (1871: 69.000) sowie die rasch expandierenden Ruhrstädte Essen (1849: 8.700, 1871: 51.000), Duisburg (1849: 8.900, 1871: 30.500) und Mülheim (1849: 10.700, 1871: 14.000) folgten noch weit hinten nach.
5. Kultur-, Religions- und Bildungsgeschichte
Im Bildungsbereich hatte der preußische Staat 1825 auch in der Rheinprovinz die allgemeine Schulpflicht eingeführt, neben der Steuer- und Wehrpflicht eine der drei großen Grundpflichten des 19. Jahrhunderts. Reformen in der Schulverwaltung und in der Ausbildung der Lehrer zeigten schon bald Wirkung, im höheren Schulwesen, aber auch im Elementarschulwesen. Während 1816 in ganz Preußen 60 Prozent der schulpflichtigen Kinder regelmäßig die Schule besuchten, waren es im Rheinland lediglich 49 Prozent. Die Schulbesuchsquote konnte im Rheinland bis 1846 auf 86 Prozent und 1864 auf 90 Prozent gesteigert werden.
Bereits für die Zeitgenossen stand außer Frage, dass der preußische Staat am Rhein Wesentliches geleistet habe: „Die preussische Regierung fand 1814 ein sehr mangelhaftes Schulwesen vor. ... Es bestanden damals etwa 6 gelehrte Schulen, welche als Gymnasien gelten konnten“. 50 Jahre später fanden sich in der Rheinprovinz „57 öffentliche anerkannte höhere Unterrichtsanstalten: 23 Gymnasien, 12 selbständige und 1 mit einer Realschule verbundenes Progymnasium, 10 selbständige und 1 mit einem Gymnasium verbundene Realschule, 10 selbständige höhere Bürgerschulen." (Ludwig Wiese, S. 334-335.) Um 1870 hatte Preußen in der Alphabetisierungsentwicklung einen „Vorsprung von einer Generation gegenüber Frankreich“ (Etienne François).
Köln und Düsseldorf waren seit den 1840er Jahren neben Leipzig und Berlin wichtige Zentren des musikalischen Lebens. Die „Düsseldorfer Malerschule“, hervorgegangen aus der 1819 vom preußischen Staat wieder begründeten Kunstakademie, war unter der langjährigen Leitung Wilhelm von Schadows zu einem Begriff geworden. In den 1850er Jahren studierten viele Ausländer in Düsseldorf Malerei. Der Künstlerverein „Malkasten“ organisierte nach 1848 aufwendige Künstlerfeste, die in Form von historischen Aufzügen und der Darstellung lebender Bilder öffentliche Aufmerksamkeit erregten. Die 1818 gegründete Bonner Universität erhielt wachsende Bedeutung als rheinisch-westfälische Universität. In Aachen wurde im Oktober 1870 die polytechnische Schule eröffnet, die erste (seit 1879 auch offiziell) als Technische Hochschule deklarierte Anstalt dieser Art.
Der in den 1820er Jahren – ausgehend von Köln – erneuerte rheinische Karneval litt in den 1850er Jahren unter der politischen Reaktion, die im Karneval staatsgefährdende Elemente am Werk sah. Mehrfach mussten die Rosenmontagszüge ausfallen. Preußische Strenge und rheinische Ausgelassenheit vertrugen sich nicht. Seit den 1860er Jahren wurde der Karneval zu einer Touristenattraktion und einem wichtigen Wirtschaftsfaktor. 1866 kamen allein mit der Eisenbahn an den Karnevalstagen 17.000 Menschen nach Köln.
Ein rheinisches Geschichtsbewusstsein begann sich – zumindest institutionell - nur verspätet zu entwickeln. Die in Trier bereits 1802 entstandene Gesellschaft für nützliche Forschungen und der 1841 in Bonn gegründete Verein von Altertumsfreunden im Rheinland widmeten sich vor allem kunstgeschichtlichen und archäologischen Fragen. Das 1820 in Bonn gegründete "Museum vaterländischer Altertümer" (heute LVR-LandesMuseum), führte bis 1876 ein Schattendasein. Erst in den 1850er und 1860er Jahren entstanden in der Rheinprovinz landesgeschichtlich orientierte Vereine. Die regionale und konfessionelle Heterogenität der Rheinprovinz standen einer - vor allem gemeinsamen - landesgeschichtlichen Rückbesinnung im Wege. Demgegenüber war in Westfalen bereits 1824 eine Gesellschaft für westfälische Geschichte und Altertumskunde ins Leben getreten, als drittältester deutscher Geschichtsverein. 1854 wurde der Historische Verein für den Niederrhein gegründet. Von katholischen Geistlichen dominiert, war der mitgliederstarke Verein der Landes- wie der Kirchengeschichte verpflichtet, wie er dies auch von Anfang an in dem Namenszusatz ("insbesondere [für] die alte Erzdiözese Köln") zum Ausdruck brachte. Der 1863 ins Leben gerufene Bergische Geschichtsverein war dagegen im protestantischen Wuppertaler Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum verankert.
Von den großen rheinischen privaten Kunstsammlungen war lediglich die des Geistlichen Ferdinand Franz Wallraf am Rhein verblieben. 1861 erhielt sie durch die Stiftung des Kaufmanns Johann Heinrich Richartz ein eigenes Museum in Köln, das Wallraf-Richartz-Museum.
5.1 Katholische Erneuerung
In den 1820er Jahren hatten preußische Monarchie und römische Kurie das niederrheinische Kirchenwesen neu organisiert. Köln war Sitz eines Erzbischofs und Metropole der niederrheinischen Kirchenprovinz mit den Suffraganbistümern Trier, Münster und Paderborn geworden. Der Kölner Erzbischof Ferdinand August Graf Spiegel, und der Trierer Erzbischof Joseph von Hommer schufen bis zur Mitte der 1830er Jahre die grundlegenden institutionellen Strukturen und erreichten eine Konsolidierung der katholischen Kirche in Rheinpreußen
Ihre Amtsnachfolger, Klemens August Droste zu Vischering, und vor allem Johannes von Geissel in Köln sowie Wilhelm Arnoldi in Trier, befürworteten einen strengkirchlichen und nach Rom orientierten Katholizismus, eine Ultramontanisierung von Kirche und Religion. Zur Belebung der Religiosität und zur Intensivierung der Kirchenbindung griffen sie über die Seelsorgetätigkeit der einzelnen Pfarrgeistlichen hinaus auf außerordentliche Maßnahmen zurück, die erneute Organisierung von Wallfahrten und Volksmissionen sowie die erneute Ansiedlung von Ordensgemeinschaften. Die Jesuiten ließen sich 1852 in Aachen, 1853 in Köln, 1855 in Bonn und 1856 in Trier nieder, die Redemptoristen 1849 in Koblenz (1855 von Jesuiten abgelöst), 1851 in Trier und 1859 in Burtscheid (heute Stadt Aachen). Sie reorganisierten das kirchliche Vereinswesen und riefen neue religiös-kirchliche Bruderschaften ins Leben. Die rechtlichen Voraussetzungen für diese amtskirchliche Mobilisierung bot die preußische Verfassung von 1848/1850, die den Handlungsspielraum der katholischen Kirche erheblich ausgedehnt hatte.
Der Katholizismus begann zum Vereins- und Verbandskatholizismus zu werden. 1874 unternahm das preußische Innenministerium eine Bestandsaufnahme und ermittelte knapp 2.500 katholische Vereine und kirchliche Bruderschaften. Davon befanden sich in der Rheinprovinz 61 Prozent, in Westfalen zwölf Prozent und in Schlesien neun Prozent. Erfolgreichster Propagandist und Vorkämpfer der katholischen Gesellenvereine war Adolph Kolping, zunächst als Kaplan in Elberfeld und ab März 1849 als Domvikar in Köln. Ende der 1870er Jahre wurden in der Erzdiözese Köln 42 Vereine mit 3.700 Gesellenmitgliedern gezählt, in der Diözese Trier 19 Vereine mit über 1.000 Mitgliedern.
Seit Mitte der 1840er Jahre entstanden in der Rheinprovinz aber auch neue Ordensgenossenschaften, die insbesondere von Frauen gestiftet wurden und sich der Kranken-, Armen- und Waisenkinderpflege widmeten. Allein in der frühindustriellen Fabrik- und Badestadt Aachen bildeten sich drei Ordensgemeinschaften. Die beiden Genossenschaften der Armen-Schwestern und der Armen-Brüder vom Heiligen Franziskus widmeten sich der ambulanten Armen- und Krankenpflege; die erste wurde von Franziska Schervier 1845/1851 ins Leben gerufen, die zweite 1856/1857 von dem Aachener Elementarschullehrer Philipp Höver. Clara Feys Schwestern vom armen Kinde Jesu nahmen sich seit 1844 der Betreuung von verlassenen und verwaisten Kindern an und dehnten sich – wie die beiden anderen Aachener Genossenschaften – rasch im Rheinland aus. Die von Pauline von Mallinckrodt (1817-1881) in Paderborn 1849 gestiftete Kongregation der Schwestern von der Christlichen Liebe widmete sich der Blindenpflege. Sie waren gegenüber den kommunalen und staatlichen, aber auch den kirchlichen Behörden auf Selbständigkeit bedacht. Nach der Gründung eines Provinzialmutterhauses in Trier im Jahre 1849 übernahmen die Borromäerinnen in rascher Folge die Betreuung zahlreicher Krankenanstalten in West- und Norddeutschland.
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Herres, Jürgen, 1848 bis 1871 - Zwischen Revolution und Reichsgründung. Durchbruch zur Industrialisierung, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Epochen/1848-bis-1871---zwischen-revolution-und-reichsgruendung.-durchbruch-zur-industrialisierung/DE-2086/lido/57ab24eb4ee734.38439215 (abgerufen am 06.10.2024)